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Die Migration über das Mittelmeer und die Transitländer Tunesien und Libyen

Fast gewohnheitsmäßig erreichen uns Nachrichten von Migranten, die über die zentrale Mittelmeerroute versuchen nach Europa zu gelangen. Die Zahlen waren zu Beginn des Jahres so hoch wie lan-ge nicht mehr. Die Flüchtenden starten in Libyen oder Tunesien in maroden Schlauchbooten, kommen in Ita-lien an, ertrinken oder werden Opfer von Push Backs und landen in libyschen Gefängnissen. Von dort sind Nachrichten von Folter und menschenwürdigen Bedingungen zu hören. Doch warum fliehen trotzdem so viele Menschen über das Meer? Und wie gestaltet sich die Situation im kriegsgeplagten Libyen und dem einstigen demokratischen Hoffnungsträger Tunesien?

(Foto: Mstyslav Chernov/Unframe via Wikimedia Commons)

eufluchtmigrationmittelmeer

Noch nie mussten so viele Menschen auf der ganzen Welt infolge von Kriegen, Verfolgung und Gewalt ihre Heimat verlassen. Das UN-Flüchtlingshilfswerk (UNHCR) berichtet von rund 110 Millionen Menschen auf der ganzen Welt, die auf der Flucht sind. Der Großteil davon sind Binnenvertriebene, doch viele machen sich auch auf den Weg in andere Länder. Ein begehrtes Ziel: Europa. Und so versuchten im ersten Quartal des Jahres 2023 so viele Menschen wie seit 2017 nicht mehr – von Januar bis Mai waren es fast 49.000 – das Meer zu überqueren. Nach UN-Angaben sind dabei insgesamt 441 Menschen gestorben und mehr als 20.000 seit 2014 – die Dunkelziffer liegt noch viel höher, denn viele Leichen werden vermutlich nie geborgen. Dabei steigen die Zahlen der Flüchtenden und damit die der Toten stetig. Nach dem Ausbruch der Kämpfe im Sudan waren bereits vier Tage später die ersten Flüchtenden in Sfax in Tunesien angekommen.

Tunesien: Einstige demokratische Hoffnung

Tunesien war nach dem Arabischen Frühling 2011 der einzige Staat, in dem Hoffnung auf eine demokratische Zukunft bestand. Es wurden anschließend Wahlen abgehalten und ein Parlament etabliert – die Frauenquote war so hoch wie im Bundestag. Doch das Parlament wurde 2022 von Präsident Qais Saied wieder aufgelöst. Bei der ersten Sitzung des neuen – deutlich schwächeren – Parlament mussten Journalisten draußen bleiben – nur Staatsmedien durften berichten. Dabei war Tunesien 2019 noch das Land mit der freiesten Presse in Nordafrika und dem Nahen Osten. Doch seitdem hat sich viel verändert: Saied führte eine neue Verfassung ein und kann nun als Präsident eigenmächtig Richter ernennen und entlassen. Dazu kommen fast wöchentlich neue Festnahmen von Spitzenpolitikern und Journalisten, denen Korruption oder Putschpläne vorgeworfen werden. Saieds Handschlag mit Syriens Machthaber Bashar al-Assad beim Treffen der Arabischen Liga im Mai 2023 kann als symbolisches Ende des Arabischen Frühlings und damit der demokratischen Bestrebungen in Tunesien gedeutet werden.

Durch die unsichere Situation in Libyen wandelte sich Tunesien seit Ende letzten Jahres zum wichtigsten Transitland für alle, die sich auf dem Weg nach Europa begeben und das obwohl die Regierung mit harter Hand gegen illegale Migration vorgeht. Saied erklärte in einer Rede im Februar, dass Menschen aus Ländern südlich der Sahara die Identität des Landes bedrohen und Teil einer Verschwörung gegen die arabische Kultur seien. Infolgedessen kam es zu einer Welle von fremdenfeindlichen Übergriffen gegen die rund 21.000 Menschen, die sich momentan illegal im Land aufhalten. Viele Flüchtende beschleunigten aus Angst unter unsicheren Bedingungen ihre Ausreise – es kam zu eben jener aktuellen Flüchtlingswelle nach Europa. Doch es sind nicht nur Menschen aus Subsahara-Afrika, die sich auf den Weg nach Europa machen. Auch junge Tunesier verlassen vermehrt aufgrund der desolaten wirtschaftlichen Lage, hoher Arbeitslosigkeit und einer allgemeinen Perspektivlosigkeit die Heimat.

Der Nachbar: Failed State Libyen

Kaum besser sieht es im leidgeplagten Nachbarstaat Libyen aus, wenngleich die Lage aufgrund einer Vielzahl von Akteuren deutlich unübersichtlicher ist. Seit dem Sturz des langjährigen Machthabers Muammar al-Gaddafi 2012 entstanden aus den geplünderten Waffenarsenalen viele neue Milizen, die das Machtvakuum füllten, nachdem die anschließenden Wahlen zu keiner stabilen Regierung führten. Zwei Jahre später eskalierte dann die Lage in einen Bürgerkrieg, in dem sich zwei rivalisierende Regierungen und Parlamente gegenüber standen, die von unterschiedlichen internationalen Akteuren unterstützt wurden. Seitdem ist das Land in zwei Teile gespaltet. Die international (unter anderem von der UN) anerkannte Regierung, die den Westen Libyens kontrolliert und vor allem aus ehemaligen Revolutionären besteht, wurde von der Türkei und Ägypten unterstützt. Dagegen steht General Chalifa Haftar im Osten, der die selbsternannte libysche Nationalarmee (LNA) kommandiert, die sich vor allem aus kriminellen Banden, radikalen Islamisten und Gaddafi-Loyalisten zusammensetzen. International wurden sie in der Vergangenheit von den Vereinigten Arabischen Emiraten und russischen Söldnern unterstützt. Immer wieder geraten die Gruppierungen aneinander, so kam es seit 2011zu zwei offenen Bürgerkriegen.

Zwar kam es seit dem Berliner Prozess, der 2020 gestartet und in dessen Rahmen zwei Libyen-Konferenz abgehalten wurden, zu keinem offenen Ausbruch der Gewalt mehr, dennoch ist die Lage bei weitem nicht stabil. Der Frieden beruht auf Abschreckung vor Luftschlägen der jeweiligen internationalen Unterstützer der anderen Seite. Durch Vermittlungsbemühungen der UN 2021 kam es zwar zu Wahlen einer Einheitsregierung, doch der Wahlkampf war nur eine Fortführung des jeweiligen Konfliktes. Verschärft wird diese Situation dadurch, dass es bis heute keine neutralen Sicherheitskräfte gibt. Zudem erhöht die Wahl das jeweilige Schutzbedürfnis, eine Niederlage würde von einer der beiden Parteien zu einem möglichen Untergang und damit dem Ende der Privilegien führen, entsprechend hat keine Seite Interesse daran den Konflikt nachhaltig zu lösen. Denn Libyen verfügt über die größten Ölvorkommen in ganz Afrika, an denen die bewaffneten Gruppierungen, Amtsinhaber und Kriminelle reich verdienen. Und trotz der vielen Konflikte in der Vergangenheit hat Libyen 2022 nach Angaben der Weltbank schwarze Zahlen geschrieben. Für 2023 sieht der internationale Währungsfonds sogar ein Wachstum von 17,9 Prozent vor. Zwar müssen die niedrigen absoluten Zahlen des Bruttoinlandsprodukts berücksichtigt werden, dennoch – es gibt ein Wirtschaftswachstum. Das wirkt sich tatsächlich auch verhalten auf das Leben der Menschen aus: So wurde viel in Infrastrukturmaßnahmen wie Straßen, Parks und Einkaufsmöglichkeiten in den Städten investiert. Freilich profitieren davon auch die durchschnittlichen Stadtbewohner Libyens, vor allem aber natürlich die Eliten des Landes.

Stand 2020: Grüne Gebiete werden von General Haftar, gelbe von der international anerkannten Regierung kontrolliert. (Karte: Bundeszentrale für politische Bildung)

Trotz verhaltener Hoffnung auf Besserung sieht es bei Weitem nicht gut aus in Libyen. Gerade in Bezug auf Flüchtlinge ist seit Jahren immer wieder von Folter und Menschenhandel zu hören – eine lukrative Einnahmequelle. Obwohl dieser Zustand in Libyen bekannt ist, machen sich viele Menschen aus der Subsahara auf den Weg. Der Krieg im Sudan, Nahrungsmittelknappheit und die Folgen des Klimawandels werden diesen Trend auch weiterhin verstärken. Durch Social Media ist die Migration zudem viel organisierter: Nach der Covid-19-Pandemie, die zu vielen Grenzschließungen führte, hat sich ein Netzwerk aus ägyptischen Reisebüros und Fischern etabliert, das mit korrupten libyschen Grenzbeamten und Offizieren zusammenarbeitet und so ein äußerst lukratives Geschäft mit der Hoffnung auf eine bessere Zukunft der Menschen betreibt. Dazu kommen immer wieder Nachrichten von inhaftierten und gefolterten Flüchtlingen, die auf dem Weg nach Europa sind, und gegen Lösegeld freigekauft werden können.

Und was macht Europa?

Als Konsequenz des letzten Unglücks, als Mitte Juni 2023 ein selbstgebautes Schiff mit bis zu 700 Menschen an Bord kenterte und die meisten vor der Küste Griechenlands ertranken, besuchte Bundesinnenministerin Nancy Faeser ihre tunesischen Amtskollegen. Ziel ist ein Migrationsdeal, der die reguläre Erwerbsmigration nach Deutschland erleichtern und die illegalen Boote über das Mittelmeer erschweren soll. Auch die EU streitet seit Jahren um eine Reform des Asylsystems. Das Ziel sind strengere Aufnahmeeinrichtungen und eine Prüfung innerhalb von zwölf Wochen, ob eine Möglichkeit für Asyl besteht. Wird dem nicht stattgegeben, sollen Migranten in sichere Herkunftsländer abgeschoben werden.

Auch andere Länder wie Italien führen bilaterale Verhandlungen. So setzt Italiens rechtskonservative Ministerpräsidentin Giorgia Meloni auf diejenigen in den Transitländern, die wirklich an der Macht sind und verhandelte deshalb unter anderem mit dem libyschen General Haftar, obgleich dieser und seine LNA wegen Menschenhandel verurteilt sind. Schließlich beruht Melonis Wahlerfolg unter anderem auf dem Versprechen die Zahl der Migranten auf Lampedusa und Sizilien zu reduzieren. Dafür wird beispielsweise die libysche Küstenwache gestärkt, um Boote mit Flüchtenden zurückzuhalten.

Doch ist die bilaterale Zusammenarbeit insbesondere mit dem tunesischen Präsidenten Saied nicht immer einfach. So ist er mit seinen fremdenfeindlichen Reden hauptverantwortlich für die Flüchtlingswelle zu Beginn des Jahres. Bei einem Besuch im Juni versucht Meloni ihn nun zu Reformen zu überzeugen. Diese könnten allerdings soziale Unruhen nach sich ziehen und trotz der Eindämmung von demokratischen Strukturen hat Saied noch die Mehrheit der Bevölkerung hinter sich. Ob er diese Unterstützung zu Gunsten Europas und somit für die Rücknahme ausgewiesener Migranten oder von EU-Politikern gewünschte Asylcenter in Tunesien riskieren wird, ist fraglich. Manche Unterstützer Saieds fordern dagegen sogar die Abkehr von Europa und den damit einhergehenden Migrationsabkommen. Stattdessen präferieren sie den Beitritt des Landes zur Allianz der BRICS-Staaten.

Was die Lage in Libyen angeht, so lag die Federführung von UNSMIL seit 2011 in deutscher Hand, der Berliner Prozess wurde maßgeblich von Europa vorangetrieben und dennoch bleibt der EU nur die Statistenrolle mit dem Pochen auf Menschenrechte und demokratische Lösungen. Zwar kam es im Zuge der Berliner Konferenz 2020 zu einem Waffenembargo gegen Libyen und zu der EU Marinemission IRNI, die das Embargo überwachen sollte. Doch werden die meisten Waffen auf dem Landweg geschmuggelt und die Effekte des Einsatzes waren insgesamt übersichtlich.

Ausblick

Die angestrebte EU-Reform im Asylsystem zeigt, dass die Maßnahmen nur dazu dienen die Auswirkungen, nicht aber die Fluchtursachen zu bekämpfen. Sowohl die Sahelzone als auch die Staaten südlich der Sahara bleiben überwiegend instabil, Konflikte wie im Sudan werden in Zukunft zunehmen, schon allein, weil der Klimawandel zu mehr Verteilungskämpfen führen wird. Folglich werden sich auch immer mehr Menschen auf dem Weg Richtung Europa machen. Um mit diesem Ansturm human und nachhaltig umzugehen, muss die EU eine gemeinsame Lösung finden und auf bilaterale Verhandlungen setzen, um so auf die Interessen der Herkunftsländer eingehen zu können. Gleichzeitig könnten durch Ausbildungsprojekte und Hilfen in der Verwaltung in den Herkunftsländern die legale Ausbildungs- und Arbeitsmigration gestärkt und somit der in Europa verbreitete Fachkräftemangel nachhaltig bekämpft werden.

Die Ereignisse in der Nachbarregion des Nahen Ostens zeigen, dass China schon lange einen Blick auf die arabischen Staaten geworfen hat und durchaus auch bereit ist, aktiv um sie zu werben. Will Europa Staaten wie Tunesien und Libyen nicht langfristig verlieren – und damit auch ein Stückweit Kontrolle über die Migrationsströme behalten – sollte sich mehr um sie bemüht und vor allem mit ihnen gemeinsam zusammengearbeitet werden. Schon allein aufgrund der vielen Rohstoffe in Nordafrika wäre das für alle von Vorteil.

 

Autorin:

Emma Nentwig studierte Politikwissenschaft und Arabistik in Jena, Madaba und Lille mit dem Schwerpunkt auf islamische Ideengeschichte. Daneben liegen ihre Forschungsinteressen in der Außen- und Sicherheitspolitik des Nahen und Mittleren Ostens. Sie ist stellvertretende Vorsitzende des Bundesverbandes für Sicherheitspolitik an Hochschulen (BSH).

 

Literaturtipps:

 


Dieser Text stammt aus dem Sicherheitspolitischen Newsletter des Sachgebietes Sicherheitspolitische Arbeit. Diesen können Sie hier abonnieren.
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