Aus der aktuellen ‚loyal‘: „Es geht zu langsam“
Interview: Julia Egleder
Herr Bartels, Sie haben vor kurzem Ihren zweiten Jahresbericht vorgestellt. Worin unterscheidet er sich von seinen Vorgängern?
Seit mehr als zwei Jahren gibt es eine neue sicherheitspolitische Lage. Als Konsequenz daraus soll die Bundeswehr jetzt nicht mehr jedes Jahr kleiner werden, sondern bei Personal und Material wieder wachsen. Das ist ein Paradigmenwechsel. Wichtige Grundsatzbeschlüsse sind gefasst. Aber es geht zu langsam! Das Verteidigungsministerium hat zum Beispiel das Ziel ausgegeben, dass es 7.000 zusätzliche Dienstposten bis zum Jahr 2023 geben soll. Sieben Jahre für einen Personalaufwuchs um vier Prozent, nur gut ein halbes Prozent jedes Jahr – das dauert viel zu lange! Genau dasselbe Problem haben wir beim Gerät: Erst im Jahr 2030 soll die Vollausstattung der Bundeswehr in den aktuellen Strukturen erreicht sein. Aber wer weiß schon, was bis zum Jahr 2030 noch alles passiert? Diese Zeitpläne sind viel zu unambitioniert.
Warum geht das nicht schneller?
Es gibt in unserer Militäradministration offenbar Verlangsamungsstrukturen, die sich in den zweieinhalb Jahrzehnten des Schrumpfens herausgebildet haben. Bis 2014 ging es ja immer um die Frage: Wie kann man Soldaten, Standorte und Material loswerden? Dagegen brauchen wir jetzt eine bewusste Beschleunigungsinitiative. Neue Regelungen für mehr Tempo und eine Mentalitätstrendwende sind das Gebot der Stunde.
Wie könnte so eine Beschleunigungsinitiative aussehen?
Egal wie – im Ergebnis muss es möglich sein, etwa Verträge mit der Industrie schneller abzuschließen. Auf die lange Bank schieben heißt, die Soldaten warten lassen. Beim neuen Mehrzweckkampfschiff 180 und bei der FlaRak-Modernisierung wird es zum Beispiel in dieser Legislaturperiode wohl keinen Vertragsabschluss mehr geben. Auch die Industrie selbst muss schneller werden. A400M, NH90, Tiger, Puma – das müsste alles längst da sein. Mehr Druck und mehr Selbstbewusstsein des öffentlichen Auftraggebers wären angemessen! Aber in der Rüstungsbürokratie herrscht zu oft eine Kultur der Verantwortungsvermeidung. Übrigens auch anderswo manchmal.
Was meinen Sie damit?
Nicht überall in der Bundeswehr ist immer klar, wer für was zuständig und verantwortlich ist. Deshalb dauern Entscheidungen entweder sehr lange oder es ist im Nachhinein kaum noch nachvollziehbar, wie es zu einer bestimmten Entscheidung gekommen ist. Außerdem: Vorgesetzte verbringen zu wenig Zeit auf einem Dienstposten, oft nur zwei oder zweieinhalb Jahre. Sie erleben oft gar nicht mehr mit, wie sich ihre Entscheidungen auswirken. Auch kann in den vielfach zu kurzen Stehzeiten kaum ein Vertrauensverhältnis zwischen Vorgesetzten und Geführten wachsen. Ein weiteres Problem: Durch die Mangelverwaltung beim Material ist ein gigantisches Meldewesen entstanden. Um Gerätschaften an andere Einheiten etwa für notwendige Übungen ausleihen zu können, müssen Vorgesetzte immer über alle Aktivitäten im nachgeordneten Bereich informiert sein. Das bindet Kräfte, die anderswo besser eingesetzt wären.
Sie fordern im Wehrbericht eine heimatnahe Grundausbildung. Was verstehen Sie darunter?
Jeder Verband, also jedes Bataillon, Regiment oder Geschwader, sollte mit wenigstens einem Zug die Allgemeine Grundausbildung durchführen können. Im Moment passiert das ja eher zentralisiert an zu wenigen Ausbildungsstützpunkten. Dezentralisiert könnte monatlich hier und da eine Ausbildung starten, vielleicht sogar in der Nähe des Rekruten. Wartezeiten ade! Das könnte die Attraktivität für die jungen Freiwilligen steigern.
Sie schreiben in Ihrem Wehrbericht, dass die Meldungen wegen des Verdachts auf Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung im 2016 auf 131 Fälle gestiegen ist. Im Vorjahr waren es noch 86 Fälle. Gibt es einen moralischen Verfall in der Bundeswehr – Stichwort Pfullendorf?
Ich wäre vorsichtig damit zu sagen, es gebe einen wachsenden Trend bei den Verstößen gegen die sexuelle Selbstbestimmung in der Truppe. Zu den gemeldeten Fällen zählten auch, wenn es etwa Gewalt in der Familie gab, also Fälle außerhalb des Dienstes. Allerdings nahmen auch Meldungen innerhalb der Bundeswehr zu. Ob das auf eine erhöhte Sensibilisierung und Meldebereitschaft zurückzuführen ist oder andere Ursachen hat, ist schwer zu sagen. Ich glaube, viele Fälle werden gar nicht gemeldet. Die repräsentative Studie "Truppenbild ohne Dame" von 2014 hatte ergeben, dass etwa die Hälfte aller Soldatinnen schon einmal im Dienst belästigt worden ist. Das zeigt die Dimension wahrscheinlich besser.
Bei der Ausbildung zum Kampfsanitäter am Standort Pfullendorf soll es zu entwürdigenden und sexistischen Szenen gekommen sein. Auszubildenden soll Tamponade in den After eingeführt und Rekruten nackt gefilmt worden sein.
Eine Ausbildungspraxis, bei der in die Intimsphäre eingegriffen wird, ist nicht zu tolerieren, auch nicht bei Spezialkräften! So steht es in meinem Jahresbericht. Es gelten die gleichen Maßstäbe von Menschenwürde und Innerer Führung wie in der ganzen Bundeswehr. Jetzt stellt sich die Frage: Gab es da eine Closed-Shop-Mentalität, was Aufklärung erschwerte? Die Bundeswehrspitze hat die Meldungen allerdings von Anfang an sehr ernst genommen. Das ist gut.
Es kam in Pfullendorf aber auch zu entwürdigenden "Aufnahmeritualen". Mannschaftssoldaten wurden gefesselt und kalt abgeduscht…
Die Soldaten, die als Täter daran beteiligt waren, wurden entlassen. Offensichtlich hat da die Dienstaufsicht versagt. Vielleicht weist das auch auf allgemeinere Defizite unserer heutigen Bundeswehr hin: Nur die jungen Soldaten unter 25 Jahren schlafen noch in der Kaserne, die Älteren kaum noch, sie dürfen nicht, auch wenn sie Fernpendler sind. Möglicherweise hätten in der Kaserne anwesende Vorgesetzte sonst mitbekommen, was da passiert.
Herr Bartels, vielen Dank für das Gespräch.
beim Überwinden einer Eskaladierwand.
(Foto: Marco Dorow / Bundeswehr)
Bild unten: Hans-Peter Bartels (SPD) ist seit Mai 2015
Wehrbeauftragter des Deutschen Bundestags.
Zuvor war er Vorsitzender des
Verteidigungsausschusses des Bundestags.
(Foto: Kai Bublitz)