Als die Corona-Welle über Gütersloh einbrach
Die Journalisten und Kameraleute kamen direkt angerannt. Der Pressestabsoffizier des Landeskommandos Nordrhein-Westfalen, Oberstleutnant Uwe Kort, steuerte sein Bundeswehr-Dienstfahrzeug auf das Gelände des Fleischfabrikanten Tönnies. Gerade geparkt, war der Wagen umringt von Medienvertretern. Der Informationshunger schien groß, als die Bundeswehr zunächst nur zur Amtshilfe zum Werk Tönnies in Rheda-Wiedenbrück gerufen wurde. Die Unterstützung sollte innerhalb weniger Tage noch größer werden.
Der Coronavirus-Ausbruch bei Tönnies beschäftigte Politik, Medien und die Bevölkerung wochenlang. Der rasante Anstieg der Fallzahlen führte zu einem vorübergehenden Lockdown in den Landkreisen Gütersloh und Warendorf, und das zu Beginn der Sommerferien. Hotels und Gaststätten in anderen Bundesländern wiesen zeitweise Menschen aus diesen Landkreisen ab. Gütersloher und Warendorfer wurden angefeindet. Die Nerven lagen blank. Im Kampf gegen das Virus war die Bundeswehr mittendrin. Die Streitkräfte halfen in der Spitze mit 350 Soldatinnen und Soldaten.
Dass die Coronavirus-Welle mit voller Wucht und allen Konsequenzen über den Landkreis Gütersloh einbrechen würde, war bis dahin nicht abzusehen. Das sagt Oberstleutnant d.R. Thomas Richter. Er leitet das Kreisverbindungskommando Gütersloh. Es berät den Krisenstab des Landkreises im Katastrophenfall darüber, welche Möglichkeiten der Amtshilfe die Bundeswehr bieten kann und wie die Streitkräfte im Rahmen des Grundgesetzes unterstützen können. Zu Beginn der Coronavirus-Krise sei bereits bei Tönnies getestet worden, berichtete Thomas Richter. Damals habe es von 7.000 Mitarbeitern drei Fälle gegeben. „Da war nichts, das völlig aus der Spur war“, sagte Richter.
Insel der Glückseligen
Nach seinen Angaben hat der Landkreis Gütersloh in den ersten Monaten der Pandemie bereits einen Amtshilfeantrag an die Bundeswehr gestellt, der teilweise genehmigt worden war. Man wollte in einer stillgelegten Rehaklinik ein Behelfskrankenhaus für Covid-19-Patienten einrichten. Die Bundeswehr stellte dafür 120 Krankenhausbetten und weiteres medizinisches Material zur Verfügung, das auf dem ehemaligen britischen Militärflughafen eingelagert wurde. Zur Umsetzung des Vorhabens kam es nicht, da die Fallzahlen zunächst nur langsam stiegen. Ein Behelfskrankenhaus schien aus der Sicht der Entscheider im Landkreis daher nicht mehr notwendig. „Für uns war es total ruhig. Im Vergleich zu anderen Landkreisen wie Heinsberg haben wir auf einer Insel der Glückseligen gelebt“, sagte Oberstleutnant d.R. Richter.
Bis Donnerstag, den 18. Juni. An diesem Abend rief ihn der Gütersloher Kreisbrandmeister an und erkundigte sich konkret, ob die Bundeswehr bei der Abnahme von Abstrichen im Tönnies-Werk unterstützen kann. „Ich habe erst einmal gefragt: Was braucht ihr? Was ist notwendig? Es war nicht so richtig klar und ein bisschen aus der Hüfte geschossen: zehn Sanitäter und 20 Soldaten“, berichtete Richter. Er besprach sich anschließend mit dem Lagezentrum des Landeskommandos Nordrhein-Westfalen. Der Landkreis stellte dann schnell einen Amtshilfeantrag. Freitagmorgen stand die Bundeswehr mit Sanitätssoldaten aus Koblenz und Rennerod und mit Kameraden aus Augustdorf bei Tönnies auf dem Hof. Sie nahmen dort bis Sonntag Abstriche von 4.600 Mitarbeitern.
„Es ging zunächst einmal darum, die Arbeiter bei Tönnies zu testen. Die Fabrik war in Teilen noch aktiv. Man wollte noch vorhandenes Fleisch verarbeiten war eine erhebliche Anzahl an Arbeitern weiterhin in der Fabrik“, erläuterte Oberstleutnant Kort. Der Pressestabsoffizier war in diesen Tagen im Dauereinsatz. 20 verschiedene Medien, darunter Journalisten-Teams aus Finnland, Spanien, von den amerikanischen Nachrichtensendern CNN und Bloomberg berichten über den Coronavirus-Ausbruch bei Tönnies. Die meisten Berichte erwähnen auch, dass der Krisenstab des Landkreises Gütersloh sicherstellen musste, dass das Coronavirus nicht von den Tönnies-Mitarbeitern in die Bevölkerung eingetragen wird und sich dort ausbreitet. Dazu mussten weitere Tönnies Mitarbeiter und deren Kontaktpersonen in ihren Wohnungen getestet werden. Die Bundeswehr unterstützte mit Sanitätern und Soldaten, die die Dokumentation übernahmen, bei diesen Abstrichteams. „Es stellte sich heraus, dass das insgesamt 1.300 Adressen sind. Man darf sich das nicht so vorstellen, dass die Mitarbeiter in einem überschaubaren Wohnblock untergebracht waren. Sie wohnen im gesamten Kreisgebiet und auch in Nachbarkreisen“, beschrieb Uwe Kort die Lage. Hinzu kam, dass an manchen Adressen Personen nicht aufzufinden waren oder sich Personen im Haus befanden, die dort nicht gemeldet waren.
Mobile Abstrichteams
Die mobilen Abstrichteams bestehend aus zivilem Personal und Soldaten waren bis Ende Juli im Einsatz. Die Soldaten stellten dabei die Durchhaltefähigkeit des Einsatzes sicher, die von den zivilen Rettungsorganisationen nur schwer zu leisten war. Hier wechselte oft das Personal, weil die meist ehrenamtlichen Helfer familiär gebunden waren oder ihrer Arbeit nachgehen mussten. Die Bundeswehr-Soldaten entlasteten die zivilen Kräfte und sorgten für Kontinuität bei der Abnahme der Abstriche. „Es waren circa 25000 Leuten zu testen. Wir hatten zu Spitzenzeiten in den mobilen Teams 135 Soldaten im Einsatz. Gleichzeitig mussten auch noch 17 Betriebe mit unterschiedlicher Mitarbeiterzahl im Kreis getestet werden. Da waren weitere 60 Soldaten im Einsatz“, schilderte Oberstleutnant Richter.
Die Situation der Tönnies Mitarbeiter bereitete dem Krisenstab des Landkreises anfangs Kopfzerbrechen. Dieser tagte zunächst jeden Tag. Die Runde bestand aus vielen Teilnehmerinnen und Teilnehmern. Mit dabei waren der Krisenstabsleiter, der Landrat, Rettungs- und Hilfsorganisationen, Bundeswehr, Vertreter der Gemeinden, Vertreter des Gesundheitsamts, des Robert-Koch-Instituts, der Landeszentrale für Gesundheit, und der Bezirksregierung. Konsulatsangehörige aus Bulgarien, Rumänien und Polen saßen auch mit am Tisch. „Es kamen sehr viele Details und Fragen auf. Man hat das dann auf kleinere, operative Gesprächsrunden übertragen“, beschreibt Thomas Richter.
Leitung lag immer bei der zivilen Seite
Er war dabei, als es darum ging, Teststationen für die Bevölkerung im Landkreis einzurichten. Hier ging es darum, geeignete Orte für die Testzentren und genügend Laborkapazitäten zu finden. Ein Labor in Köln konnte 10.000 Tests am Tag anbieten. Das sei dann die Richtschnur gewesen, schilderte Oberstleutnant Richter. Der Landkreis ließ sechs Testzentren aufbauen. Vier davon, unter anderem die Drive-Through-Station auf dem Gelände des ehemaligen britischen Militärflugplatzes, hat die Bundeswehr unter ziviler Führung mit betrieben. „Die Leitung lag immer bei der zivilen Seite“, betonte Richter. Die Soldaten, die mit den mobilen Abstrichteams unterwegs waren, konnten bei Bedarf das Ordnungsamt oder die Polizei zur Hilfe rufen. Die Zusammenarbeit mit den zivilen Kräften und Behörden sei sehr professionell gewesen, sagte Oberstleutnant Uwe Kort. Das hat auch Oberstleutnant d.R. Richter beobachtet. Er und seine KVK-Kameraden waren bis zum 28. Juli aktiviert und in ihrer KVK-Zelle in der Feuerwehrschule St. Vit eingesetzt. „Ich fand sehr positiv, dass die Soldatinnen und Soldaten aus unterschiedlichen Standorten und Einheiten sehr gut miteinander harmoniert haben“, sagte Richter. Die Kameradinnen und Kameraden seien sehr motiviert gewesen. Sie haben gespürt, dass ihr Einsatz, der Dienst an der Bevölkerung, geschätzt und sie hoch angesehen wurden.
Das KVK Gütersloh hat mit dazu beigetragen, dass die Bundeswehr in der Krise durchhaltefähig bleibt. Bis zum 28. Juli war die KVK-Zelle im Wechselbetrieb besetzt. Zum KVK gehören Oberstleutnant d.R. Thomas Richter, sein Stellvertreter Major d.R. Gisbert Dubbi, Oberstleutnant d.R. Ulrich Donkels, Stabsarzt d.R. Klaus Küppers, Major d.R. Frank Vormweg, Hauptmann d.R. Jens Langer, Oberleutnant d.R. Nikolai Guhra, Leutnant d.R. Eugen Leikom, Stabsfeldwebel d.R. Jörg Penning und Hauptbootsmann d.R. Christian Gnegeler.