Die Dienstpflicht und die Frage nach dem Sinn
Ein verpflichtender Gesellschaftsdienst oder nicht? Das war die Frage bei einer Podiumsdiskussion der Landesgruppe Baden-Württemberg des Reservistenverbandes und der Konrad-Adenauer-Stiftung. Der schwedische Militärattaché für Berlin, Wien und Bern lieferte dabei spannende Aspekte für die Debatte aus der Perspektive eines Konzepts der Gesamtverteidigung.
Einen Flachbildfernseher, W-Lan und einen Kühlschrank hätten sicher Hunderttausende Grundwehrdienstleistende früher gern auf ihrer Stube gehabt. Obwohl einige Kasernen nun deutlich wohnlicher eingerichtet sind, vom Hocker scheinen diese Annehmlichkeiten nicht zu reißen. „Kommen deswegen mehr junge Menschen zur Bundeswehr?“, fragte Oberst d.R. Joachim Fallert. Der Vorsitzende der Landesgruppe Baden-Württemberg des Reservistenverbandes bezweifelte dies, wies auf die demografische Entwicklung und den allgemeinen Fachkräftemangel hin und eröffnete gleich die Diskussion um ein allgemeines Gesellschaftsjahr.
Zusammen mit der Konrad-Adenauer-Stiftung hatte die Landesgruppe Baden-Württemberg im Stuttgarter Kunstmuseum mit mehr als 150 Zuhörerinnen und Zuhörern und einem hochkarätig besetzten Podium über die Dienstpflicht diskutiert. Die Debatte um ein allgemeines Gesellschaftsjahr, Dienstplicht oder die Chancenzeit habe nicht erst seit dem russischen Angriff auf die Ukraine begonnen. Die vergangenen Jahre hätten gezeigt, dass die Menschen auf der Suche nach gesellschaftlichem Zusammenhalt seien, begann Marc Biadacz die von Amelie Stelzner-Doğan moderierte Diskussion. Der Bundestagsabgeordnete fügte hinzu: „Ja, ein Gesellschaftsjahr kann eine Bürde, aber es kann auch eine Chance sein.“ Jeder, der in Deutschland lebt und wohnt, könne daran teilnehmen. Eine allgemeine Dienstpflicht habe somit eine integrative Kraft und es gehe darum, den gesellschaftlichen Zusammenhalt zu stärken, argumentierte Biadacz.
Bis zu 75 Prozent wollen der Allgemeinheit dienen
Professorin Dr. Jeanette Pohl rückte den Blick von den gesellschaftlichen Vorteilen eines Pflichtdienstes zu den aktuellen Problemen mit Freiwilligendiensten. Aus ihrer Sicht gebe es genug junge Menschen, die einen Dienst freiwillig ableisten wollen. Allerdings gebe es nach wie vor mehr Interessenten als Plätze für ein Freiwilliges Soziales Jahr (FSJ). „70 bis 75 Prozent der 16 bis 26-Jährigen wollen sich für die Allgemeinheit einsetzen. Es ist schade, wenn die Möglichkeit nicht genutzt wird“, sagte Pohl. Ihrer Ansicht nach sei es notwendig, mehr Möglichkeiten für Freiwilligendienste zu schaffen und diese attraktiver zu machen. Denn viele junge Menschen könnten sich so einen freiwilligen Dienst, der oft nur mit einem Taschengeld bezahlt werde, nicht mehr leisten.
Reinhard Langer, ehemaliger Vorsitzender des Dachverbands der Jugendgemeinderäte in Baden-Württemberg, bestätigte Pohls Argument: „Wir haben viel mehr Bewerberinnen und Bewerber für FSJ-Stellen als wir anbieten können. Wir müssen immer wieder überlegen, wie wir ehrenamtliches Engagement unterstützen können. Da hakt es an finanziellen Möglichkeiten.“
Ist also ein allgemeiner Gesellschaftsdienst notwendig, um ehrenamtliches Engagement und den gesellschaftlichen Zusammenhalt zu stärken oder würde eine Stärkung der bestehenden Freiwilligendienste ausreichen? Vielleicht hilft hier ein Blick nach Schweden. Kapitän zu See Jonas Hård af Segerstad, Verteidigungsattaché in Berlin, Wien und Bern, stellte das schwedische System der Totalverteidigung vor. Totale Verteidigung bedeutet, dass im Kriegsfall der Zivilschutz das Militär unterstützen muss. Im Falle des Spannungs- oder gar Kriegsfalles würden dabei Mitwirkungspflichten auf die schwedischen Bürgerinnen und Bürger und auch auf ausländische Staatsbürger mit Wohnsitz in Schweden zukommen. Alle müssten sich dann beteiligen, denn das Ziel ist, die schwedische Gesellschaft resilienter zu machen. Im schwedischen Totalverteidigungsgesetz gibt es drei Pflichten: die Wehrpflicht für schwedische Staatsbürgerinnen und -bürger im Alter von 19 bis 47 Jahren, der Dienst in staatlichen Organisationen oder im Zivilschutz (vergleichbar mit Zivildienst, derzeit ausgesetzt, kommt aber sehr wahrscheinlich wieder) und der allgemeine Gesellschaftsdienst. Letzterer würde alle Menschen, die in Schweden gemeldet und im Alter von 16 bis 70 Jahren sind, treffen.
Jeder auf seinem Posten
Der allgemeine Gesellschaftsdienst kann im Spannungsfall aktiviert werden, im Kriegsfall sowieso. Am gewöhnlichsten ist: Wer einen systemrelevanten Job hat, führt diesen auch im Ernstfall aus. Das kann im öffentlichen Dienst, im Transport, in der Lebensmittelbranche oder in Erziehungs- und Bildungseinrichtungen sein. Man darf dann keinen Urlaub nehmen oder den Job wechseln. Wer keine Arbeitsstelle hat, kann auf eine solche im Ernstfall beordert werden. Zu den Streitkräften herangezogen werden, kann dabei nur, wer fürs Militär beordert ist. Feuerwehrleute oder Polizisten werden nicht automatisch zum Militär einberufen, sondern bleiben zunächst auf ihren Posten.
Von den 100.000 jungen Menschen lädt das schwedische Militär 30.000 zur Musterung ein. Davon werden jährlich 8.000 Rekrutinnen und Rekruten gezogen, darunter 500, die für die Offizierslaufbahn vorgesehen sind. „Es kommen nur die geeignetsten und motiviertesten zum Dienst an der Waffe“, erläuterte der schwedische Verteidigungsattaché. Der Kapitän zur See berichtete von der Wiedereinführung der Wehrpflicht. Bevor die Entscheidung im Jahr 2016 kam, habe es viele Wehrpflicht-Romantiker gegeben, die eine große Anzahl an jungen Menschen einberufen wollten. „Man muss sich aber fragen, wofür? Welche Probleme sollen gelöst werden, was ist der Treiber? Ist es, die Gesellschaft resilienter zu machen? Oder geht es um die Integration unterschiedlicher Menschen?“, fragte Jonas Hård af Segerstad. Er betonte, in Schweden sei der Gedanke des Pflichtgefühls gegenüber der Nation stärker ausgeprägt als in Deutschland.
„Der Staat muss die Menschen motivieren“
Er sehe es schon als Aufgabe des Staates an, die Menschen zu motivieren, sagte der Bundestagsabgeordnete Marc Biadacz. Dies sei eben nicht nur die Frage zu stellen, „was der Staat für mich, sondern was ich für den Staat tun kann.“ Es gehe aber nicht nur um die Bundeswehr, sondern um den Wert der Verteidigung des eigenen Landes oder des Bündnisses allgemein. „Wenn wir an diese Frage herangehen, kann man auch die Kritikpunkte einer Dienstpflicht lösen“, sagte der Politiker.
Einer der Kritikpunkte beschäftigt sich mit der Frage, in welchen Bereichen Pflichtdienstleistende eingesetzt werden sollen. Die Antwort ist nicht so einfach. Zwar sei der Dienst in vielen Organisationen vom Rettungsdienst bis zum Naturschutz denkbar, sagte Dr. Pohl. Allerdings sei es aus ihrer Sicht unvorstellbar, dass zwangsrekrutierte junge Menschen im sozialen Bereich mit vulnerablen Menschen, die pflegebedürftig sind, mit Menschen mit Behinderung oder mit Kindern arbeiten sollen. Was da diesen vulnerablen Gruppen und auch den Pflichtdienstleistenden selbst zugemutet werde, darüber werde zu wenig gesprochen. In der Regel seien in diesen Bereichen hochqualifizierte Arbeitskräfte notwendig. „Natürlich bin ich dafür, dass man sich gesellschaftlich engagiert“, sagte Jeanette Pohl. „Aber wenn man die Freiwilligkeit nimmt, mangelt es an der Qualität eines Dienstes.“
Die Politik ist gefordert
Man müsse ein System haben, in dem eine allgemeine Dienstpflicht oder der Wehrdienst ein Teil des Ganzen darstelle, brachte Jonas Hård af Segerstad seine Sicht der Dinge ein. In Schweden sei die übergeordnete Idee die Totalverteidigung. Welchen Sinn und Zweck eine allgemeine Dienstpflicht in Deutschland unterliegen soll, ist Aufgabe der Politik. Sie muss beantworten, was es bedeuten soll, die Gesellschaft resilienter zu machen. Der Reservistenverband habe im Jahr 2020 Gespräche mit dem Gesundheitsministerium und mit dem Innenministerium über einen allgemeinen Gesellschaftsdienstes geführt, berichtete Oberst a.D. Joachim Sanden, Vizepräsident für Sicherheitspolitik des Reservistenverbandes. In beiden Ministerien habe man sich offen für die Initiative gezeigt. Allerdings lasse das EU-Recht die Einführung eines Pflichtdienstes nicht so einfach zu, es sei denn, das Grundgesetz würde geändert werden. Dafür gab es damals keine politische Mehrheit.
Zudem habe das Verteidigungsministerium die Dienstpflicht-Initiative des Reservistenverbandes abgelehnt. Begründung damals: Die Personalplanung sei krisenfest aufgestellt. Eine zusätzliche Zahl an Wehrdienstleistenden würde nicht gebraucht und es würde eine große Anzahl an zusätzlichen Soldaten bereitgestellt werden müssen, um Wehrpflichtige ausbilden zu können. Für diese zusätzlichen Kräfte sei in der Bundeswehr kein Platz mehr, schilderte Sanden die Argumentation des Verteidigungsministeriums, „aber ist das heute immer noch so, wissen Sie etwas dazu, Herr Bundestagsabgeordneter?“.
Natürlich sei die Diskussion noch am Anfang entgegnete Marc Biadacz. Seine Partei habe das Thema mit ins Wahlprogramm aufgenommen. Es sei nun Aufgabe der Politik, sich weiter mit der Frage Dienstpflicht oder nicht auseinanderzusetzen und wo nötig, die Kapazitäten für einen solchen allgemeinen Gesellschaftsdienst zu schaffen.