Loyal-Titelthema des Monats September 2010
Verbrechen ohne Grenzen
Von Paul-Anton Krüger
Die Soldaten waren einem anonymen Tipp nachgegangen, der sie per Telefon erreicht hatte. Sie stießen auf 51 Leichen, verscharrt in einem Massengrab so groß wie drei Fußballfelder. Die Opfer wiesen Spuren von Folter auf. Manche waren mit Seilen gefesselt, andere mit Klebeband oder Handschellen. Einige der Leichen waren zerstückelt, andere hatten die Täter offenbar zu verbrennen versucht.
Die Menschen waren seit etwa zwei Wochen tot, als sie Mitte Juli nahe der Industriestadt Monterrey im Norden Mexikos gefunden wurden. Kaum jemand dort zweifelt daran, dass sie dem Krieg zwischen den Drogenkartellen, der Polizei und dem Militär zum Opfer gefallen sind. „Alle trugen Tätowierungen“, sagte der zuständige Staatsanwalt Alejandro Garza y Garza – ein Zeichen, dass sie vermutlich selbst einer der Gangs angehört haben, die in den vergangenen 18 Monaten die bei US-Investoren beliebte Gegend in eines der zentralen Schlachtfelder im weltweiten Narcokrieg verwandelt haben.
6.500 Menschen starben allein in den ersten sieben Monaten dieses Jahres in dieser Auseinandersetzung um Schmuggelrouten und Anteile am Drogenmarkt, um Geld und Macht, die nun seit fünf Jahren tobt. Mexikos Präsident Felipe Calderón ging nach seinem Amtsantritt 2006 in die Offensive gegen die Rauschgiftkartelle. Seitdem sollen insgesamt etwa 25.000 Menschen ermordet worden sein. Resigniert sagte der Gouverneur des Bundesstaats Nuevo León, Rodrigo Medina de la Cruz, das Massengrab von Monterrey könnte „der größte Friedhof des organisierten Verbrechens“ sein.
Fast 50.000 Soldaten und Polizisten hat Calderón inzwischen in die Krisenregionen geschickt, um die hochgerüsteten Gangs aus Ciudad Juárez, die Sinaloa Federation und das Golf-Kartell, niederzuringen. Doch die Gewalt nimmt weiter zu. Inzwischen antwortet die Drogenmafia auf Verhaftungen mit Autobomben-Anschlägen; in der Grenzstadt Juárez zündete sie per Handy eine improvisierte Bombe, wie man es sonst von Aufständischen aus dem Irak oder Afghanistan kennt. Sicherheitsleute in Mexiko warnen schon vor „Drogenterrorismus“, um zu beschreiben, welche Bedrohung von grenzüberschreitender organisierter Kriminalität ausgeht.
Die Dimension dieses Problems weltweit systematisch und statistisch zu erfassen, ist Aufgabe des Büros der Vereinten Nationen für Drogen- und Verbrechensbekämpfung (UNODC). Die jüngst veröffentlichte Bedrohungsanalyse „Die Globalisierung der Kriminalität“ nimmt dabei weniger einzelne Gruppen von Kriminellen in den Fokus. Sie konzentriert sich vielmehr auf illegale Märkte und Schmuggelrouten. Das soll zum einen den grenz- und oft auch kontinentüberschreitenden Charakter dieser Aktivitäten besser verständlich machen, wie die Autoren darlegen. Zugleich nimmt die Studie damit auch die veränderten Rahmenbedingungen einer globalisierten Welt in den Blick, die transnationale organisierte Kriminalität ermöglichen, begünstigen und auch antreiben: den weitgehend ungehinderten Fluss von Geld und Waren, die Möglichkeiten der weltweiten elektronischen Kommunikation oder auch das extreme Wohlstandsgefälle zwischen Europa sowie Nordamerika und dem Rest der Welt. Diese Perspektive hilft, die oft verheerenden Auswirkungen von organisierter transnationaler Kriminalität auf die politische Stabilität der an den weltweiten Handelsströmen gelegenen Regionen aufzuzeigen und diese nicht länger nur als länderspezifische Probleme zu begreifen, die allein mit nationalstaatlichen Mitteln wie dem Einsatz der jeweiligen Polizei- und Strafverfolgungsbehörden zu lösen sind. Denn die Wirtschaft der Nationen hat sich globalisiert, die Industrie des Verbrechens tut es ebenfalls. Die Gruppen operieren weltumspannend wie multinationale Konzerne. Sie erobern neue Märkte, die globale Nachfrage steigt. Das UNODC schätzt, dass mindestens zwei bis drei Prozent der weltweiten Wirtschaftsleistung auf kriminellen Geschäften beruhen. Das sind rund 1.300 Milliarden US-Dollar, fast halb so viel wie Deutschland in einem Jahr erwirtschaftet.
Geht man von den geschätzten Gewinnen aus, ist der Drogenhandel mit weitem Abstand der größte illegale Wirtschaftszweig – und zugleich auch jener mit den weitreichendsten sicherheitspolitischen Implikationen. Die Eskalation der Gewalt in Mexiko und das Eindringen der Kartelle in informelle Wirtschaftszweige wie den Straßenhandel und die zunehmende Unterwanderung auch legaler Geschäftsbereiche untergräbt mittlerweile die Autorität des Zentralstaats. In Afghanistan finanzieren sich die Aufständischen vor allem aus Drogengeldern, sei es aus einer Besteuerung des Handels oder indem sie direkt in den Verkauf involviert sind. So können sie nach Schätzungen der UN mindestens 150 Millionen US-Dollar pro Jahr aus dem Geschäft mit dem Mohnanbau abschöpfen. Zugleich torpediert die mit dem Drogenhandel eng verbundene Korruption den Aufbau effektiver staatlicher Strukturen und den zivilen Aufbau. Die UN gehen davon aus, dass die Heroinkartelle an Politiker, Polizei und Behörden in Afghanistan sowie in den Transit- und Konsumentenländern Schmiergeld in Milliardenhöhe zahlen.
Das größte Geschäft im weltweiten Drogenmarkt ist jedoch nach wie vor der Schmuggel von Kokain nach Europa und Nordamerika. Die Autoren der UN-Studie schätzen, dass damit im Jahr 2008 etwa 72 Milliarden Dollar erwirtschaftet wurden. Zum Vergleich: Die Wirtschaftsleistung der Slowakei erreichte im Jahr 2009 etwa 88 Milliarden Dollar. Der schrumpfende US-amerikanische Kokainmarkt, mit knapp 200 Tonnen zum Großteil über den Landweg über Mexiko aus Kolumbien versorgt, macht 38 Milliarden US-Dollar aus. Die Eskalation der Gewalt in Mexiko, aber auch in anderen zentralamerikanischen Ländern entlang der Schmuggelroute, führen die UN und unabhängige Experten wie Vanda Felbab-Brown von der US-amerikanischen Denkfabrik Brookings Institution auf die „verschärfte Konkurrenz der Kartelle um kleiner werdende Marktanteile“ und bei der Erschließung neuer Geschäftsfelder zurück.