Aus der aktuellen ‚loyal‘: Mission Impossible?
Von Julia Egleder
Einmal in der Woche räumt Oberstleutnant Michael Hoppstädter mit Gerüchten auf. Das tut er auch jetzt wieder. Der Führer des deutschen Einsatzkontingents in Gao hat seine Soldaten in den Raum befohlen, in dem sie sonst ihre spärliche Freizeit verbringen. An den Wänden stehen Regale mit Spielfilmen, die Tischtennisplatte ist extra für die Besprechung zur Seite gerückt worden. Die Klimaanlage kühlt den Raum auf 20 Grad, draußen flirrt die Wüstenluft bei doppelt so hohen Temperaturen. "Also", setzt Hoppstädter an, "ich will hier mal etwas klarstellen. Der Vorfall bei der Ortschaft Ber war kein Selbstmordanschlag". Hoppstädter spricht deutlich, er setzt jedes Wort mit Bedacht. "Der Mann wollte ein IED vergraben." Das ist offensichtlich gründlich schief gegangen.
Hoppstädter hält eine Fernbedienung und drückt einen Knopf. Die Powerpoint-Präsentation springt eine Folie weiter. Der Beamer projiziert Bilder an die Wand. Grässliche Bilder. Eines von ihnen zeigt Teile von Gedärm, die in den Ästen eines Baumes hängen. Auf einem anderen ist ein Fuß zu sehen, der abgerissen auf einer Straße liegt. Die Gesichter der Soldaten zeigen keine Regungen. Der Vorfall war weit weg, er berührt die Soldaten nicht. Hoppstädter berichtet fast jede Woche von Vorfällen wie diesem.
Bei der nächsten Nachricht fällt die Reaktion der Soldaten anders aus. "Ich habe Neuigkeiten zu den Raketen, die auf unser Feldlager geschossen wurden", sagt Hoppstädter. Jetzt hat er alle Aufmerksamkeit. Die Raketen waren in der vergangenen Woche ein großes Thema. Fast jeder Soldat kannte eine andere Story. "Es waren nicht fünf Raketen, wie zunächst angenommen, sondern drei", sagt Hoppstädter. Zwei seien weit vom Lager entfernt eingeschlagen, die dritte aber habe das Camp nur knapp verfehlt. "Es ist wichtig, dass wir uns auf Raketenbeschuss vorbereiten", sagt Hoppstädter und kündigt zum Abschluss des improvisierten Appells für die folgende Woche eine Übung zum Verhalten bei Raketenalarm an.
Selbstmordattentäter, IEDs und Mörsergranaten auf das Feldlager – damit begann der Krieg für die Bundeswehr in Afghanistan. Geht es jetzt auch in Mali los? Das fragen sich die deutschen Soldaten. Und die Zahlen lassen nur einen Schluss zu: Ja. Im Jahr 2016 wurden mehr als doppelt so viele UN-Soldaten getötet wie im Jahr zuvor: 26. Die Ursache: immer professioneller verlegte Sprengsätze. Die Minusma in Mali gilt als die gefährlichste UN-Mission überhaupt. Im Land gibt es fünf verschiedene Islamistenorganisationen, darunter Al Qaida im islamischen Maghreb (AQIM) und Ansar Dine. Sie kooperieren häufig mit kriminellen Banden, die den Menschen- und Drogenhandel durch die Sahara organisieren. Und sie verüben Anschläge auf die UN-Truppen.
Aber das ist noch nicht alles: Vor vier Jahren hatten Tuareg-Rebellen mithilfe der Islamisten große Teile Malis erobert. Französische Soldaten stoppten ihren Vormarsch auf die Hauptstadt Bamako. Jetzt gibt es einen Friedenvertrag zwischen der malischen Regierung und den Aufständischen. Die UN-Friedensmission Minusma soll überwachen, ob er auch eingehalten wird. Das ist ein schwieriges Unterfangen, denn die Rebellengruppen zersplittern zusehends. Einige Milizen fühlen sich nicht an den Vertrag mit der Regierung in Bamako gebunden. Sie errichten illegale Checkpoints oder bekriegen sich gegenseitig. So geht das seit Jahren, vor allem in Kidal, dem Hotspot des Landes schlechthin. Dort bekämpfen sich zwei Tuareggruppen aufs Blut. Die Konfliktlage in Mali ist ein schwer zu entflechtendes Knäuel.
Um beim Entwirren zu helfen, hat Deutschland seit Februar 2016 ein eigenes Kontingent in Mittelost-Mali. 550 Bundeswehrsoldaten sind im vormals rein niederländischen "Camp Castor" in Gao stationiert. Sie sollen für die UN Informationen über die Sicherheitslage in den mittleren und nördlichen Gebieten liefern und herausfinden, was sich vor den Mauern des eigenen Lagers tut. Die Tätigkeit wird im Militär Aufklärung genannt.
Wie sieht das vor Ort aus? loyal will das wissen. Der Flug führt von Frankfurt über Paris nach Bamako. Die Reise von dort nach Gao ist zwar auch mit dem Auto möglich, aber sehr gefährlich. Auf den Straßen kommt es regelmäßig zu Überfällen und Bombenanschlägen. Vor ein paar Wochen erwischte es sogar die Bundeswehr. Ein Lastwagen mit Ausrüstung für die Heron-Aufklärungsdrohne wurde angesprengt. Er war danach so schwer beschädigt, dass er nicht mehr weiterfahren konnte. Der einheimische Fahrer blieb unverletzt. Reisende nehmen am besten also das Flugzeug. In unserem Fall ist das eine schwedische "Hercules", die kurz vor der Landung in Gao abrupt in den steilen Sinkflug geht. Das Manöver ist zum Schutz des Flugzeugs vor Raketen und Mörsern notwendig. Holpernd landet die Maschine auf einer groben, schmalen Teerpiste.
Willkommen in Gao. So steht es an dem Flugplatz. Das Terminal sieht schwer mitgenommen aus. Durch basketballgroße Löcher im Deckengewölbe ist der stahlblaue Himmel zu sehen. Vor ein paar Jahren wurde hier noch heftig gekämpft. Eine niederländische Soldatin wartet schon. Das Gepäck im Kofferraum verstaut, steuert sie den Geländewagen durch mehrere Kontrollen. Immer wieder muss sie ihren UN-Ausweis vorzeigen. Die "Bubble", das abgesperrte Gelände rund um den Flughafen, ist von Hesco-Körben, Schlagbäumen und Aussichtstürmen umgeben. Dazwischen verlaufen Sandpisten. In der "Blase" hat die französische Anti-Terrormission "Barkhane" ihr Lager, aber auch die malische Armee und die UN-Mission Minusma. Sie alle sind da, um das Land im Nordwesten Afrikas sicherer zu machen. Doch jede Mission hat ihr eigenes Lager mit eigenen Sicherheitsvorkehrungen und eigenen Regeln. Auch bei den Deutschen ist das so.
Gemeinsam mit den Niederländern hat sich die Bundeswehr im Camp Castor einen Mikrokosmos geschaffen. Es gibt eine Krankenstation, eine Kantine, ein Fitness-Zelt und eine Kläranlage. Das erste, was im Lager auffällt, sind die vielen Antennen, die von Containern oder Fahrzeugen ragen. Die Soldaten haben ihre Aufklärungstechnik mitgebracht: die Drohnen "Luna" und "Heron 1", Bodenradare und den Spähwagen "Fennek". Die "Luna" kreist fast jeden Tag in einem Radius von 70 Kilometern um das Camp. Eine Kamera an ihrem Bauch zeichnet das Geschehen am Boden auf.
Ihr großer Bruder, die "Heron", kann mehr als 30 Stunden in der Luft bleiben und ein Gebiet so groß wie Deutschland überwachen. Im Vergleich zur "Heron" sind die Aufklärer mit ihrem Spähwagen "Fennek" in ihrer Reichweite arg begrenzt. Sie dürfen sich nur so weit vom Lager entfernen, dass sie bei Verwundung innerhalb von einer Stunde im Lazarett sein können. Das begrenzt ihren Einsatzradius auf 150 Kilometer. Wie Puzzleteile sollen die Informationen der einzelnen Aufklärungssysteme zu einem Lagebild zusammengesetzt werden. Wo sind Terroristen? Wo legen sie Sprengfallen? Mit diesen Informationen soll dann ein Infanteriebataillon aus Bangladesch versorgt werden. Die Deutschen sammeln Informationen, die Bangladeschis greifen ein.
Das ist die Theorie. In der Realität kommen die Aufklärungsergebnisse oftmals viel zu spät oder gar nicht bei den Bangladeschis an. Denn wenn die "Heron" über Mali fliegt, werden ihre Live-Aufnahmen zunächst nach Deutschland zur Auswertung gesendet. Vom schleswig-holsteinischen Jagel aus gehen die Informationen dann weiter nach Bamako in das Minusma-Hauptquartier. Dort werden sie in der "Asifu", der "All Sources Information Fusion Unit", noch einmal, diesmal speziell auf die Belange der UN-Mission hin, ausgewertet. Minusma-Kommandeur Michael Lollesgaard, ein dänischer Generalmajor, entscheidet schließlich, was mit den Aufklärungsergebnissen geschieht. Auf dem weiten Weg über die verschiedenen Kommandoebenen, Nationen und Bürokratien gehen da schon mal wichtige Informationen verloren. Bis die Blauhelmsoldaten kommen, sind die Attentäter schon über alle Berge oder die Sprengladung ist detoniert.
Die Ineffizienz ist erstaunlich. Denn mit dem deutschen Einsatz in Mali sind große Hoffnungen der Bundesregierung verbunden. Kanzerlin Angela Merkel und Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen wollten damit gleich vier Fliegen mit einer Klappe schlagen. Erstens: Deutschland übernimmt mehr Verantwortung in der Welt. Zweitens: Deutschland stärkt die Vereinten Nationen und deren Friedensmissionen. Drittens: Deutschland zeigt sich solidarisch mit dem terrorgeplagten Frankreich, das sich als Schutzmacht Malis versteht. Viertens: Deutschland kämpft gegen Terror und Fluchtursachen.
Das sind hochgesteckte Ziele. Die deutschen Soldaten haben derweil ganz andere Sorgen. Sie heißen Schweiß und Sand. Die Sonne in der Sahara brennt unerbittlich, auch im Schatten herrscht drückende Hitze. "In den ersten Tagen verliert man mit dem Schweiß noch viele Salze und Mineralstoffe", erklärt die niederländische Soldatin während der Fahrt ins Camp. Nach ein paar Tagen gewöhne sich der Körper an die Belastung. Dann ströme aus den Poren nur noch Wasser. Die lebenswichtigen Mineralstoffe blieben im Körper. "Wir trinken hier zwischen fünf und zehn Liter Wasser am Tag", sagt sie. Fast jeder Soldat, der in der Mittagshitze zwischen den Containern unterwegs ist, hat eine Wasserflasche in der Hand.
Ein weiteres ständiges Ärgernis ist der Sand. Er legt sich nicht nur in jede Ritze und jeden Kabelschacht. Er klebt beim Ausziehen der Kampfstiefel zwischen den Zehen. Er liegt auf der Tastatur des Computers in den Büro-Containern. Er verstopft den Abfluss der Dusche im Bad.
Trotzdem: Im Vergleich zur Zeit, als die Niederländer das Lager aufbauten, herrschten jetzt geradezu paradiesische Zustände, erzählt die Soldatin. Damals hätten die Soldaten in Zehn-Mann-Zelten schlafen müssen. Heute nächtigen sie in klimatisierten Containern. Sie müssen sich auch nicht mehr mit Waschlappen und Wasser aus Kanistern waschen. Sondern sie können jetzt duschen. Allerdings nur zwei Minuten am Stück. In der Wüste ist naturgemäß das Wasser knapp. Es gibt Toiletten mit Spülung und keine Löcher im Wüstenboden mehr.
Ein Zaun umschließt das Camp. Er trennt das deutsch-niederländische Lager von den restlichen UN-Truppen in Gao. Obwohl alle Teil derselben Mission sind, leben Chinesen, Ägypter, Bangladeschis und Soldaten aus Burkina Faso jenseits des Zauns. Ein Soldat, der am Rand des Lagers seine Joggingrunde dreht, erklärt: Die afrikanischen Soldaten auf der anderen Seite kauften Ziegen auf dem lokalen Markt und schlachteten sie im Camp. Das führe dazu, dass Keime ins Lager gelangen. Europäische Mägen könnten damit nicht umgehen. Die Folge seien Magen-Darm-Erkrankungen. Außerdem: "Die anderen Nationen haben andere Sicherheitsregeln", sagt der Soldat. Sie seien nicht so streng wie die der Deutschen.
Neben den hygienischen Verhältnissen gibt es für den Betrieb eines eigenen Lagers also einen entscheidenden Grund. Es fehlt das Vertrauen zu den Soldaten der anderen Nationen. Unbegründet erscheint das nicht. Im Februar haben meuternde Blauhelmsoldaten aus dem Tschad ihren eigenen Kommandeur und einen Sanitätsoffizier umgebracht. Trotzdem: Wie soll bei so viel Misstrauen ein einheitliches militärisches Vorgehen und ein Miteinander auf Augenhöhe möglich sein?
Der Minusma gehören etwa 13.000 Soldaten aus 53 Ländern an. Sie bringen verschiedene kulturelle Prägungen mit, sprechen verschiedene Sprachen, haben unterschiedliche militärische Ausbildung und Ausrüstung. Für die deutschen Soldaten, die bisher überwiegend Einsätze im Nato-Rahmen kennen, ist das gewöhnungsbedürftig. "In der Nato sprechen wir alle Englisch und operieren mit denselben Abkürzungen. Kommunikationswege sind eingespielt", erklärt Michael Hoppstädter, der deutsche Kontingentführer. "In einer UN-Mission ist das etwas anderes."
Keiner wird sich offiziell offener äußern als Hoppstädter. In Hintergrundgesprächen berichten Soldaten aber, wie schwierig mitunter die Zusammenarbeit mit den anderen Nationen läuft. Zum Beispiel würden die Deutschen oft als arrogant und besserwisserisch wahrgenommen. Es werde kritisiert, dass sie sich von den anderen abschotteten, aber auch, dass sie sich mit ihrer High-Tech-Ausrüstung im Lager verschanzten und andere die "Drecksarbeit" machen ließen. Damit sind wohl die Patrouillen gemeint, bei denen regelmäßig Soldaten aus Bangladesch oder dem Tschad in ihren ungepanzerten Geländewagen in die Luft gesprengt werden. Die Deutschen wiederum beklagen, dass ihre Aufklärungsergebnisse von "den anderen" zu langsam bearbeitet werden und generell vieles in der Mission zu zäh und unorganisiert ablaufe. Zitieren lassen will sich aber niemand mit diesen Einschätzungen.
Camp Castor ist klein. Um es einmal zu durchqueren, braucht man fünf Minuten. Das Abendessen in der Kantine schmeckt trotz Plastikgeschirr und Plastikbesteck erstaunlich gut. An diesem Abend gibt es Chilli con Carne mit Reis. Nach dem Abendessen gehen viele Soldaten trainieren. In einem weißen Zelt am Rande des Lagers sind Fitnessgeräte aufgestellt. Musik wummert laut aus großen Boxen, während Soldaten Gewichte heben oder auf dem Laufband joggen. Im Camp wird es früh stockdunkel. Es gibt kein Licht. Das Lager soll nicht zum leichten Ziel für Raketenangriffe werden. Soldaten tappen vorsichtig vom Trainingszelt zu ihrem Container. Vorsichtig auch deshalb, weil hier giftige Tiere lauern können. Die Sahara ist Lebensraum von Skorpionen, Schlangen und Spinnen. Es ist nicht mehr viel los im Lager. Für Soldaten gibt es am Abend wenig zu tun – und nicht mal Alkohol. Es gilt die Null-Dosen-Regelung. Bier, Wein und Spirituosen sind verboten.
Am darauffolgenden Tag, Mittagszeit, die Hitze flirrt. Jede Bewegung kostet Überwindung und Schweiß. Dennoch machen sich die Objektschützer der Luftwaffe auf eine Patrouille. Mit drei Dingos wollen sie die Umgebung erkunden. Sie tragen das enganliegende Combat-Shirt der neuen "Infanterist der Zukunft"-Ausrüstung, darüber die Schutzweste mit eingebauter Belüftung und einen Rucksack mit allerlei Technik am Rücken. Der Job der zwölf Männer aus dem niedersächsischen Schortens besteht darin, das Lager zu schützen. "Zuerst fahren wir auf einer gut ausgebauten Straße in nordwestliche Richtung", sagt Michael Peters, der Patrouillenführer (Name geändert). Der 28-jährige Hauptfeldwebel hat ein kantiges Gesicht. Mit seinen breiten Schultern und der verspiegelten Sonnenbrille sieht er aus wie ein Schauspieler in einem Actionfilm. Er deutet mit dem Finger auf eine Karte von Gao und Umgebung. Die Patrouille werde dann den Fluss Niger überqueren und anschließend einen Stopp auf einem Felsplateau machen. Dort hätten die Soldaten eine gute Aussicht über die Landschaft. Auf der Route "Zebra", einer Sandpiste, gehe es danach Richtung Gao. "Am Schluss der Tour werden wir durch die Stadt fahren", kündigt Michael Peters an. Nach fünf Stunden will er zurück im Camp sein.
Während er spricht, machen seine Soldaten die Dingos startklar. Sie montieren das Maschinengewehr, checken Bremsen und Motor. Dann geht es los. Michael Peters ist der Älteste und Erfahrenste der Gruppe. Der Soldat, der als Bordschütze im Dingo mitfährt, hat dagegen noch kindliche runde Wangen und Flaum statt Bart am Kinn. Er ist 19 Jahre alt und erzählt, zum ersten Mal im Auslands-einsatz zu sein. Für die Fahrt hat er vorgesorgt und in seinem Rucksack sieben Wasserflaschen deponiert, von denen er eine mit Eiswasser gefüllt hat. Er legt sie sich immer wieder zur Abkühlung in den Nacken. Während der Fahrt blickt er konzentriert auf den Monitor vor ihm, auf dem die Bilder einer Außenbordkamera gezeigt werden. Mit den Joysticks neben dem Monitor kann er einen Zoom bedienen und damit in Entfernungen blicken, die das menschliche Auge nicht erreicht. Er sieht Verdächtiges zuerst.
Nachdem sie die "Bubble" mit ihren Checkpoints und Schlagbäumen hinter sich gelassen hat, erreicht die Patrouille eine Straße, auf der kaum Fahrzeuge unterwegs sind. Links und rechts wachsen vereinzelte Büsche, Kakteen und Stechpalmen aus der roten Wüstenerde. Menschen kauern sich unter Plastikplanen, die sie ins Gebüsch gehängt haben. Sie blicken emotionslos, als die Dingos vorbeifahren.
Dann die erste Aufregung: Die Straße wird blockiert. Lastwagen stehen quer, die Fahrer sitzen neben den Lkws. "Kein Problem", sagt Michael Peters. "Sie protestieren nur." Er weiß Bescheid. Die Sicherheitsleute im Camp haben ihn informiert. Die anderen atmen auf. Kein Hinterhalt.
Der Hintergrund der Aktion ist allerdings ernst: Die Lkw-Fahrer zahlen in Mali einen hohen Blutzoll. 52 Zivilisten wurden in diesem Jahr schon bei der Explosion von Sprengsätzen getötet, die meisten von ihnen Lastwagenfahrer. Sie transportieren Güter über Tausende Kilometer schlecht befestigter Straßen, auch die Container und die Ausstattung für die UN-Camps.
"Fahr vorbei", sagt Michael Peters zum Fahrer seines Dingo. Der Soldat steuert den Dingo durch den Wüstensand an der Blockade vorbei. Die streikenden Fahrer sehen müde auf. Die Soldaten winken ihnen zu. Die Fahrer winken zurück.
Die Landschaft verändert sich. Die wenigen Flecken Grün werden allmählich zu einem ausgedehnten grünen Teppich. Wir erreichen die Lebensader Malis, den Niger. Die Regenzeit war in diesem Jahr lang und ergiebig. Das Wasser bahnt sich in einem kilometerbreiten Band seinen Weg durch die Wüste. Unmerklich geht das Land in den Fluss über, Männer waten im überschwemmten Uferbereich bis zur Brust im Wasser. Ihre hölzernen Barken ziehen sie neben sich her. In den fruchtbaren Überschwemmungsgebieten werden Reis, Erdnüsse und Zwiebeln angebaut.
In diesem Jahr wird die Ernte schlecht ausfallen. Heftige Regengüsse haben viele Samen aus der Erde geschwemmt. Das ist bitter für die Bauern. Und für das ganze Land. Denn Mali ist eines der ärmsten Länder der Welt. Anders als in einigen Nachbarstaaten will die Lage einfach nicht besser werden. Die Weltmärkte sind zu weit weg, Transportwege lang, die Straßen schlecht und unsicher. Das sorgt für wachsenden Unmut in der Bevölkerung. Viele frustrierte junge Männer schließen sich einer der Milizen an oder werden kriminell- was wiederum die Entwicklung des Landes schwächt. Ein Teufelskreis.
Die Patrouille erreicht das Felsplateau. Ein Soldat steigt aus, während die anderen im Fahrzeug bleiben. Er geht um den Dingo herum. Das macht er zunächst in einem Abstand von fünf Metern, dann noch einmal in einem Radius von zehn Metern. Dann streckt er den Daumen nach oben: alles sicher, keine IEDs im Boden. Die anderen steigen aus. In der Ferne liegt Gao, eine Ansammlung rötlich-brauner Lehmhütten. Daneben reihen sich die Militärcamps aneinander. Sie sind an den weißen Zeltdächern zu erkennen. Von einer Anhöhe wie dieser wurden die Raketen auf das Lager abgefeuert, berichtet der Patrouillenführer. Die Täter hätten dazu zwei Baumstämme überkreuz aneinander gestellt, die Raketen jeweils dazwischen gelegt, zum Lager ausgerichtet und dann gezündet. In ähnlicher Weise feuerten die Taliban vor sieben, acht Jahren auch auf das Feldlager in Kundus.
Während die Soldaten in die Ferne schauen, kommen Kinder aus dem Dorf in der Nähe angelaufen. Sie lachen und umringen die Soldaten. Michael Peters wirkt befangen. Er weiß nicht so recht, was er machen soll. Er probiert es mit einem Lächeln und einem "Ça va?" (Wie geht's?). Die Kinder kichern. Dann verdeckt der Hauptfeldwebel einen Daumen mit der anderen Hand und als er den Blick darauf wieder freigibt, sieht es so aus, als wäre der Daumen entzweigebrochen. Der gute alte Daumentrick. Die Kinder brechen in Gelächter aus.
Jetzt wollen sie den deutschen Soldaten zum Lachen bringen. Ein Junge stampft mit den Füßen auf den Boden und singt dazu. Die Kinder blicken erwartungsvoll. Michael Peters soll mittanzen. Doch dazu lässt sich der Patrouillenführer nicht hinreißen. Tanzen mit dem Gewehr über der Schulter und kugelsicherer Weste am Leib – das erscheint ihm dann wohl doch zu albern. Mehr Verständigung ist allerdings nicht möglich – keiner der Soldaten spricht Französisch.
Nach einer Viertelstunde macht sich die Patrouille auf den Rückweg nach Gao. Im Juli wurden dort bei einer Demonstration drei Jugendlichen erschossen. Sie hatten dagegen protestiert, dass die Regierung nur ehemaligen Mitgliedern von Rebellengruppen Arbeit verschafft. Das ist Teil des Friedensvertrags. Diejenigen aber, die sich nicht am Aufstand beteiligten, sondern unter dem Krieg gelitten haben, werden von der Regierung ignoriert. Sie sind zum zweiten Mal die Verlierer.
Kurz vor der Stadt stoppt die Patrouille. Die Soldaten schauen durch ihr Visier am Gewehr. Es dient ihnen als Fernglas. Wurden in der Umgebung neue Straßen gebaut? Gibt es neue Häuser? Und gibt es irgendetwas Verdächtiges an der Einfahrt zur Stadt zu sehen?
Plötzlich nähern sich vier gepanzerte Geländewägen im dunklen Tarnfleck der Position der Objektschützer. Nur kurz kommt Unruhe auf. Dann gibt der Bordschütze mit Blick auf den Monitor Entwarnung. "Den Fahrzeugen nach zu urteilen müssten das Franzosen sein", sagt er.
Frankreich ist die ehemalige Kolonialmacht Malis und auf eigene Rechnung im Land. Die Franzosen bekämpfen Terroristen. Ihre Mission heißt Barkhane und ist strikt von Minusma getrennt. Dennoch sollten die deutschen Soldaten wissen, wer außer ihnen noch in der Region unterwegs ist. Koordination statt Kooperation heißt das Motto, wenn es um die Zusammenarbeit von Minusma und Barkhane geht. Die Truppen sollen sich absprechen. Zusammenarbeiten aber dürfen sie nicht.
Die Patrouille erreicht den Stadtrand. Die Häuser ducken sich hinter Lehmmauern, gelegentlich geben offene Tore Einblick in die Innenhöfe: Frauen kauern vor Kochtöpfen, Kinder spielen mit Bällen. Die Geschäfte an der Straße sind geschlossen und nur wenige Menschen unterwegs. Die Leere wirkt gespenstisch. Auch hier winken die Kinder zurück, die Erwachsenen erst nach längerem Zögern. Dann fliegt ein Stein auf den Dingo. Die Gespräche der Soldaten ersterben. Der Bordschütze sieht nun konzentriert auf seinen Bildschirm, die anderen starren aus dem Fenster. Droht ein Angriff? Ein Hinterhalt?
Doch nichts passiert. Ohne Zwischenfälle erreichen die Soldaten das Camp. Sie räumen die Dingos aus. Der Bordschütze putzt den Lauf des Maschinengewehrs und baut es ab. Die anderen kontrollieren das Fahrzeug. Die Löcher in den Straßen und der Wüstenboden beanspruchen Elektronik, Reifen und Stoßdämpfer sehr. Die Dingos müssen drei mal so oft in die Werkstatt wie in Deutschland. Die Klarstandsrate ist schlecht. Es dauere mitunter mehrere Monate, bis Ersatzteile nach Gao kommen, so Michael Peters.
Er wirkt ausgelaugt. Die Patrouille hat ihn und seine Soldaten angestrengt. Sie verschwinden in ihren Containern, um sich zu waschen und umzuziehen. Herausgefunden, was außerhalb der Mauern los ist, haben sie nicht wirklich. Nach dem Sinn des Einsatzes gefragt, zuckt Michael Peters mit den Schultern. "Darauf weiß ich keine Antwort", sagt er zögernd, so als wolle er sich das selbst nicht eingestehen. Ja, es sei schön zu sehen, dass die Kinder winkten, sagt er. Und: Es sei gut, Präsenz zu zeigen. "Aber meinen Verwandten daheim kann ich nicht erklären, warum ich in Mali bin und was wir hier erreichen wollen", sagt er.
Auch die Bevölkerung Malis ist zunehmend desillusioniert, sagt Ute Kollies, die Leiterin des Amtes für die Koordination humanitärer Angelegenheiten der UN in Bamako. Von Frieden merkten die Menschen in Mali wenig. Armut, tödliche Angriffe von Islamisten überall im Land, Schmiergeldzahlungen an illegalen Checkpoints – das sei für die Bevölkerung im Norden und zunehmend auch in der Mitte Malis Alltag. Der Frust steige – und die Wut auf die Regierung und die UN-Truppen, die nicht da sind, wenn sie gebraucht werden.
So wie am 19. Juli. An diesem Tag attackierten Angreifer mit 18 Fahrzeugen und mehreren Motorrädern ein Lager der malischen Armee in Nampala in der Mitte Malis. Sie töteten 15 Soldaten und brannten den Stützpunkt nieder. Zwei Wochen später veröffentlichte die islamistische Terrororganisation Ansar Dine ein Video. Es zeigt fünf entführte malische Soldaten als Gefangene vermummter Bewaffneter. Was mit den Soldaten inzwischen geschehen ist, weiß niemand.
Unter der Hand geben Offiziere der Bundeswehr zu, dass die Blauhelmsoldaten die Bevölkerung nur unzureichend schützen und der malischen Armee nur selten zur Hilfe kommen könnten, so wie es ihr Auftrag wäre. Mit 13.000 Soldaten, so sagen Offiziere der Bundeswehr, habe die UN zu wenig Manpower, um ein Gebiet, das drei mal so groß ist wie Deutschland, zu kontrollieren. Wenn sie zur Hilfe gerufen würden, bräuchten die Blauhelmsoldaten meist Stunden, um auf den schlechten Straßen ans Ziel zu kommen. Hubschrauber gibt es so gut wie keine. Der Unmut der Bevölkerung gegenüber einer Friedensmission, die sie nicht schützen kann und keinen Frieden bringt, wächst. So war es auch in Afghanistan. Wohin das geführt hat, wissen
viele Bundeswehrsoldaten genau.
wird Sanitätsmaterial aus der Transall entladen.
(Foto: Bundeswehr / Falk Bärwald / flickr)