Die Arktis: Ein neues Konfliktgebiet?
Wer in den vergangenen Jahren auf die Sicherheitslage in der Arktis blickte, musste sich Sorgen machen. Der ehemalige Außenminister der USA verurteilte wortstark russische und chinesische Aggressionen in der Arktis, US Marines und strategische Bomber wurden nach Norwegen verlegt, Russland testete nuklearbetriebene Cruise Missiles nur wenige Kilometer vom Nordkap entfernt und es kursierten Gerüchte, dass China Häfen in der Arktis infiltriert. So überrascht es nicht, dass viele Beobachter sagten, die friedlichen Tage der Region seien gezählt.
Aber wird der hohe Norden tatsächlich zum neuen Konfliktgebiet, wie es die politische Sprache der jüngsten Vergangenheit befürchten lässt? Offenbart das schmelzende Eis neue Gefahren für unsere Sicherheit? Die Reserveoffiziere der NATO haben sich online getroffen, um diese Fragen mit einigen hochrangigen internationalen Experten zu diskutieren.
Statt des Murmelns eines erwartungsvollen Publikums, startete das jüngste CIOR-Seminar mit einem Klick und einem Brummen der Lautsprecher an den Laptops der Teilnehmer. Oberstleutnant d.R. Hans Garrels (Niederlande), Vorsitzender des CIOR-Seminar-Komitees, hieß die 64 Teilnehmerinnen und Teilnehmer aus 19 Nationen aus seinem Home Office willkommen. Aufgrund der Coronavirus-Restriktionen fand das diesjährige Seminar der Interallied Confederation of Reserve Officers – dem Zusammenschluss der NATO-Reserveoffiziere, welche unter ihrem französischen Akronym CIOR bekannt ist – online statt. Das hielt die Teilnehmerinnen und Teilnehmer nicht davon ab, sich in eine Region zu vertiefen, mit der die wenigsten bisher Berührungspunkte hatten: der Arktis.
Die Ausgangslage
Der ehemalige Botschafter und langjährige CIOR-Freund Philippe Welti aus der Schweiz führte die Seminar-Teilnehmer in das Thema ein und erinnerte sie an die besondere Beschaffenheit der Region: „Die Arktis besteht hauptsächlich aus Wasser, etwas davon ist gefroren.“ Tatsächlich handelt es sich bei der Arktis um den kleinsten Ozean der Welt und um eine Region, die historisch gesehen wenig Konfliktpotenzial hervorgebracht hat, obwohl sie während des Kalten Krieges schwer militarisiert wurde. In jüngster Vergangenheit geriet die Region allerdings wieder in den Fokus von Militär- und Sicherheitsexperten aus der ganzen Welt und in den Strudel einer politischen Sprache, die befürchten lässt, dass die friedlichen Zeiten der Arktis vorbei sind.
Diese Veränderung nimmt ihren Ursprung in einem Umstand, der die strategische Balance im hohen Norden auf die Probe stellt: Der Klimawandel. Die schmelzenden Eiskappen offenbaren bisher unerreichbare natürliche Ressourcen und machen die Region zugänglich für deren Abbau und die Transportwege auf dem Land und zu Wasser. Mögliche Veränderungen der strategischen Gleichung der Arktis.
Natürliche Ressourcen sind “überlebenswichtig”
So startete das Seminar mit einer Überraschung. Die Experten waren sich größtenteils einig, dass der Hype über nahezu unbegrenzte Bodenschätze in der Arktis übertrieben wäre. Jedenfalls beim Öl. Wie Nikos Tsafos, Deputy Director und Senior Fellow des Center for Strategic and International Studies (CSIS) sagte: „Die großen Pläne für arktische Ölförderung würden von den Veränderungen des Ölmarktes und den fallenden Preisen zunichte gemacht.“ Ölförderung in der Arktis ist schlicht nicht profitabel. In Russlands Fall kommen noch die Sanktionen nach der Invasion der Krim hinzu, die diese Vorhaben unter zusätzlichen finanziellen Druck nehmen.
Das trifft jedoch nicht auf Erdgas zu. Seit die Eiskappen schmelzen und neue Gasfelder zugänglich machen, hat Russland große neue Projekte zur Gasförderung in der Arktis begonnen. Auf dem Seeweg wird dieses Gas als LNG-Gas aus Arktishäfen exportiert und auf dem Land via Pipeline nach Europa gebracht. Tsafos zeigte den Seminar-Teilnehmerinnen und -Teilnehmern die strategische Relevanz dieser Projekte auf: „All die Projekte die uns aufregen, Nord Stream, Nord Stream 2, die Pipelines durch die Ukraine, all das ist Gas aus der Arktis.“ Interessanterweise scheint Russlands Drang nach Norden jedoch weniger aufgrund ökonomischer Ambitionen forciert zu werden, sondern vor allem aufgrund von Notwendigkeit, wie Tsafos erklärte: „Der geologische Abbau der älteren Gasfelder ist so rasant, dass sie immer weiter nach Norden müssen, nur um ihre Produktionszahlen stabil zu halten. Der Schritt nach Norden ist eine Überlebensfrage für Gazprom und den russischen Staat.“
Die arktische Supermacht und ihre Militärpräsenz
Ein interessanter Einblick in ein Land, das sich historisch gesehen als arktische Supermacht sieht. Und das nicht zu Unrecht, wie der Experte Dr. Baev, Research Professor beim Peace Research Institute in Oslo (PRIO) und Senior Non-Resident Fellow beim Brookings Institute, aufzeigte: „Im Rest der Welt mag Russland nicht in der Lage sein mitzuhalten, aber in der Arktis sind sie die regionale Supermacht und sie sind durchaus stolz darauf.“
Dr. Baev sieht zwei Hauptlinien russischer Außenpolitik in der Arktis: Erstens ein großes Engagement bei der ökonomischen Entwicklung der Region und zweitens den militärischen Ausbau. In letzterem Punkt sieht Dr. Baev zwei Herausforderungen in der Arktis. Die nukleare Super-Konzentration auf der Kola Halbinsel, in direkter Nachbarschaft zum NATO-Mitglied Norwegen und EU-Mitglied Finnland und den Umstand, dass sich Russland in einer konfrontativen Haltung wohlzufühlen scheint und den Willen aufzeigt gewisse Risiken einzugehen: „Zusammenarbeit hat in der Vergangenheit für Russland wenig erreicht, aber militärische Stärke schon. In diesem Sinne sieht Russland seine Risikobereitschaft als strategischen Vorteil gegenüber einem zurückhaltenden Westen.“
Dr. Baev warnte außerdem vor einer Krim-ähnlichen Annexion des norwegischen Territoriums Svalbard als ein mögliches Beispiel dieser Risikobereitschaft. Er bezweifelte dabei die Fähigkeit der NATO, die Inselgruppe zu schützen oder gar zurückerobern zu können, sollte dies notwendig werden. Dr. Christoph Humrich von der Universität Groningen wandte sich auch mit warnenden Worten an die Teilnehmerinnen und Teilnehmer: „Wenn man in Russland den Eindruck erweckt, dass man in die Arktis eindringt, gehen im Kreml die Alarmglocken an.“
siehe auch: loyal 02/21 – Unsicherheit am Polarkreis
Der Sicherheitspolitik-Experte Dr. Michael Paul von der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) in Berlin illustrierte das Sicherheits-Paradox der Region. 2008 startete Russland nach dem Georgienkrieg seine strategischen Patrouillenflüge über der Arktis neu und befahl seiner Nordflotte, die Arktische See verstärkt zu patrouillieren. Seitdem reagiert das Land drastisch auf NATO-Aktivitäten in der Region. Als die USA strategische Bomber nach Norwegen verlegten, regierte Russland, indem sie ein Testgebiet für sein Raketenprogramm in der strategisch wichtigen Bear Gap, zwischen dem Nordkap und Svalbard, einrichteten. „Die Arktis ist nicht mehr immun, was den Wettstreit der Großmächte angeht“, schloss Dr. Paul.
Die Experten waren sich einig, dass ein offener und ehrlicher Dialog mit der arktischen Supermacht Russland der beste Weg wäre, um das Konfliktpotenzial der Region zu reduzieren. Die Arktis würde sich dazu anbieten, da es viele und günstige Gelegenheiten zur Kooperation gäbe. Dr. Humrich berief sich auf die Nord Stream Pipelines, um dies zu illustrieren; ein Projekt das vor allem die USA als Bedrohung für die europäische Sicherheit sehen: „Wir schauen oft auf Nord Stream und sagen, dass wir damit neue Abhängigkeiten von Russland schaffen. Wir vergessen aber gerne, dass Russland auch von uns abhängen würde – als Kunde.“
Spill Over
Wenn man an Konflikte in der Arktis denkt, hat man oftmals ein Szenario vor Augen in dem Streitkräfte im hohen Norden in Konflikt geraten und sich dieser Konflikt auf andere Regionen ausbreitet. Tatsächlich waren sich die Experten einig, dass das gegenteilige Szenario derzeit viel wahrscheinlicher ist. Dr. Humrich sagte dazu: „Konflikte in anderen Regionen hätten wahrscheinlich Ausstrahlungseffekte auf die Arktis.“ Dr. Duncan Depledge, Senior Lecturer in Geopolitics and Security von der Loughborough University schloss sich an und verwies auf ein Gebiet, dass derzeit im Fokus der NATO liegt: „Eine Krise im Baltikum hätte zweifelsohne Auswirkungen auf die Arktis als große Nachschublinie.“
Freier Durchgang
Genau diese Nachschublinie macht die Arktis für die NATO zunehmend wichtig, da sie eine potenziellen Weg für US-Kräfte zu ihren europäischen Verbündeten darstellt. Dr. Depledge wies aber nicht nur auf die militärische Relevanz der Passage durch den Arktischen Ozean hin, sondern auch auf ihre wirtschaftliche: „Die Arktis verbindet zunehmend die USA mit dem Rest der Welt. Die USA schauen also auf die Arktis als einen Ort, an dem sie freien Durchgang sichern wollen.“ Auch für Russland ist das ein Kernanliegen. „Aus militärischer Perspektive ist was sie nicht wollen, a) Einkreisung und b) einen Kampf in der russischen Arktis. Was sie also tun, ist Kräfte in den Nordatlantik ausstrahlen zu lassen“, sagte Dr. Depledge. Das sei aber nicht unbedingt Russlands Schwerpunkt in der Region.
Wie Nikos Tsafos die Teilnehmerinnen und Teilnehmer erinnerte, basieren die russischen Gas-Projekte in der Arktis – und besonders sein LNG-Projekt – auf dem sicheren Schiffstransport. Dies unterstützt das Land nicht nur mit großen Steuererleichterungen für die Förderfirmen – allen voran Gazprom – sondern stellt den Privatunternehmen auch Eisbrecher-Schiffe zur Verfügung, wovon einige sogar nuklearbetrieben sind.
China in der Arktis
Der Blick auf die Schifffahrt rückte eine weitere Großmacht in den Fokus der Seminarteilnehmer: China. Der Experte Nikos Tsafos wies darauf hin: „Die LNG-Entwicklung im hohen Norden wurde größtenteils durch chinesisches Geld finanziert.“ Die Chinesen hoffen, dass die Nordroute bis 2027 für Schiffe frei befahrbar ist, die von Eisbrechern begleitet werden. Die Nordroute würde die Zeit für maritime Exporte zwischen Russland und China knapp halbieren. Die Rolle der Großmacht in der Arktis ist umstritten, aber das Land hat wiederholt seine Ansprüche auf Einfluss in der Region geltend gemacht.
Dr. Depledge wies darauf hin, dass es allerdings keine Hinweise darauf gibt, dass sich China in arktische Häfen einkauft und sieht auch kein militärisches Engagement: „Was China aber macht, ist, seinen Einfluss auf wissenschaftlichen und diplomatischem Wege auszubauen.“ Dr. Depledge erklärte: „Was China am Ende will, ist geopolitischer Einfluss. Wenn die Arktis wichtiger wird, will China in einer Position sein, um mitsprechen zu können. Sie wollen nicht ausgeschlossen werden.” Wissenschaftliche Expeditionen und etwas ökonomische Investitionen in der Region sind Chinas Weg, um ein Mitspracherecht sicherzustellen.
Dr. Paul von der SWP mahnte die Seminarteilnehmer, weiter in die Zukunft zu schauen: „China hat seine Interessen in der Region und die Seerouten haben einen massiven Einfluss auf die Wirtschaft und die Entwicklung Chinas.“ China betrachtet die Nordroute durch den Arktischen Ozean als viel sicherer als die Südroute durch die Straße von Malacca und den Suezkanal. Daher wies Dr. Paul auf die Modernisierung der chinesischen Marine hin: „Die chinesische Marine wird vermutlich bis 2030 arktische Ausrüstung besitzen. Sie könnten zukünftig eine enorme Rolle in der Arktis spielen.”
Rhetorische Verantwortungslosigkeit?
Insgesamt wurden einige Einschränkungen des Konfliktpotenzials für die Region offensichtlich. Das Potenzial für die Ausbeutung der Bodenschätze ist begrenzt und es gibt keine hochbrisanten Territorialdispute in der Region. So scheint die Arktis nicht der wahrscheinlichste Ort für das Ausbrechen eines bewaffneten Konfliktes zu sein. Umso stärker fiel den Seminar-Teilnehmerinnen und -Teilnehmern der krasse Kontrast zwischen der Realität auf dem Boden und der politischen Sprache auf, die rund um die Arktis kursiert. Botschafter Philippe Welti bezeichnete dies als “Rhetorische Verantwortungslosigkeit” und warnte: „Wenn man oft genug davon redet, wird ein Konflikt ausbrechen.“ Während sich die weltweiten Spannungen stetig erhöhen, China sein Interesse in der Region ausbaut und Russland anfällig für Abenteuertum scheint, könnte die Arktis trotzdem zum Konfliktgebiet werden, auch wenn der Konflikt zunächst anderswo anfängt.
Es liegt an uns
Botschafter Welti schloss das drei Tage lange CIOR-Seminar 2021 indem er die Teilnehmerinnen und Teilnehmer darauf hinwies, dass das Konfliktpotenzial der Arktis in ihren Händen liegt: „Im Gegensatz zum südchinesischen Meer und Taiwan, liegt es im Falle der Arktis an uns. Wir können die Rhetorik kontrollieren, auf das Arctic Council und die europäische Sicherheitsarchitektur setzen und mit Russland in den Dialog treten.“ Der Vorsitzende des CIOR-Seminar-Komitees verstärkte diesen Punkt und bat alle Teilnehmerinnen und Teilnehmer ihr neugefundenes Wissen zu teilen: „Es liegt an uns Reserveoffizieren, unser Wissen mit unseren Regierungen und Institutionen zu teilen.“
Mit diesen inspirierenden Worten schloss das CIOR-Seminar 2021 mit einem einfachen Klick. Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer hoffen jetzt auf einen Handschlag zum Abschied im kommenden Jahr.