Aus der loyal: Alte und neue Vorbilder
von Julia Egleder
Als Hauptfeldwebel Tobias Lagenstein am Nachmittag des 28. Mai 2011 das Feldlager in Kundus verlässt, weiß er, dass es gefährlich werden kann. Am Morgen erst hatten die Soldaten eine Trauerfeier für einen gefallenen Kameraden abgehalten. Trotzdem steht an diesem Tag ein Treffen mit dem nordafghanischen Polizeichef auf dem Programm von Generalmajor Markus Kneip, dem Kommandeur des deutschen Kontingents in Afghanistan. Tobias Lagenstein ist Kneips Personenschützer. Seine Aufgabe ist es, den General sicher zu seinem Treffen in die Stadt Taloqan 80 Kilometer östlich von Kundus zu bringen. Doch das Treffen mündet in einer Katastrophe. Im Foyer des Gouverneurssitzes in Taloqan, wo das Treffen stattfindet, explodiert eine Bombe. Sie gilt dem Polizeichef, der ebenso getötet wird wie vier weitere Afghanen. Zum Zeitpunkt der Explosion hielten sich auch Major Thomas Tholi, Kneips Adjutant, und Tobias Lagenstein in dem Foyer auf. Beide waren sofort tot.
Tobias Lagenstein ist der erste Feldjäger, der im Einsatz gefallen ist – und der erste, nach dem nun eine Kaserne benannt ist. Die Schule für Feldjäger und Stabsdienst in Hannover heißt seit März "Hauptfeldwebel-Lagenstein-Kaserne". Hier hätte der 31-Jährige nach der Rückkehr aus Afghanistan eine Stelle antreten sollen. Die Kaserne liegt am Rand von Hannover, mitten in einem Gewerbegebiet zwischen Möbelhäusern und Filialen von Fast-Food-Ketten. Jährlich kommen rund 8.000 Lehrgangsteilnehmer dorthin, vor allem um zum Militärpolizisten oder zum Spieß ausgebildet zu werden. Bis zum Frühjahr hieß der Stützpunkt noch Emmich-Cambrai-Kaserne. Otto von Emmich war ein Heeresgeneral im Ersten Weltkrieg. Außerdem erinnert der Name an die Schlacht von Cambrai, wo deutsche Truppen im Jahr 1917 einer britischen Panzeroffensive standhielten. Emmich und Cambrai – das fand die Bundeswehr damals passend. Ehe vor neun Jahren die Schule für Feldjäger und Stabsdienst in der Kaserne eingerichtet wurde, war dort knapp 40 Jahre lang die Heeresoffiziersschule untergebracht. Zehntausende angehende Offiziere durchliefen hier ihre Ausbildung.
"Lagenstein steht für Einsatzbereitschaft, Pflichtgefühl und Tapferkeit"
"Mit dem Namen Emmich-Cambrai können junge Soldaten heute nichts mehr anfangen", sagt Schulkommandeur Dirk Waldau. Bei der Begrüßung der neuen Lehrgangsteilnehmer habe er regelmäßig in unverständige Gesichter geschaut, wenn er den Kasernennamen zu erklären versuchte, berichtet der Oberst. Nun sei das anders: Vor allem die jungen Feldjäger könnten sich mit Lagenstein sehr gut identifizieren. "Lagenstein steht für Einsatzbereitschaft, Pflichtgefühl und Tapferkeit. Das sind Werte, die für unsere Soldaten wichtig sind", sagt Waldau. Während der feierlichen Zeremonie zur Namensänderung Ende März sagte Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen über Lagenstein: "Er war und ist ein Vorbild. Ich kann mir keinen besseren Namensgeber für die Kaserne vorstellen." Lagenstein stehe stellvertretend für die vielen Tausend Einsatzsoldaten der Bundeswehr, die fern der Heimat Gesundheit und Leben riskierten.
Um an Tobias Lagenstein zu erinnern, sollen drei Stelen auf dem zentralen Platz der Kaserne aufgestellt werden. Außerdem gibt es eine Ecke in der militärhistorischen Sammlung und eine Vitrine am Eingang des Scharnhorstsaals – dem zentralen Veranstaltungssaal. Die Vitrine zu Lagensteins Leben und Sterben hängt gegenüber derjenigen für Scharnhorst. Preußischer Heeresreformer und gefallener Bundeswehrsoldat – für die Soldaten in Hannover geht das gut zusammen. Sie waren es, die eine Umbenennung der Kaserne wollten und verschiedene Namensvorschläge sammelten. Schließlich entschieden sie sich für Lagenstein. Danach mussten noch die Stadt Hannover und die Hinterbliebenen Lagensteins ihr Einverständnis geben.
"Ich finde den Namenswechsel gut. Mit Emmich und Cambrai konnte ich nichts anfangen", sagt Tom Fabert, ein junger Oberleutnant, der an der Schule für die Englischausbildung zuständig ist. Die Diskussion um den Kasernennamen gehe aber am eigentlichen Problem der heutigen Bundeswehr vorbei. Für ihn bestehe dieses Problem darin, dass die soldatische Identität verloren gehe. Der Truppenalltag käme bei der Offiziersausbildung zu kurz, sagt er. Junge Offiziere wie er würden soldatische Tugenden wie Kameradschaft, Einsatzbereitschaft oder Pflichtbewusstsein nicht mehr erleben und erlernen. "Wie sollen wir Offiziere später Vorbilder für unsere Untergebenen sein, wenn wir das typisch Soldatische nie erfahren haben?", sagt er.
Eigene Erfahrungen wichtiger als der Kasernenname
Stabsfeldwebel Achim Romstedt, Vertrauensperson an der Schule, pflichtet ihm bei. Für junge Soldaten seien nicht die Namensgeber einer Kaserne oder "von oben vorgegebene Vorbilder" wichtig, sondern ihre eigenen Erfahrungen. Doch die Entwicklungen der vergangenen Jahre hätten dazu geführt, dass die bisherigen Respektspersonen, etwa der Spieß oder der Kompaniechef, an Stellenwert verloren hätten. "Früher kam der Spieß gleich nach Gott", sagt Romstedt. Spieß wurde, wer schon lange gedient hatte und ein erfahrener, vorbildhafter Soldat war. Doch heute würden immer mehr jüngere Soldaten auf diese Posten gelangen. "Zu Vorbildern taugen die nicht", sagt Achim Romstedt. Generell kritisiert er die abnehmende Identifikation mit dem Beruf des Soldaten bei jüngeren Bundeswehr-Angehörigen: "Die kommen wegen des Geldes und wegen der geregelten Arbeitszeiten."
Noch acht Kasernen mit umstrittenen Namen
Seit 1993 hat die Bundeswehr 26 Kasernen umbenannt. Meist waren sie nach Weltkriegsschlachten oder Soldaten aus der Kriegszeit benannt. Doch bereits im Traditionserlass von 1982 wird die Ablehnung des NS-Regimes klar: "Ein Unrechtsregime wie das Dritte Reich kann Tradition nicht begründen", heißt es darin. Also wurden Weltkriegsgenerale etwa durch neutrale Ortsbezeichnungen ersetzt. Als Beispiel dafür steht die Kaserne in Bad Reichenhall. Sie war früher nach Rudolf Konrad, einem General der Gebirgstruppe im Dritten Reich, benannt. Heute ist die Kaserne nach dem Bad Reichenhaller Hausberg, dem Hochstaufen, benannt. Seit der Umbenennungswelle gibt es noch acht Kasernen mit umstrittenen Namen. Dazu zählen die Feldwebel-Lilienthal-Kaserne in Delmenhorst, die Mudra-Kaserne in Köln oder die Ernst-Moritz-Arndt-Kaserne im mecklenburgischen Hagenow.
Im Frühjahr dieses Jahres hat Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen einen neuen Traditionserlass inkraftgesetzt. Noch stärker als sein Vorgänger bricht dieser Erlass mit der Wehrmachtsgeschichte. Professionelles Können allein reiche nicht aus, um heute als Vorbild geehrt zu werden, heißt es darin etwa. Traditionsstiftend könne nur sein, wer sich auch für Werte eingesetzt habe, die in der Bundeswehr heute gelten. Wehrmachtsangehörige könnten nur unter ganz engen Voraussetzungen vorbildhaft sein, etwa wenn sie Widerstandskämpfer gegen das NS-Regime waren oder wenn sie sich später um den Aufbau der Bundeswehr verdient gemacht haben. Wehrmachtspiloten wie Helmut Lent oder Hans-Joachim Marseille zählen nicht dazu. Und doch sind noch immer zwei Kasernen nach ihnen benannt. Verteidigungsministerin von der Leyen hatte im September 2017 deutlich gemacht, dass sie das unpassend findet. Lent und Marseille seien nicht mehr "sinnstiftend für die heutige Bundeswehr" und gehörten "zu einer Zeit, die für uns nicht vorbildgebend sein kann", sagte sie.
Nicht mehr viel zu finden von Marseille
Nach langer und kontroverser Diskussion haben sich die Soldaten und Gemeindevertreter in Rotenburg/Wümme für die Umbenennung der Lent-Kaserne entschieden. Derzeit suchen sie nach einem neuen Namen. Wie aber sieht es bei der Marseille-Kaserne in Appen aus? Dort wurden früher Fluganwärter der Luftwaffe ausgebildet. Der Name Marseille, ein Fliegerass der Wehrmacht, das in Nordafrika so viele Abschüsse wie kein anderer deutscher Pilot erzielte, erschien der Bundeswehr damals passend. Die nationalsozialistische Propaganda gab ihm den Namen "Stern von Afrika". Seit 1988 ist in der Kaserne jedoch die Unteroffizierschule der Luftwaffe untergebracht und seitdem gibt es dort keine Piloten mehr, die sich mit einem historischen Fliegerass identifizieren könnten. Vor Ort ist deshalb auch nicht mehr viel zu finden, das an den Namensgeber erinnert. Es gibt lediglich einen Gedenkstein vor dem Stabsgebäude, auf dem "Hauptmann Hans-Joachim Marseille. 1./ Jagdgeschwader 27, geboren 13. Dezember 1919 in Berlin, Fliegertod am 30. September 1942 bei el Alamein/Nordafrika" geschrieben steht.
Oberst Michael Skamel, Kommandeur der Unteroffizierschule, ist bewusst, dass der Name der Kaserne dem neuen Traditionsverständnis widerspricht. Dennoch will er von einer sofortigen Umbenennung nichts wissen. "Generationen von Unteroffizieren der Luftwaffe kennen die Kaserne unter diesem Namen", sagt er. Er wolle die Debatte um den Kasernennamen daher behutsam führen. Für das kommende Jahr plant er, beim Stammpersonal eine Diskussion anzuregen, ob die Schule am alten Namen festhalten oder umbenannt werden soll. Eine Anweisung aus Berlin gibt es dazu allerdings nicht. Das Verteidigungsministerium will, dass die Soldaten selbst zu einer Entscheidung kommen.
"Warum nennen wir die Kaserne nicht einfach nur 'Unteroffizierschule der Luftwaffe'"?, fragt Christian D., Hörsaalleiter in Appen und seit 34 Jahren Soldat. Auch Annika Korb, eine 23-jährige Lehrgangsteilnehmerin, ist für eine Umbenennung. "Ich kannte Hans-Joachim Marseille vor der Ankunft hier nicht", sagt die junge Frau, die bis vor Kurzem als Flugbegleiterin bei Air Berlin gearbeitet hat und sich jetzt zum Lufttransportfeldwebel für die Flugbereitschaft in Köln ausbilden lässt. Ein neutraler Name sei besser, findet sie. "Marseille lebte in einer ganz anderen Zeit, außerdem sind wir keine Piloten. Ein Vorbild ist er für mich ganz sicher nicht", sagt auch Benjamin B., Lehrgangsteilnehmer und Stabsunteroffizier.
Anders als die Soldaten in Hannover können sich Annika Korb, Christian D. und Benjamin B. mit den Entwicklungen der vergangenen Jahre in der Bundeswehr arrangieren. "Menschen erwarten heute einfach Fernseher oder Handyempfang auf den Stuben. Auch die geregelten Arbeitszeiten und der Umgang auf Augenhöhe macht die Bundeswehr als Arbeitgeber erst attraktiv", sagt Christian D. In Appen selbst gibt es bisher keine nennenswerte Kritik an der derzeitigen Namensgebung. Die meisten Einwohner dächten beim Namen der Kaserne nicht an einen Jagdflieger des Zweiten Weltkriegs, sondern an die südfranzösische Stadt Marseille, sagt Bürgermeister Hans-Joachim Banaschak. Auch im Gemeinderat sei der Kasernenname kein Thema. Stattdessen spricht Banaschak viel lieber über die gute und enge Beziehung mit den Soldaten. Erst kürzlich habe die Gemeinde als Ausdruck ihrer Verbundenheit mit der Truppe Schilder mit gelben Schleifen an den Zufahrtsstraßen des Ortes aufgehängt. "Für welchen Namen sich die Soldaten auch entscheiden, wir werden den Entschluss mittragen", sagt Banaschak.
Die Hauptfeldwebel-Langenstein-Kaserne in Hannover.
(Foto: Julia Egleder)
Zweites Bild:
Tobias Lagenstein (1980-2011) war Feldjäger und Personenschützer
bei der Bundeswehr. In seinem vierten Auslandseinsatz starb er bei
einem Bombenanschlag auf das Gebäude des Provinzgouverneurs in
Taloqan/Afghanistan. Nachdem seine Hinterbliebenen zugestimmt hatten,
bekam die frühere Emmich-Cambrai-Kaserne in Hannover seinen Namen.
Es handelt sich dabei um die erste Kaserne, die nach einem im Einsatz
gefallenen Bundeswehrsoldaten benannt wurde.
(Foto: Bundeswehr)
Drittes Bild:
Die Marseille-Kaserne in Appen.
(Foto: Huhu Uet via wikipedia)
Bild unten:
Hans-Joachim Marseille (1919-1942) war Kampfpilot im Zweiten Weltkrieg.
Er stammte aus einer alten Hugenottenfamilie und meldete sich 1938
freiwillig zur Luftwaffe. Über Nordafrika schoss er pro Luftkampf zwei bis fünf
feindliche Flugzeuge ab, weshalb er von der nationalsozialistischen Propaganda
als "Stern von Afrika" gefeiert wurde. Adolf Hitler persönlich überreichte ihm das
Ritterkreuz. Am 30. September 1942 stürzte Marseille über Ägypten ab.
(Quelle: Bundesarchiv)