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loyal-Titelthema der Ausgabe September 2015




Wie das Europa des 17. Jahrhunderts ist auch der Nahe Osten durch Religionsfragen zerrissen. Doch in dem seit Jahren andauernden Konflikt geht es um mehr. Es geht um Vorherrschaft, Macht und Einfluss. In das Kriegschaos ist vor einem Jahr ein neuer Aggressor gestoßen. Der „Islamische Staat“ hat den Konflikt zusätzlich aufgeheizt.

Das große Gemetzel

von Wolfgang Günter Lerch

Die Katastrophe hatte sich lange angekündigt, doch niemand konnte sie aufhalten. Monatelang hatten irakische Spezialkräfte die Wüstenstadt Ramadi verteidigt, hatten Scharfschützen, Selbstmordattentätern und Bombenanschlägen getrotzt. Doch Mitte Mai waren sie nur noch ein paar Hundert, erschöpft, erledigt. Sie zogen sich zurück – und der „Islamische Staat“ in die am Euphrat gelegene Hauptstadt der Provinz al-Anbar ein. Anbar ist die größte Provinz des Irak. In Ramadi lebten früher fast eine halbe Million Menschen. Heute ist die Stadt ein von Straßen durchzogenes Trümmerfeld, über dem die schwarze Flagge der mächtigsten und gefährlichsten Terrororganisation unserer Tage weht. Die Versuche der irakischen Regierung, Ramadi zurückzuerobern, sind bisher blutig gescheitert.

Die Schlacht um Ramadi, zuletzt nun die Luftangriffe der Türkei auf Stellungen des IS sowie der kurdischen PKK, sind die jüngsten Beispiele für das seit Jahren andauernde blutige Ringen im Nahen Osten um Vorherrschaft, Macht und Einfluss. Vergleiche mit dem Dreißigjährigen Krieg der europäischen Geschichte werden angestellt – und dies nicht zu Unrecht. Denn so wie im 17. Jahrhundert politische Machtansprüche vorgeblich im Namen der jeweiligen christlichen Konfession und vornehmlich auf deutschem Boden ausgefochten wurden, so ringen heute in Syrien und im Irak, dem Kerngebiet des Islam, die miteinander rivalisierenden Staaten der Region, vor allem Saudi-Arabien und Iran, schon seit vielen Jahren entlang den konfessionellen Linien um Dominanz. Dabei haben sunnitische und schiitische Staaten und Gruppierungen – wie seinerzeit die katholischen und protestantischen Mächte – ihre Helfer, sei es in Gestalt von regulären Armeen, sei es in Form zahlreicher Milizen und Terrororganisationen, die freilich teilweise auch eigene Interessen verfolgen; wobei alle vorgeben, einen Dschihad zu führen, einen „gerechten“ Krieg gegen „Ungläubige“. Selbst der säkular gesinnte syrische Machthaber Baschar al-Assad benutzt gelegentlich religiöse Argumente, um sein militärisches Vorgehen zu rechtfertigen. Und längst sind auch der Westen und Russland involviert. Wie lange dieser „Dreißigjährige Krieg“ noch dauern wird, vermag niemand zu sagen. Gegenwärtig jedenfalls ist ein Ende nicht abzusehen.