Auf den „Hotspot Ostsee“ blickte der Reservistenverband bei seinem Side-Event im Rahmen der Münchner Sicherheitskonferenz. Der estnische Verteidigungsminister Hanno Pevkur und sein finnischer Amtskollege Mikko Savola, Flottillenadmiral Sascha Helge Rackwitz, Kommandeur der Einsatzflottille 1, und Prof. Dr. Sönke Neitzel, der renommierte Militärhistoriker, betrachteten die strategische Dimension der maritimen NATO-Ostflanke. Nach einer Hinleitung zum Thema und der Vorstellung der Podiumsgäste durch Vizepräsident Oberst a.D. Joachim Sanden, moderierte Verbandspräsident Oberst d.R. Prof. Dr. Patrick Sensburg die Podiumsdiskussion im Literaturhaus, unweit des Hotels Bayerischer Hof, wo an diesem Wochenende zahlreiche Entscheidungsträger aus der Sicherheits- und Außenpolitik zur weltweit führenden Konferenz in diesem Bereich zusammenkamen.
Spätestens mit dem völkerrechtswidrigen Überfall Russlands auf die Ukraine hat die sicherheitspolitische Architektur nicht nur in Osteuropa eine einschneidende Veränderung erfahren. Damit geht auch die Angst einher, dass sich die hegemonialen Ansprüche Russlands bis an die Ostsee (und darüber hinaus) erstrecken könnten. Dies treibt nicht nur die baltischen Staaten um, sondern hat letztendlich auch zum NATO-Beitrittswunsch Schwedens und Finnlands geführt. „28 von 30 Ländern haben uns bereits ratifiziert“, freute sich Savola, der von 2013 bis 2016 auch Präsident der finnischen Reservistenvereinigung war. Mit den Ungarn werde es kommenden Monat ein Treffen in Brüssel geben und auch die Türkei werde sich „hoffentlich bald“ bewegen. „Wir bereiten uns darauf vor, von Tag 1 an einsatzbereit zu sein.“
„Nicht nur auf die Oberfläche fokussieren“
Mit dem Oblast Kaliningrad und der Region St. Petersburg verfügt Russland über zwei Küstenabschnitte, mit denen aufgrund der dort stationierten Streitkräfte ein nahezu uneingeschränktes Wirken gegen den militärischen, aber auch gegen den zivilen See- und Luftverkehr möglich ist. Der estnische Verteidigungsminister Hanno Pevkur sieht die größte Gefahr jedoch in der hybriden Bedrohung. „Wir dürfen uns nicht nur darauf fokussieren, die Oberfläche zu kontrollieren, sondern vielmehr auf das, was darunter ist, wie beispielsweise Kommunikationsleitungen.“ Dabei dürfe man die maritimen Aspekte der Ostsee jedoch nicht isoliert betrachten. „Die Dimension Land wird immer die wichtigste sein. Doch wer das Land kontrollieren will, muss eben auch Kontrolle über die See haben.“
Auch für Flottillenadmiral Sascha Helge Rackwitz muss der sicherheitspolitische Fokus größer als nur der Ostseeraum sein. „Die Seekontrolle beginnt in der Chesapeake Bay [Flussmündung zwischen Virginia und Maryland] und geht über den Nordatlantik und an den Britischen Inseln vorbei bis in die Ostsee, die wir dann als strategische Verlängerung der Landmasse betrachten können.“ Auch der Kommandeur der Einsatzflottille 1 sieht die größte Bedrohung unter der Wasseroberfläche und misst dem „seabed warfare“ eine immer größere Bedeutung bei. Zwar könne man die Ostsee schon heute kontrollieren, allerdings sei für die NATO-Staaten eine gemeinsame permanente Abschreckung unumgänglich.
Fehlendes kulturelles Verständnis
Dass die Ostsee – historisch betrachtet – schon immer ein entscheidender Raum war, ordnete Historiker Prof. Dr. Sönke Neitzel ein. Im Kalten Krieg sei das Meer offenbar Deutschlands Schwachstelle gewesen. Aber: Bis zum vergangenen Jahr hätte man im Westen die russische Armee doch ziemlich überschätzt. Eine sich wiederholende Aussage wirke stetig: „Putins Drohung mit einem Atomschlag funktioniert hier sehr gut. Das gelingt Putin aber auch nur, weil wir nur sehr wenig kulturelles Verständnis von Russland haben.“
Estlands Verteidigungsminister beschreibt Putins Haltung so: „Wir haben ein Problem damit, wenn ein Soldat fällt. Für ihn sind das nur Nummern auf Papier. Ihn stört das auch nicht, wenn 100.000 fallen.“ Aber Putin wisse sehr wohl, dass der Einsatz von Nuklearwaffen Konsequenzen hätte. „Der Kreml bildet Narrative und verbreitet Fake News. Sie spielen Poker“, sagte Hanno Pevkur. „Die Abschreckung seitens der NATO muss so gut, dass, wenn sich der Kreml das genauer anschaut, sie keine Lust mehr haben zu pokern.“
„Freiheit hat keinen Preis“
Aber wie kommen wir da hin? „Mehr Geld ausgeben! Wenn jeder das Zwei-Prozent-Ziel erfüllen würde, hätten wir auf einen Schlag 100 Mrd. Euro mehr im NATO-Etat“, sagte Pevkur. Am liebsten wären ihm sogar 2,5 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Die Mittel dann sinnvoll einzusetzen, erfordere politische Führung. Und klare Vorgaben an die Rüstungsindustrie, etwa die gegenseitige Kompatibilität von Munition. „In den europäischen Streitkräften haben wir zwischen 150 und 170 Waffensysteme, in Amerika gibt es 34. Aber ich bin optimistisch, immerhin haben sich die EU-Staaten zuletzt auch auf ein einheitliches Handyladekabel geeinigt.“ Am Ende macht Pevkur die recht simple Kosten-Nutzen-Rechnung auf: „Wenn wir Resilienz und Abschreckung wollen, dann müssen wir Geld in die Hand nehmen. Freiheit hat keinen Preis!“
Neben den Zuschauern im Live-Stream waren auch rund 40 Gäste vor Ort in München zu Gast bei dem von Vizepräsident Oberst a.D. Joachim Sanden und seinem Team organisierten Event. Die komplette Podiumsdiskussion gibt es hier in voller Länge als Video-Mitschnitt: