loyal-Ausgabe Oktober 2024
Kriegstüchtig in 100 Jahren
Editorial von Chefredakteur André Uzulis
Kürzlich hat eine Untersuchung die deutsche Öffentlichkeit aufgeschreckt, die von einer Institution kam, die nicht dafür bekannt ist, sonderlich aufgeregt zu agieren: Das Kieler Institut für Wirtschaftsforschung (IfW) hat sich mit der deutschen Rüstung beschäftigt – und ist dabei zu erschreckenden Ergebnissen gekommen.
Die Ausgaben für die Bundeswehr, so schreiben die Ökonomen, sind angesichts der aktuellen Bedrohungslage durch Russland und nach Jahrzehnten der Abrüstung völlig unzureichend. Um auch nur den Stand der Bewaffnung des Jahres 2004 zu erreichen, bräuchte Deutschland beim aktuellen Beschaffungstempo knapp 100 Jahre, so die deprimierende Erkenntnis der Wirtschaftswissenschaftler. Zu langsam, zu kompliziert, zu wenig Geld. So lässt sich Deutschlands Wiederaufrüstung charakterisieren – Zeitenwende hin oder her.
Die militärischen Einsparungen in den vergangenen 30 Jahren, der Ära der sogenannten Friedensdividende, summieren die Kieler Forscher auf 400 bis 600 Milliarden Euro auf. Angesichts dessen wirkt das Sondervermögen von 100 Milliarden Euro wie ein Tropfen auf den heißen Stein – abgesehen davon, dass es in wenigen Jahren schon aufgebraucht sein wird.
Verschärft wird das Problem – besser gesagt: die Bedrohung – durch das Tempo der russischen Rüstungsproduktion: Russland stellt in nur einem halben Jahr so viel neues Rüstungsgerät her, wie Deutschland insgesamt besitzt, warnen die IfW-Ökonomen. In nur einem Monat laufen in Russland 130 Kampfpanzer vom Band. Deutschland hat ganze 105 neue Leopard-Panzer bestellt – für die nächsten fünf Jahre! Hinzu kommt, dass sich die USA mittelfristig stärker auf den indopazifischen Raum konzentrieren werden und nicht der steigenden europäischen Nachfrage nach Sicherheitsgarantien nachkommen dürften. Das Lagebild könnte also kaum düsterer sein. Doch was ist zu tun?
Die Kieler Wissenschaftler fordern ein Ende der deutschen Ambitionslosigkeit in der Verteidigungspolitik. Vor allem muss der Verteidigungshaushalt massiv aufgestockt werden. Die aktuellen rund 52 Milliarden Euro sind viel zu wenig – sie entsprechen nur 1,2 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Deutschland hat sich aber – wie seine NATO-Partner – verpflichtet, 2 Prozent des BIP für Verteidigung auszugeben. Dieses Versprechen kann aktuell nur erfüllt werden, wenn das einmalig zur Verfügung gestellte Sondervermögen von 100 Milliarden Euro eingerechnet wird. Die Ökonomen aus Kiel fordern einen dauerhaften Wehretat von 80 Milliarden Euro.
Neben mehr Geld verlangen die Wirtschaftswissenschaftler mehr Innovation und Agilität in der Aufrüstung. Insbesondere Drohnen sind gefragt. Wie sehr die Bundeswehr gerade bei diesem auf dem Schlachtfeld des 21. Jahrhundert möglicherweise entscheidenden Kriegsgerät hinterherhinkt, zeigen wir in der Titelgeschichte dieser Ausgabe. In Deutschland wird viel über die Zeitenwende geredet – im politischen Denken und im Rüstungsbeschaffungsprozess ist sie aber noch nicht angekommen, das offenbart die Untersuchung aus Kiel auf dramatische Weise. Das Schlimme ist: Das Zeitfenster, das Ruder noch herumzureißen, ist dabei sich zu schließen.