Der „Eiserne Vorhang“ Altersgrenze: Wie wär’s mit neuen Wegen?
Die Berichterstattung darüber, was Reservistinnen und Reservisten ab 65 Jahre, also ab Erreichen der besonderen Altersgrenze wissen müssen, hat viele Mitglieder bewegt. Oberst d.R. Helmut Michelis hat den in der Aprilausgabe erschienen Fragenkatalog zum Anlass genommen und seine Gedanken zu Thema aufgeschrieben. Ein Essay.
Mit Besorgnis beobachte ich die gegenwärtige Diskussion um die über 65-jährigen Reservisten, zumal ich „ganz plötzlich und unerwartet“ seit einigen Monaten selbst dazu gehöre. Berufsarmee und Ehrenamt offenbaren in dieser Frage scheinbar unüberbrückbare Gegensätze: Die „Firma“ Bundeswehr argumentiert kühl und mit starkem Bedürfnis zur juristisch perfekten Regelung. Das passt zum Stil eines allgemein üblichen Managements, das sämtliche denkbaren, auch unwahrscheinlichen Risiken ausschließen will und deshalb deutlich weniger um eine positive Außenwirkung und die Stimmung dieser enttäuschten Ehemaligen bedacht ist.
Sehr häufig ist es in unseren Reihen doch so: Schon nach den ersten Lockerungen der Wehrpflicht war jedes Engagement als Reservist für die Bundeswehr freiwillig. Man leistete Dienst aus Überzeugung ähnlich eines Engagements bei der Freiwilligen Feuerwehr oder in einem am Herzen liegenden Verein und wundert sich dann, warum wegen einer bloßen Zahl dann abrupt Schluss sein soll.
Für die betroffenen Reservisten geht es also mehr um weiche Faktoren, dem Gefühl, doch weiter gebraucht werden zu wollen und nicht zuletzt um den Wunsch, wertgeschätzt zu werden und sich weiter mit soldatischem Hintergrund engagieren und zeigen zu können. Da trifft die juristische Einordnung im Status Zivilist oder Gast für die über 65-Jährigen schon vom Begriff her ins Mark. Zivilist? Bäh! Einmal Soldat, immer Soldat. Und die Abschaffung der Reservistenkordel hat die Gräben erst recht aufgerissen.
Da steht es nun schwarz auf weiß: Die Älteren sind von Dienstlichen Veranstaltungen (DVag) selbst als Helfer endgültig ausgeschlossen. Vielleicht war das juristisch schon immer so, es wurde aber zumindest in meinem Umfeld anders gelebt und hat manche große DVag personell am Leben gehalten. Die über 65-Jährigen haben ihr militärisches Wissen (wie um die Organisation eines Schießens oder eines Marsches) doch nicht plötzlich vergessen. Und sie haben – einen unschätzbarer Vorteil gegenüber berufstätigen Kameraden – viel planbare Freizeit, zum Beispiel, wenn es um die Vorbereitung von komplexeren Veranstaltungen geht. Für den Reservistenverband wird damit die vertiefte Grenzziehung vielleicht sogar zur Überlebensfrage: Was soll ich als Älterer noch in einer Umgebung, die mich erklärtermaßen nicht mehr will? „Sagen Sie mal was dazu“, haben mich meine Kameraden deshalb aufgefordert.
Ja, aber auch wenn es weh tut, geht es zunächst einmal um die Schlüsselfrage: Gibt es überhaupt einen Bedarf für die über 65-jährigen Freiwilligen in und um die Bundeswehr? Jeder Einzelfall ist anders, doch im Groben vielleicht so zu skizzieren: Braucht man ältere Reservisten, die nicht mehr die Trainiertheit eines 19-jährigen Panzergrenadiers, wohl aber einen breiten militärischen Erfahrungsschatz besitzen? Die offizielle Antwort aus dem Ministerium lautet kurz und knapp: Nein. Meine Erfahrungen sind da gänzlich anders. Gleich mehrere Dienststellen hätten mich gern weiter als Reservist eingesetzt, erst recht jetzt in Zeiten der Pandemie, stellten aber bei dem Versuch schnell resigniert fest: Das geht grundsätzlich nicht, sogar Ausnahmeregelungen existieren erstaunlicherweise nicht. Funktioniert also der Meldeweg nach oben nicht? Oder bin ich (im Bereich Presse- und Öffentlichkeitsarbeit) bloß eine Ausnahme? Ich bin jedenfalls freiwillig bereit, mich weiterhin in den Dienst unserer Bundesrepublik Deutschland zu stellen und würde das natürlich am liebsten in meinem gewohnten Umfeld tun.
Neuer Status Zivilreservist?
Was spricht eigentlich dagegen, die alte Altersgrenze zu überprüfen? Im Laufe meiner 46 Jahre in der Bundeswehr habe ich erlebt, dass sich alle möglichen, angeblich unverrückbaren Grenzen immer wieder der Lage angepasst, also verändert haben: die jetzt je nach Dienst und Einsatz sinnvoll abgestuften Tauglichkeitskriterien, die Erweiterung der Teilnahme an Wehrübungen von 60 auf das 65. Lebensjahr, die vereinfachte Uniformtragerlaubnis, um nur drei Beispiele zu nennen. Warum sollte es also nicht möglich sein, die Altersgrenze auf 67 erhöhen, wie es auch beim Renteneintritt längst geschehen ist? Oder gleich auf 69, wenn ich mir die Senioren in meinem Fitness-Studio so anschaue? Warum diese Grenze nicht komplett aufheben, wie es bei den Ehrenamtlichen im Technischen Hilfswerk bereits seit 2013 der Fall ist, wo längst allein Bedarf, Bereitschaft und Gesundheit zählen? Warum nicht den Status eines „Zivilreservisten“ (ein schönerer Begriff lässt sich gewiss finden) einführen, der analog der Wehrverwaltung des Bundes seinen Dienst auf Zeit in Stäben, militärischen Behörden oder Landeskommandos weiter leistet?
Und was das Teilnahmeverbot an DVag angeht: Diese Regelung führt am Rande zu der absurden Situation, dass solche Veranstaltungen zwar mit offizieller Unterstützung beispielsweise durch das Technische Hilfswerk oder Rettungsdienste durchgeführt werden dürfen, über 65-jährige Reservisten aber diesen Organisationen beitreten müssten, um weiterhin unterstützen zu können. Zählt da eine Reservistenverbands-Mitgliedschaft nicht? Zu allerletzt: Wenn die gut gemeinte Abschaffung der Reservistenkordel sich für die über 65-Jährigen doch als Bärendienst erwiesen hat: Warum nicht den Mut aufbringen, sie wieder einzuführen oder eben ein anderes Kennzeichen wie ein graues Barett oder andersfarbige Dienstgradabzeichen für Veteranen, wenn es der aktiven Truppe so wichtig ist, unterscheiden zu können. Oder wäre eine Art Arbeitsdress im Stile einer feldtauglichen Reservistenverbands-Dienstbekleidung im historischen Oliv ein möglicher Weg?
Kameradschaft grenzt nicht aus
Bleibt die provokative Frage, ob es sich Bundeswehr und Verband angesichts der sicherheitspolitischen Entwicklungen und einer schrumpfenden Bevölkerung leisten wollen, auf mutmaßlich Tausende freiwilliger und tatendurstiger Grauhaariger zu verzichten. Klar, einfacher ist es aus bürokratischer Sicht allemal. Aber gibt es für die über 65-Jährigen wirklich keine sinnvolle Verwendung mehr außer als Geschichtenerzähler beim Kameradschaftsabend? Ich hoffe, dass sich unsere Verbandsführung mit aller Macht für die treuen langjährigen und engagagierten Mitglieder einsetzt – als eindeutiges Signal im Sinne der mit Recht stets intensiv beworbenen Kameradschaft, die niemanden ausgrenzt.