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Das Loyal Titel-Thema Fe­bru­ar 2010




Die Welt be­fin­det sich in einem grund­le­gen­den Wan­del. Dem Wes­ten steht eine stra­te­gi­sche Kon­fron­ta­ti­on mit auf­stei­gen­den Staa­ten bevor, die in­ter­na­tio­na­le Ord­nung zer­fällt. Wäh­rend die glo­ba­le Macht­ver­schie­bung an­de­ren Län­dern Wohl­stand bringt, setzt sie die Bun­des­re­pu­blik zu­neh­mend unter Druck, auf die neuen Ri­si­ken für Wohl­stand und Si­cher­heit zu re­agie­ren. Sie muss daher end­lich eine an lang­fris­ti­gen Zie­len ori­en­tier­te Si­cher­heits­po­li­tik ent­wi­ckeln.
„Der Krieg“, schrieb einst der flo­ren­ti­ni­sche Staats­den­ker Nic­colò Ma­chia­vel­li in sei­nem Werk „Der Fürst“, „ist weder eine Aus­nah­me noch eine nach­ge­ord­ne­te Tä­tig­keit, son­dern eine Haupt­sa­che der Macht­aus­übung“, weil der ei­ge­ne „Staat meist ge­fähr­det ist und Be­dro­hun­gen schnell näher kom­men kön­nen.“ Sie müss­ten sich, emp­fahl Ma­chia­vel­li den Herr­schen­den sei­ner Epo­che, dem Krieg daher auch in Frie­dens­zei­ten zu­wen­den. Mit Carl von Clau­se­witz ließe sich sei­nem Rat­schlag hin­zu­fü­gen: Weil die be­waff­ne­te Aus­ein­an­der­set­zung mit einem Geg­ner auch heute nur die „Ul­ti­ma Ratio“ po­li­ti­schen Han­delns sein kann, soll­ten die Macht­ha­ber ein­ge­hend Ri­si­ken und Her­aus­for­de­run­gen für die Si­cher­heit des Lan­des ana­ly­sie­ren und dar­auf­hin be­schrei­ben, wie sie po­ten­zi­el­len Ge­fah­ren recht­zei­tig be­geg­nen wol­len.
Die Kon­se­quenz die­ser grund­le­gen­den Er­kennt­nis­se für die Ge­gen­wart wäre für jeden Staat eine Si­cher­heits­stra­te­gie, an der es indes Deutsch­land seit 20 Jah­ren man­gelt. Die Po­li­ti­ker in der Bun­des­re­pu­blik schei­nen mit der Be­wäl­ti­gung un­mit­tel­ba­rer, ta­ges­ak­tu­el­ler Her­aus­for­de­run­gen aus­ge­las­tet, so­dass ihnen der Blick für die mit­tel­fris­tig re­le­van­ten Pro­ble­me und Ge­fah­ren für die Si­cher­heit des Lan­des fehlt. Dar­auf je­doch muss sich ein Staat ein­stel­len – und ins­be­son­de­re vier Fra­gen klä­ren: Wie ist seine stra­te­gi­sche Lage? Was könn­te die ei­ge­ne Si­cher­heit ge­fähr­den? Wel­che Be­dro­hungs­po­ten­zia­le kön­nen dar­aus er­wach­sen? Und: Wie ist ihnen wirk­sam zu ent­geg­nen? Der ra­san­te Wan­del der Welt macht die Be­ant­wor­tung die­ser Fra­gen drän­gen­der. Denn es bahnt sich eine neue mul­ti­po­la­re, nicht mehr al­lein west­lich kon­trol­lier­te Ord­nung an. Deutsch­land droht seine au­ßer­or­dent­lich vor­teil­haf­te Po­si­ti­on einer von Frie­den und frei­händ­le­ri­scher Wirt­schaft pro­fi­tie­ren­den Mit­tel­macht zu ver­lie­ren – und ist in Zug­zwang.
Die neue Welt­ord­nung wird ge­prägt vom wirt­schaft­li­chen Auf­stieg be­völ­ke­rungs­rei­cher Staa­ten wie China, In­di­en und Bra­si­li­en, aber auch – zu­min­dest vor­über­ge­hend – roh­stoff­rei­cher Län­der wie Russ­land. Wachs­tums­pro­gno­sen sehen die öko­no­mi­sche Leis­tungs­fä­hig­keit die­ser Vier in 30 bis 40 Jah­ren auf dem Ni­veau der G7-Staa­ten (USA, Ka­na­da, Deutsch­land, Frank­reich, Großbri­tan­ni­en, Ita­li­en und Japan). Be­son­ders China macht sei­nen wirt­schaft­li­chen und – über die De­vi­sen­re­ser­ven – fi­nan­zi­el­len Ein­fluss ri­go­ros gel­tend, um po­li­ti­sche Ziele durch­zu­set­zen. Die Re­gie­rung in Pe­king stellt längst Nor­men des in­ter­na­tio­na­len Sys­tems in­fra­ge, eines Sys­tems, das al­ler­dings über Jahr­zehn­te be­son­ders den In­ter­es­sen der In­dus­trie­län­der dien­te. UNO, G8, Welt­bank, Kriegs­völ­ker­recht – die ge­sam­te Welt­ord­nung ist zu­tiefst west­lich ge­prägt und si­chert be­son­ders West­eu­ro­pa und Nord­ame­ri­ka bis heute einen nie da­ge­we­se­nen Wohl­stand. „Es sind keine Grün­de er­kenn­bar“, sagt der Stra­te­gi­ex­per­te und Buch­au­tor Hol­ger H. Mey („Deut­sche Si­cher­heits­po­li­tik 2030“), „warum nicht ei­ni­ge Staa­ten oder Or­ga­ni­sa­tio­nen diese glo­ba­le Ord­nung er­schüt­tern soll­ten.“ Dies nicht zu­letzt, weil es le­gi­tim wäre. An­de­re Län­der wol­len, un­ab­hän­gig von ihrem po­li­ti­schen Sys­tem, am Wohl­stand teil­ha­ben – und bie­ten dem Wes­ten die Stirn. Deutsch­land hat sich auf einen har­ten Kampf um Macht, Ein­fluss und Res­sour­cen ein­zu­stel­len.
China de­mons­triert der Welt längst, wie es seine In­ter­es­sen künf­tig durch­zu­set­zen ge­denkt. Das kom­mu­nis­ti­sche Sys­tem wird von einer be­son­ders rück­sicht­lo­sen Form des Staats­ka­pi­ta­lis­mus öko­no­misch ge­stützt. Im Wes­ten be­schafft sich das Land ge­zielt Schlüs­sel­tech­no­lo­gi­en, etwa für die che­mi­sche In­dus­trie oder den Flug­zeug-, Schiff- oder Fahr­zeug­bau, und blo­ckiert, wie die Kli­ma­kon­fe­renz in Ko­pen­ha­gen zeig­te, in­ter­na­tio­na­le Ab­kom­men, die sein Wirt­schafts­wachs­tum ge­fähr­den könn­ten. Auf den Welt­en­er­gie­märk­ten tritt es als rück­sichts­lo­ser Käu­fer auf, der ge­ge­be­nen­falls auch mit Waf­fen be­zahlt und seine „Ent­wick­lungs­hil­fe“ in Afri­ka von ver­deckt ope­rie­ren­den Mi­li­tär­kräf­ten ab­si­chern lässt. Die Ein­hal­tung fun­da­men­ta­ler Men­schen­rech­te ist für das Re­gime nach­ran­gig, po­li­ti­scher Wi­der­stand gegen die Un­ter­drü­ckung An­ders­den­ken­der oder die Um­welt­ver­schmut­zung gan­zer Re­gio­nen wird bru­tal ver­folgt. Das ist zwar keine feine, bis­lang aber wir­kungs­vol­le Stra­te­gie.
Der große Kon­kur­rent des fern­öst­li­chen Reichs sind die USA. Doch auch das Mach­zen­trum der west­li­chen De­mo­kra­ti­en ver­folgt ri­go­ros ei­ge­ne stra­te­gi­sche In­ter­es­sen – nicht sel­ten eben­falls mit un­sau­be­ren Mit­teln. Wie die Chi­ne­sen su­chen sich die USA vor­zugs­wei­se Staa­ten und Or­gan­sa­tio­nen als Part­ner, die ihnen am nütz­lichs­ten sind. Eu­ro­pa ist da nur noch ein Part­ner von vie­len. Das 21. Jahr­hun­dert ist ein pa­zi­fi­sches Jahr­hun­dert, und die Ver­lie­rer die­ser Ent­wick­lung sind be­son­ders die afri­ka­ni­schen Län­der. Vor allem die oh­ne­hin von Zer­fall und Bür­ger­krieg ge­plag­ten Staa­ten der Sub­sa­ha­ra-Re­gi­on wer­den am Wirt­schafts­auf­schwung in der Drit­ten Welt nicht teil­ha­ben. Aus­län­di­sche Mäch­te plün­dern ihre Roh­stoff­vor­kom­men, wovon al­len­falls die kor­rup­ten Macht­ha­ber in Form zwei­fel­haf­ter in­ter­na­tio­na­ler An­er­ken­nung pro­fi­tie­ren. Zudem ver­si­ckert bei ihnen oft­mals ein ge­wich­ti­ger An­teil west­li­cher Ent­wick­lungs­hil­fe.
Der Wan­del der Welt geht ein­her mit der Glo­ba­li­sie­rung der Ge­fah­ren. Po­li­ti­sche In­sta­bi­li­tät, Mi­gra­ti­on und Kri­mi­na­li­tät grei­fen ra­send schnell von einem Kon­ti­nent auf den an­de­ren über. Der Krieg ist vie­ler­orts pri­va­ti­siert, öko­no­mi­siert und ideo­lo­gi­siert und ver­mischt sich mit dem or­ga­ni­sier­ten Ver­bre­chen. Po­li­ti­sche Au­to­ri­tä­ten und staat­li­che Struk­tu­ren ero­die­ren. Kon­flikt­re­gio­nen wer­den von Völ­ker­mor­den und Flücht­lings­strö­men heim­ge­sucht und ganze Ge­sell­schaf­ten kri­mi­na­li­siert. Staats­gren­zen spie­len keine Rolle mehr. Es dro­hen Ter­ror­an­schlä­ge mit töd­li­chen Mi­kro­or­ga­nis­men oder nu­kle­ar ver­seuch­ten Bom­ben. Die In­for­ma­ti­ons­in­fra­struk­tur wird in der ver­netz­ten und com­pu­ter­ba­sier­ten Welt zu einem Haupt­an­griffs­feld wirt­schaft­li­cher oder po­li­ti­scher Geg­ner. Cyber-An­grif­fe auf Da­ten­ban­ken und Zen­tral­rech­ner kön­nen bis zum dau­er­haf­ten Aus­fall der En­er­gie­ver­sor­gung füh­ren.
Damit nicht genug: Ne­ga­tiv-Fak­to­ren wie das un­gleich­mä­ßi­ge Be­völ­ke­rungs­wachs­tum auf der Erde, knap­pe und teure Res­sour­cen, der Kli­ma­wan­del, die glo­ba­le Ver­brei­tung von Mas­sen­ver­nich­tungs­waf­fen, der is­la­mis­ti­sche Ter­ro­ris­mus, die Aus­brei­tung des or­ga­ni­sier­ten Ver­bre­chens und die wach­sen­de An­zahl un­re­gier­ba­rer Ge­bie­te ge­fähr­den Deutsch­lands Si­cher­heit. Jede noch so weit ent­fern­te Krise ist spür­bar, sei es auf den Ak­ti­en­märk­ten, an den Tank­stel­len oder am Flug­ha­fen-Check-in. Des­halb kommt die Bun­des­re­pu­blik nicht umhin, sich in­ten­siv, zu­gleich aber dif­fe­ren­ziert und kennt­nis­reich mit den Kon­flik­ten der Welt zu be­fas­sen. Zur Kri­sen­re­ak­ti­on soll­te sie sich alle Op­tio­nen of­fen­hal­ten: Ent­wick­lungs­hil­fe und Di­plo­ma­tie eben­so wie Wirt­schafts­sank­tio­nen und Mi­li­tär­ein­sät­ze. Das Weißbuch des Ver­tei­di­gungs­mi­nis­te­ri­ums aus dem Jahr 2006 ent­hält hier­zu erste Be­schrei­bun­gen. Eine na­tio­na­le Stra­te­gie aber ist es nicht. Ohne stra­te­gi­schen Leit­fa­den wird Deutsch­land in der glo­ba­li­sier­ten Welt je­doch zum Spiel­ball ex­ter­ner Mäch­te.
Was be­deu­tet das für Streit­kräf­te? Ihre Ein­sät­ze spie­len sich künf­tig in fünf Ope­ra­ti­ons­räu­men ab: auf dem Land, auf See, in der Luft, im Welt­raum und im In­for­ma­ti­ons­raum. Sol­da­ten kämp­fen auf Di­stanz und in un­mit­tel­ba­ren Du­ell­si­tua­tio­nen – wozu sie auch Com­pu­ter­ex­per­ten be­nö­ti­gen wer­den, die die Krieg­füh­rung im Netz be­herr­schen. Tra­di­tio­nel­le Ein­tei­lun­gen bei Staa­ten­krie­gen in Kom­bat­tan­ten und Nicht­kom­bat­tan­ten, staat­li­che und nicht­staat­li­che Ak­teu­re, in­ne­rer Kon­flikt bzw. zwi­schen­staat­li­cher Krieg ver­wi­schen. Glo­ba­li­sie­rung, schran­ken­lo­se Mo­bi­li­tät und tech­no­lo­gi­sche Ent­wick­lun­gen ma­chen Gren­zen durch­läs­sig – auch und vor allem für Ge­walt. Der Sol­dat der Zu­kunft wird zer­stö­ren und wie­der auf­bau­en, Hoch­tech­no­lo­gie be­die­nen, Fremd­spra­chen be­herr­schen und kul­tu­rel­le Be­son­der­hei­ten des Sta­tio­nie­rungs­lan­des ken­nen müs­sen.
Doch sein Ein­satz bleibt die Aus­nah­me. Kluge Si­cher­heits­po­li­tik be­kämpft die Ur­sa­chen von Kli­ma­wan­del, Ter­ror, Armut, Hun­ger und Mi­gra­ti­on und ver­hin­dert, so­weit mög­lich, dass über­haupt erst Trup­pen ge­schickt wer­den müs­sen. Wenn sich, nur als ein Bei­spiel, Ent­wick­lungs- und In­dus­trie­län­der an­nä­her­ten, wenn die Drit­te Welt am Wohl­stand der Ers­ten Welt teil­hät­te, würde das den Mi­gra­ti­ons­druck auf die Län­der des Wes­tens sen­ken und zu­gleich den Ex­tre­mis­ten Ar­gu­men­te aus der Hand schla­gen. Des­we­gen wer­den Sol­da­ten nicht ver­zicht­bar. Aber sie könn­ten ge­schont wer­den. Und diese Weit­sicht un­ter­schei­det eine zeit­ge­mä­ße Stra­te­gie von der des Nic­colò Ma­chia­vel­li.

Text: Marco Se­li­ger und Lo­renz Hemi­cker