loyal-Ausgabe September 2022
Viel Planung, wenig Truppe
von Björn Müller
Militärische Unmündigkeit und totale Abhängigkeit von den USA: Für die Europäer ist der Ukrainekrieg ein doppelter Offenbarungseid. Großverbände zur Verstärkung der Ostflanke von NATO/EU-Europa konnten nur die USA aufbieten. Die Europäer schaffen nur Kompanien. Auch bei der Waffenhilfe für die von Russland überfallene Ukraine sind die Lieferungen aus Washington entscheidend. In einem halben Jahr Kämpfe stellten die USA Militärhilfen von 25 Milliarden Euro bereit. Die direkt betroffenen Europäer brachten nur zwölf Milliarden auf, so der„Ukraine Support Tracker“ des Instituts für Weltwirtschaft Kiel mit den aktuellen Zahlen bei Redaktionsschluss. Europas Hauptmilitärmächte Großbritannien, Frankreich und Deutschland kratzen ihre hohlen Strukturen aus, um jeweils eine Handvoll Artillerie an die Ukraine zu liefern.
Der Ausbau der Produktionskapazitäten wird langwierig. Ob es zu einem sinnvollen europäischen Zusammenwirken kommt, ist fraglich. Frankreich hat für September einen rein nationalen Plan angekündigt. Auf die Frage von loyal nach deutschen Maßnahmen zum Kapazitätsausbau, antwortet ein Sprecher des Verteidigungsministeriums, dies sei alleinige Sache der Industrie. Zu ernsthafter strategischer Rüstungspolitik ist Deutschland immer noch nicht bereit. Es gibt lediglich Grundlagenarbeiten. Das Wirtschaftsministerium erstellt eine „Studie zur strukturellen Lage der Sicherheits- und Verteidigungsindustrie in Deutschland“. Deren Ergebnisse sollen Ende des Jahres vorliegen, so ein Ministeriumssprecher zu loyal.
Dabei wollten die Europäer längst eine Streitkraft in Korpsgröße einsatzbereit haben, also rund 60.000 Mann mit Land-, See- und Luftstreitkräften. Dieses Ziel gaben sie unter dem Eindruck militärischer Hilflosigkeit in den Balkankriegen der 1990er-Jahre aus, die nur durch die US-amerikanische Militärmacht beendet werden konnten. Im Zeitalter der asymmetrischen Kriege versackte das Vorhaben einer konsolidierten europäischen Streitmacht. Die Europäer rüsteten bis auf kleine Beiboot-Armeen für die Antiterrorkriege der USA ab. Die bequeme Anlehnung an die NATO-Supermacht wird jedoch immer unwägbarer, denn die USA sind nicht länger bereit, für EU-Europa entscheidende Konflikte wie in Syrien militärisch zu beenden. Der erste US-Gegner ist inzwischen China, nicht mehr Russland. Um dessen regionalen Angriffskriegen begegnen zu können, brauchen die Europäer einen leistungsfähigen Streitkräfteverbund, sollten die USA in Asien gebunden sein.
Doch statt effizienter Zusammenführung dominiert Zerfaserung: Die Europäer schaffen ständig neue Militärstrukturen, die allerdings nicht von Angleichung geprägt sind, sondern von nationalen Spezialinteressen. Die Deutsch-Französische Brigade kam als Großverband nie zum Einsatz. Eine litauisch-polnisch-ukrainische-Brigade ist mit Russlands Angriff hinfällig geworden. Ein neuer Eingreifverband von Briten und Franzosen, die Combined Joint Expeditionary Force, soll zwei Battlegroups mit 10.000 Mann umfassen. Allerdings haben die Partner nur auf dem Balkan und Mittleren Osten gleichwertige Interessen. Gerade dort sehen Planspiele aber die Beteiligung leistungsstarker Militärmächte vor, für die diese Expeditionsstreitmacht zu schwachbrüstig wäre.
All diese Projekte sind planungs- und personalintensiv, ihr militärischer Mehrwert ist dagegen überschaubar oder gar nicht vorhanden. Die wenigen Fortschritte basieren auf Pooling- und Sharing-Lösungen wie das European Air Transport Command (siehe Folgebeitrag). Die lange Zeit als „Flexibilisierung“ gepriesene Gründung neuer Kommandos endete in Verzettelung. Einen Aufwuchs an Truppenstärken und Fähigkeiten, um sie zu unterfüttern, gab es nicht. Im Gegenteil. Von 1999 bis 2018 verloren Europas Armeen 35 Prozent ihrer militärischen Fähigkeiten, so eine Analyse der Wehrexperten Sophia Becker, Christian Mölling und Torben Schütz für die Deutsche Gesellschaft für Auswärtige Politik. In den Jahren nach der Finanzkrise 2008 war das Abschmelzen besonders intensiv.
Unter dem Druck des russischen Angriffskrieges schart sich Europa jetzt naturgemäß verstärkt um die USA. Nun werden wohl auch Schweden und Finnland Mitglieder der Allianz. Das neue Strategische Konzept kündigt ein „New Force Model“ an. Die bisherige Response Force begnügte sich mit der Aufbereitung von Brigade-Kontingenten für die Ostflanke. Ab 2025 sollen Divisionsgrößen mobilisiert werden können. Die EU-Staaten haben daneben – mal wieder – eine Absichtserklärung beschlossen, den „Strategischen Kompass“. Dessen Vorhaben sollen bis 2030 „eine Stärkung unserer Sicherheits- und Verteidigungspolitik“ bewirken. Der Grund für den vagen Ausblick: Der Ansatz ist kleinteilig bottom-up. Die zahllosen militärischen Fähigkeitslücken der Europäer sollen über inzwischen 60 PESCO-Projekte geschlossen werden. Es mangelt jedoch an einem Fähigkeitsprofil für das gesamte europäische Streitkräftepotenzial in EU und NATO.
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