loyal-Titelthema des Monats Juni 2016
An der Frontlinie zum IS
von Marco Seliger
Die Trümmerwüste von Shingal ist ein Minenfeld. „Nicht auf Drähte treten, es könnte sein, dass noch eine Bombe dranhängt“, sagt Fahim Qasim Khalaf und geht voran. Vorsichtig setzt er seine Schritte durch den Schutt aus Ziegelsteinen, Scherben, Wellblech und gebogenen Metallstreben, der den Boden des früheren Basars bedeckt. Die Wände sind rußgeschwärzt, von den Decken hängen Betonteile herab. Unter den Stiefeln knirscht feiner Sand, Staub steigt empor und schwebt, von der Sonne angestrahlt, minutenlang in der Luft. In dieser Kriegsruine werden die Händler nie wieder ihre Waren feilbieten können. Das ist es aber nicht, was Fahim Qasim Khalaf jetzt zeigen will. Es ist vielmehr die brutale Effizienz und mörderische Skrupellosigkeit, mit der die IS-Schergen in dieser Stadt gewütet haben. „Sehen Sie das Loch“, fragt er und zeigt auf die Wand hinter ihm. „Dort beginnt einer ihrer Tunnel. Wir trauen uns da kaum rein, weil sie überall Sprengsätze versteckt haben.“
Knapp fünf Monate ist es her, dass in Shingal, der jesidischen Stadt am Fuß des Sindschar-Gebirges, eine Schlacht tobte. Straße um Straße, Haus um Haus eroberten kurdische und jesidische Peschmerga vom sogenannten Islamischen Staat zurück, unterstützt von der US-amerikanischen Luftwaffe. Vom Stadtrand feuerten die Angreifer Granaten und Raketen in den Ort, die IS-Schergen schossen aus dem Ort zurück. Mitunter standen sich Befreier und Dschihadisten in den umkämpften Straßen nur wenige Meter voneinander entfernt gegenüber. Der IS hat in den anderthalb Jahren seiner Terrorherrschaft Tunnel in den Untergrund Shingals gegraben. So konnten seine Kämpfer unbemerkt verschwinden und überraschend wieder auftauchen. Viele Peschmerga starben durch Schüsse aus dem Hinterhalt. Diese wirksame Guerillataktik ist aus dem Vietnamkrieg oder aus Palästina bekannt. Kurden und Jesiden benötigten zwei Tage, um die Terroristen zu vertreiben. Jetzt besteht Shingal nur noch aus Ruinen.
Das Loch in der Wand des Basars ist mannshoch. Fahim Qasim Khalaf tritt in den Tunnel, er hat sein deutsches G36-Gewehr umgehängt. Nach ein paar Metern bleibt er stehen, deutet zur Decke, an der ein Kabel verläuft, und an die Wand, an der sich ein Lichtschalter befindet. „Nicht berühren“, sagt er und zeigt auf den Schalter. „Es könnte eine Sprengfalle sein.“ Mörderische Spuren wie diese hinterlässt der IS an jedem Ort im Irak. Seit Monaten befindet er sich in der Defensive. Die letzte Eroberung einer größeren Ortschaft liegt lange zurück. Der IS führt nur noch Rückzugsgefechte – diese allerdings genauso rücksichtslos wie seine Angriffe.