Loyal-Titelthema des Monats Mai 2011
Im Fall der Katastrophe
Von Lorenz Hemicker
I. Im Atomkraftwerk
Die Vibration dringt durch die Sicherheitsschuhe hinauf bis in die Oberschenkel. Auf der Haut liegt ein dünner Schweißfilm. Es ist heiß und laut. Zwölf Meter unter den Füßen tobt die nukleare Kettenreaktion. So also fühlt es sich an, wenn man auf den tonnenschweren Betonriegeln oberhalb eines Druckwasserreaktors steht. An jenem Tag ist Fukushima in Deutschland noch so bekannt wie in Japan Philippsburg, eine Atomanlage rund 30 Kilometer nördlich von Karlsruhe. Das Besucherprogramm erreicht gerade den Siedepunkt. Wer hier, in Kittel, Helm und Überschuhen am Fuß der 56 Meter umspannenden Betonkuppel ankommt, hat bereits einen plastischen Eindruck von den Sicherheitsvorkehrungen eines deutschen Atomkraftwerks erhalten, einer endlosen Abfolge von Kontrollen und Schleusen, die alle Schutzmaßnahmen an Flughäfen und Kasernen in den Schatten stellen. Von den Betonriegeln schweift der Blick in das Abklingbecken, aus dessen Tiefe die verbrauchten Brennelemente des Reaktors silbern empor schimmern. Auf der Anzeige des Dosimeters zur Messung der Radioaktivität leuchtet eine Null. Der Wert wird sich während des gesamten Rundgangs durch das Reaktorgebäude nicht ändern.
Seit der Dreifachkatastrophe von Japan macht sich wieder Angst in Deutschland breit. Es ist eine Angst, die auftritt, wenn auf der Welt Unfassbares geschieht: 2001, nach den Terroranschlägen in New York und Washington, 2004 nach dem verheerenden Erdbeben im Indischen Ozean und in diesen Tagen, einmal mehr, beim Anblick der strahlenden Ruinen von Fukushima. Damit verbunden tritt eine Debatte in den Vordergrund, die lange nur in Hinterzimmern geführt wurde. Es ist die Debatte um den Einsatz der Bundeswehr im Innern. Wie aber denken, fernab der politisch-juristischen Diskussion in Berlin, Verantwortliche und Betroffene im Land?