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Das Loyal Titel-Thema März 2010




Es reicht nicht, die Bundeswehr mit großen Parlamentsmehrheiten in riskante Einsätze zu schicken. Die Soldaten sind auch auf die Akzeptanz und die Zustimmung der Gesellschaft angewiesen, um erfolgreich sein zu können. Dass es daran hapert, liegt nicht nur am Desinteresse der Deutschen an der Sicherheitspolitik ihres Landes. Es liegt auch an der Politik. Sie behindert eine offene und kontroverse Auseinandersetzung über Themen, die uns alle betreffen. Das muss sich dringend ändern.
Während seines Einsatzes in Kunduz gehörte dieser Soldat stets zu den ers­ten, die an einen Anschlagsort kamen. Er sah die zerfetzten Leiber von Kameraden, aber auch die von Kindern nach einem Selbstmordanschlag. Einschneidende Erlebnisse, bleibende Erinnerungen. „Vielleicht habe ich ja mal das Glück, dass ich offen berichten kann, was ich im Einsatz erlebt habe“, sagte er nach seiner Rückkehr aus Kunduz. Ich stutzte. „Wieso Glück?“, erkundigte ich mich. Ob sich die Heimat nicht für seine Erlebnisse interessierte? „Nein“, lautete die ernüchternde Antwort. „Unser Einsatz stößt kaum auf Interesse oder auf Verständnis.“ In besonderer Erinnerung ist dem Soldaten die hochmütige Bemerkung eines Bürgermeisters geblieben: „Das tun Sie für einen Sold der Stufe A 10?“
Von „freundlichem Desinteresse“ der Gesellschaft gegenüber der Bundeswehr hat Bundespräsident Horst Köhler einst gesprochen. Mein Eindruck ist, dass sich das „freundliche Desinteresse“ zu einer Haltung der kalten Schulter entwickelt hat. Seit Jahren gibt es immer wieder kurzatmige Debatten um neue Einsätze (Kongo, Libanon), regelrechte „Blitzdebatten“ nach Selbstmordanschlägen in Afghanistan oder nach skandalträchtigen Ereignissen wie der Veröffentlichung von Fotos von Soldaten, die mit Totenschädeln posieren. Eine breite sicherheitspolitische Diskussion aber, die Bundesregierung, Parlament und Gesellschaft erfasst, kam und kommt nicht zustande. Ob der parlamentarische Untersuchungsausschuss, der infolge des Luftangriffs von Kunduz eingesetzt wurde, oder der Streit um die Äußerungen der Ratsvorsitzenden der Evangelischen Kirche in Deutschland, Bischöfin Margot Käßmann, zur Lage in Afghanistan eine Wende bringen, ist längst nicht ausgemacht.
Das gesellschaftliche Desinteresse an den Themen der Außen- und Sicherheitspolitik macht nicht nur den Bundeswehrangehörigen und Sicherheitspolitikern in unserem Land zu schaffen. Noch breiteres Desinteresse erleben in der Regel Polizisten im Auslandseinsatz. Nicht selten bekommen sie in ihren Heimatdienststellen zu hören, sie seien auf einem gut bezahlten Abenteuertrip gewesen, während die Kollegen ihre Arbeit hätten mitmachen müssen. Und was Entwicklungshelfer in Afghanistan trotz aller Risiken und lagebedingter Einschränkungen immer noch schaffen, wird in der Regel gar nicht erst zur Kenntnis genommen. Ich habe dieses Desinteresse während meiner 15 Jahre als Bundestagsabgeordneter auch in friedenspolitisch interessierten Kreisen immer wieder erfahren: in den 90er Jahren vor dem 2. Golfkrieg, gegenüber dem Krieg in Bosnien und vor Beginn des Kosovo-Luftkriegs, und dies ständig beim Thema zivile Krisenprävention. Selbst für die Gegner von Auslandseinsätzen und insbesondere des Einsatzes in Afghanistan bleibt das weitverbreitete Desinteresse im Volk nicht folgenlos. Obwohl ihre „Raus“-Forderungen so populär sind wie nie, bleibt ihre gesellschaftliche Mobilisierungsfähigkeit doch ausgesprochen schwach. Kein Wunder, wenn sich niemand wirklich für die Inhalte interessiert, die ihrem Engagement zugrunde liegen.
Das verbreitete Desinteresse und das Fehlen einer breiten gesellschaftlichen Debatte sind politisch gefährlich und unverantwortlich. Für das Selbstverständnis der Staatsbürger in Uniform, wie unsere Soldaten zu Recht genannt werden, reicht es nicht, wenn sie durch große Parlamentsmehrheiten in riskante Einsätze entsandt werden. Sie und ihre Angehörigen sind auch auf die Akzeptanz und Zustimmung der Bevölkerung angewiesen. Eine Sicherheitspolitik, die nicht in der Gesellschaft verankert ist und nicht auf einem gesellschaftlichen Grundkonsens basiert, ist in ihrer inter­nationalen Handlungsfähigkeit massiv eingeschränkt. Außen- und Sicherheitspolitik, die Friedenspolitik sein will, ist heute mehr denn je auf Legitimität angewiesen: bei der eigenen Bevölkerung, bei den in den Einsatz geschickten Soldaten und Polizisten, bei der Bevölkerung der Einsatzgebiete. Die Ironie: Während in Afghanistan die Köpfe und Herzen der Menschen gewonnen werden sollen, gehen sie bei uns immer mehr verloren.
Auch wenn die Bedeutung von Außen- und Sicherheitspolitik in der globalisierten Welt zugenommen hat, hat sie doch in der Wahrnehmung der meisten Menschen in Deutschland an Gewicht verloren. Der Blick richtet sich mehr nach innen, Sicherheitsrisiken werden primär sozial definiert. Risiken und Bedrohungen für deutsche und europäische Sicherheit sind diffus, abstrakt und unübersichtlich. Die persönliche Betroffenheit ist wenig greifbar. Die Bundeswehr ist aus weiten Teilen des Landes „verschwunden“, die Erfahrungswelten driften extrem auseinander – hier oft individualisierte Spaßgesellschaft, im Einsatzgebiet Extremarmut, ja täglicher Terrorkrieg. Die Terroranschläge von Madrid, Bali, London und so weiter werden in einer Mischung aus Verdrängung und sinnvoller Gelassenheit weniger als Teil einer umfassenden Bedrohung, sondern eher als Katastrophen wahrgenommen, die immer wieder passieren. Um das knappe Gut Aufmerksamkeit der Medien und der Bürger konkurrieren immer mehr „Verkäufer“ in steigendem Tempo. Die Sogwirkungen von Internet und Unterhaltungsindustrie gehen mit einer Individualisierung und Privatisierung von Interessen einher, politische Entwicklungen werden immer weniger wahrgenommen und nachvollzogen. Der Trend zu Dra­matisierung, Personalisierung und schnellen Themenwechseln auch in der politischen Berichterstattung fördern Hektik und Oberflächlichkeit im politischen Betrieb. Exemplarisch dafür steht, wie die „Bild“-Zeitung am 25. Oktober 2006 mit der Veröffentlichung der Totenschädel-Fotos von Bundeswehrsoldaten in Afghanistan die Vorlage des Weißbuchs des Verteidigungsministeriums am selben Tag aus der medialen Wahrnehmung schoss.
Verantwortlich sind auch die Politiker selbst für diese schwierige Entwicklung. In Bundestagswahlkämpfen wurden heikle Fragen der Außen- und Sicherheitspolitik lieber gemieden – so 1998 angesichts der zugespitzten Kosovo-Krise, so 2009 angesichts der gefährlichen Lage in Afghanistan. Verteidigungsminister wurden meist nicht nach Fachkompetenz ausgewählt. Unter den vier zuletzt amtierenden Ministern müssen zwei als Kommunikationsversager bezeichnet werden. Vor diesem Hintergrund war es wenig verwunderlich, dass sich bisher noch jeder Verteidigungsminister seit dem Fall der Mauer notorisch weigerte, Chancen für eine breite Debatte zu schaffen und zu nutzen: Im Jahr 2000 wischte Rudolf Scharping den Bericht der Weizsäcker-Kommission beiseite; Peter Struck erließ 2003 die geheim erarbeiteten Verteidigungspolitischen Richtlinien; Franz-Josef Jung tat dasselbe mit dem Weißbuch 2006. Eine umfassende Bilanzierung des Kosovo-, Kongo- und Afghanistan-Einsatzes, ja der Auslandseinsätze insgesamt, verweigerte bisher jede Bundesregierung. Ihre verdruckste und beschönigende Kommunikation vor allem zum eskalierenden Afghanistan-Einsatz trägt maßgeblich zu seiner Akzeptanzkrise in unserem Land bei.
In Deutschland, wo die Parlamentsbeteiligung bei Auslandseinsätzen so ausgeprägt ist wie in kaum einem anderen Land, ist das alles auch ein Versagen des Bundestags. Ich kann mich an etliche heiße Bundestagsdebatten zu Auslandseinsätzen erinnern. Insgesamt blieben wir aber zu oft im Klein-Klein stecken, gefangen in einer Sprache, die schon die Fraktionskollegen kaum noch erreichte, geschweige denn die breitere Öffentlichkeit. Diese Defizite sind Ausdruck auch eines Mangels an Strategiefähigkeit und Überzeugungskraft in der „politischen Klasse“. Hinzu kommt eine sicherheitspolitische Öffentlichkeits- und Bildungsarbeit, in der Jugendoffiziere der Bundeswehr die Hauptlast der Basisarbeit tragen, in der sich aber das Auswärtige Amt trotz seiner Federführung bei Auslandseinsätzen fein zurückhält.
Es ist nicht so, dass es in den vergangenen 20 Jahren keine Debatten über unsere Sicherheitspolitik gegeben hätte. Aber sie blieben meist in Teilöffentlichkeiten stecken, die weitgehend beziehungslos nebeneinander ihre Diskurse pflegen. Die Kirchen entwickelten in sorgfältigen Diskussionsprozessen ihre Friedensdenkschriften (2000 und 2007) – sie blieben praktisch ohne Echo. Rege ist die Veranstaltungstätigkeit des Bundeswehrverbandes, der Gesellschaft für Wehr- und Sicherheitspolitik und des Reservistenverbandes. Die Bündnisgrünen stritten auf vielen Parteitagen, darunter zwei Sonderparteitagen, mit vollem Risiko und streckenweise stellvertretend für die Gesellschaft über Auslandseinsätze und ließen durch eine friedens- und sicherheitspolitische Kommission eine selbstkritische Standortbestimmung erarbeiten. Das alles ist gut und wichtig, doch bis auf wenige Ausnahmen bleiben die Beteiligten unter sich. Hinzu kommt die Gleichzeitigkeit höchst unterschiedlicher Ansichten von Militär in unserer Gesellschaft – vom traditionellen Kriegerbild bis zum „bewaffneten Entwicklungshelfer“-Image und der komplexen Realität von Stabilisierung im UN-Auftrag dazwischen.
Ein Zurück zur Überhöhung des Militärischen wie in früheren Zeiten wird und soll es nicht geben. Um ein breites Interesse der Menschen an sicherheitspolitischen Themen zu entwickeln, brauchen wir in unserem Land Leute mit Standpunkten, Argumenten und Meinungen. Eine Debatte lebt von Streit, nicht von Konformitätsdruck und Konsensgesülze. Breite gesellschaftliche Debatten lassen sich durch die Politik nicht „machen“, allenfalls begünstigen. Hierfür ist eine Querkommunikation zwischen den sicherheits- und friedenspolitisch interessierten Kreisen, die Überwindung von ideologischen Wagenburgen unerlässlich. Die Klärung der zivil-militärischen Beziehungen ist dabei von zentraler Bedeutung. Als notorischer Wanderer zwischen den Welten habe ich erfahren, welche Potenziale an produktiver Zusammenarbeit und gegenseitiger Ergänzung zwischen Streitkräften und zivilen Akteuren ungenutzt vorhanden sind.
Jahr für Jahr arbeiten im Auftrag unseres Landes Tausende Soldaten und Zivilexperten sowie Hunderte Polizisten in den Krisenregionen dieser Welt. Hinzu kommen zahllose Projekte engagierter Bürger. Sie alle verdienen und brauchen Aufmerksamkeit, Anerkennung und Unterstützung – unabhängig von der politischen Bewertung eines einzelnen Einsatzes, aber auch ehrlich im Umgang mit dem existenziellen Einsatz von Soldaten. Ihnen gegenüber stehen alle staatlichen und gesellschaftlichen Ebenen in der Verantwortung. Auch hier ist eine „Kultur des Hinsehens“ gefordert, ist bürgerschaftliches Engagement gefragt.
Abertausende Frauen und Männer in Uniform und in Zivil verfügen über reiche Erfahrungen und oft auch Herzblut in friedens- und sicherheitspolitischer Praxis. Dieses Potenzial muss ganz anders zur Geltung kommen – bei der Politikberatung, in der öffentlichen Diskussion und bei der sicherheitspolitischen Bildungsarbeit an der Basis. Kurzsichtig ist, dass etliche Ministerien ihren Praktikern Maulkörbe verpassen. Dabei können gerade einsatzerfahrene Soldaten, Polizisten und Entwicklungsexperten die Möglichkeiten, Gefahren und Grenzen multinationaler Krisenbewältigung und Friedensförderung – das Faszinierende trotz aller Probleme so konkret – persönlich und glaubwürdig vermitteln wie niemand sonst. Wo Sicherheitspolitik heute Normalbürger strukturell überfordert, sind die persönlichen Zugänge umso wichtiger. Diese gilt es, systematisch zu fördern. Ich habe mit solchen Friedenspraktikern durchweg beste Erfahrungen gemacht. Sie sind oft motivierende Hoffnungsträger in einem Umfeld, in dem man verzweifeln könnte.
Bundesregierung und Bundestag stehen in der Bringschuld, sicherheitspolitisches Inte-resse und die Debatte über Themen, die für unser Land von existenzieller Bedeutung sind, nach Kräften zu fördern und nicht zu behindern. Um zu einem sicherheitspolitischen Konsens zu kommen, ist die Schlüsselfrage zu klären, wie Deutschland wirksam zu internationaler Sicherheit und Friedenssicherung beitragen will, welchen Stellenwert Streitkräfte dabei haben sollen – und welche Kosten und Opfer Politik und Gesellschaft zu tragen bereit sind. Unabhängige Bilanzierungen deutscher Beteiligungen an internationaler Krisenbewältigung und die Entwicklung einer deutschen Sicherheitsstrategie in einem öffentlichen Prozess sind überfällig. Ein jährlicher, allgemein lesbarer Bericht der Bundesregierung zur deutschen Sicherheitspolitik könnte sie in ganz anderer Weise transparent und diskutierbar machen. In den zurückliegenden Jahren verlorenes Vertrauen der Bevölkerung in die Politik lässt sich nur mit Klarheit, Ehrlichkeit und vollem Einsatz zurückgewinnen. Das ist eine Gemeinschaftsaufgabe für Bundeskanzlerin, Außen-, Verteidigungsminister und Parlamentarier. Sie müssen sie anpacken. Jetzt.

Text: Winfried Nachtwei