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DIE OFFENSIVE







Der Einsatz der Bundeswehr in Afghanistan wird noch risikoreicher. ISAF-Kommandeur Stanley A.McChrystal bläst zur Entscheidungsschlacht. Erst will er die Taliban aus ihren Hochburgen vertreiben und dann die Bevölkerung vor den Aufständischen schützen. Das ist eine Kampfansage





Er esse nur einmal am Tag, am Abend, um nicht, wie er sagt, träge zu werden. Mehr als vier Stunden Schlaf pro Nacht braucht er nicht, angeblich jedenfalls. Soldaten nennen ihn in Anspielung auf seine Karriere bei der US-Spezialeinheit Green Berets „Schlangenfresser“; das meiste dessen, was der Absolvent der Militärakademie West Point in seiner Laufbahn tat, ist als geheim eingestuft. General Stanley A. McChrystal steht die Zähigkeit des Elitesoldaten in sein kantiges Gesicht geschrieben, sein Durchhaltevermögen gilt im Hauptquartier der internationalen Truppen in Afghanistan (ISAF) als legendär. Bevor er nach Kabul kam, leitete er die Operationen von US-Spezialkräften im Irak und war maßgeblich an der Umsetzung der Strategie zur Aufstandsbekämpfung im Zweistromland beteiligt. Der 55-Jährige muss niemandem mehr sein Können beweisen, doch jetzt will es der von vielen als Workaholic und Militär-Intellektueller beschriebene ISAF-Kommandeur noch einmal wissen. In den kommenden zwölf Monaten will er nicht weniger als die Trendwende am Hin­du­kusch herbeiführen. McChrys­tal beabsichtigt, dem verfahrenen Konflikt mit einer neuen Strategie eine andere Richtung zu ge­ben. Dabei zielt er auf die Hochburgen der Aufständischen ab. Der General, sagt ein NATO-Offizier, packe den Stier bei den Hörnern.

 

Und er macht Tempo. Angetreten im Juni 2009, hat McChrystal die ISAF in kürzester Zeit strukturell und personell umgebaut. So mancher Offizier im Hauptquartier in Kabul verlor seinen Posten, der General machte dabei auch vor Landsleuten nicht halt. Es ging ihm bei der mitunter rücksichtslos erscheinenden Personalrochade darum, im Hauptquartier schnell die neue Einsatzphilosophie zu verankern. Es ist eine Philosophie, die davon ausgeht, dass der Westen keine Zeit mehr hat, um Afghanistan auf den seiner Meinung nach rechten Weg zu bringen. McChrystal zögerte daher selbst bei Vorgesetzten nicht lange, um seine Sicht über die Lage am Hindukusch klarzumachen. Er war gerade drei Monate auf seinem Posten, da pochte er gegenüber US-Verteidigungsminister Robert Gates und der NATO auf zusätzliche Truppen, weil der Konflikt „sonst sehr wahrscheinlich mit einem Scheitern endet“.

 

Mit knapp 40000 Soldaten bekam er von US-Präsident Barack Obama und den Verbündeten im Großen und Ganzen das, was er wollte, um seine Strategie umzusetzen. Der Erfolg der militärischen Mission in Afghanis­tan ist für ihn untrennbar mit dem Wohl der Menschen verbunden. Sobald die Taliban an einem Ort geschlagen werden oder fliehen, soll unmittelbar danach mit dem Aufbau von Infrastruktur und politischen Institutionen begonnen werden, um kein Machtvakuum entstehen zu lassen. Bis zum Herbst dieses Jahres, das ist McChrys­tals ehrgeiziges Ziel, soll der Aufstand gebremst werden, im Sommer 2011 soll der afghanischen Bevölkerung klar sein, dass die Taliban nicht gewinnen werden. Der Plan symbolisiert die Abkehr der USA vom Antiterrorkampf und die Hinwendung zur Aufstandsbekämpfung. Es ist der letzte Versuch des Wes­tens, in absehbarer Zeit mit blauen Flecken zwar, aber erhobenen Kopfes aus Afghanistan abziehen zu können, ohne dass das Land gleich wieder im Bürgerkrieg versinkt. Es ist ei­ne gewaltige Kraftanstrengung, die untrennbar mit dem Schicksal von Stanley McChrys­tal, vor allem aber mit dem von Barack Obama verbunden ist. Der General muss erfolgreich sein, damit der Präsident im übernächsten Jahr wieder ins Weiße Haus gewählt wird.

 

Nach der Kommandoübernahme vor elf Monaten stellte sich McChrystal drei Fragen: „Machen wir das, was wir tun, richtig? Tun wir überhaupt das Richtige? Und sind wir dabei erfolgreich?“ Seine Antworten waren vernichtend für die bisherige Strategie und ihre Verfechter: „Wir machen nicht das Richtige, das, was wir tun, machen wir auch noch falsch, und wir sind nicht erfolgreich.“ Bis ins Vorjahr hinein herrschte in Washington und anderen westlichen Hauptstädten die Meinung vor, um den Konflikt in Afghanistan zu lösen, müssten nur genug Taliban getötet werden. Der neue Oberkommandierende machte Schluss mit dieser Strategie. Für jeden erschossenen Taliban kämen 20 neue nach, militärisch sei der Krieg nicht zu gewinnen, diktierte er der Weltpresse in die Notizblöcke. Das Wort „Sieg“, sagte er, ha­be er vorübergehend aus seinem Sprachschatz gestrichen, das Einsatzziel sei mit „grundlegende Staatsfunktionen“ und „Arbeitsplätze“ besser beschrieben. Der Weg dorthin sei folglich nicht freizuschießen, sondern nur durch Partnerschaft mit den Afghanen zu begehen. Die jedoch müssten das wollen.

 

Dagegen stehen Tradition und Kultur, vor allem aber die erpresserischen und gewalttätigen Strukturen im Land. Insbesondere die Taliban haben sich schon bald nach dem Sturz ihres Regimes im Jahr 2001 von Pakistan aus reorganisiert und die ländlichen Regionen von Süden her mit einer Mischung aus Zuckerbrot und Peitsche aufgerollt. In weiten Teilen des Landes sind sie heute wieder präsent, ihr Einfluss auf die Bevölkerung vor allem in den paschtunischen Siedlungsgebieten ist enorm. Diese Entwicklung, Ergebnis enttäuschter, vom Westen geweckter Erwartungen, will General McChrystal stoppen. Sein Plan baut darauf auf, dass 70 bis 80 Prozent der Taliban­kämpfer nur Mitläufer sind, die ihr wirtschaftliches Überleben sichern, indem sie für die „Hardcore-Taliban“ kämpfen, improvisierte Sprengsätze (IED) verlegen oder Mohnfelder bewachen, deren Ertrag die Extremistenbewegung finanziert. McChrystal will diesen Männern ein Angebot machen. Sie sollen straffrei in die Gesellschaft zurückkehren können, wenn sie der Gewalt abschwören und ihren Lebensunterhalt ehrlich verdienen wollen. Den harten Kern aber, die Taliban, die vom Westen, angelehnt an den ehemaligen Zufluchtsort ihres Führers Mullah Omar, als „Quetta-Schura Taliban“ zusammengefasst werden, die will der General vertreiben. Die lokalen „Teilzeitkämpfer“ sollen von den auswärtigen Taliban getrennt werden. Dahinter steckt die Erkenntnis: Taliban sind nicht gleich Taliban.

 

Aufbau, Entwicklung, Pers­pektiven, Arbeitsplätze, Sicherheit und Vertrauen in den Staat – diese Ziele sind elementarer Bestandteil der Strategie von McChrys­tal. Kein ISAF-Oberkommandierender zuvor hat einen derart koordinierten Ansatz verfolgt. Der General weiß, dass sich die Aufstandsbewegung noch immer intensiviert, er spricht nach wie vor von einem „Land auf der Kippe“. Dennoch oder gerade deswegen setzt er alles auf eine Karte und lässt massiv Truppen aufmarschieren. Sie sollen gemeinsam mit den afghanischen Sicherheitskräften in einem ersten Schritt die Menschen in ausgesuchten bevölkerungsreichen Schlüsseldistrikten dauerhaft vor der Gewalt und dem Einfluss der Taliban schützen und Aufbau ermöglichen. Eine erfolgreiche Umsetzung dieser Strategie vorausgesetzt, werden die übrigen Regionen und Gebiete folgen. Wie lange dieser Prozess dauern könnte, zeigen Grafiken der NATO, die weit in die Zukunft reichen. Danach wird der Kräfteaufwuchs am Hindukusch mit Blick auf den Aufbau der afghanischen Armee (ANA) und Polizei (ANP) noch intensiviert. Bis Anfang 2011 soll der Aufmarsch der US-Truppen weitestgehend abgeschlossen sein, bis Ende 2014 sollen ANA und ANP eine Stärke von 240000 bzw. 160000 Mann haben. Die deutliche Skepsis im Westen gegenüber den Fähigkeiten der afghanischen Kräfte berücksichtigend, ist der von einigen Regierungen angekündigte Beginn des Truppenabzugs ab 2011 wohl nicht mehr als ein „politisches Feigenblatt“ zur Beruhigung der besorgten Öffentlichkeit. NATO und ISAF zumindest stellen sich darauf ein, bis mindes­tens 2019 militärisch in Afghanistan präsent zu bleiben. Optimistische Annahmen der ISAF-Führung zum Erfolg der neuen Strategie halten einen Abzug nennenswerter Truppenkontingente ab 2015 für möglich. Sollte die neue Strategie jedoch bis Ende 2011, bis zum Beginn des US-Präsidentschaftswahlkampfes, nicht die gewünschten Ergebnisse zeitigen, ist auch ein sehr viel schneller Abzug denkbar. Gegen das Scheitern der Mission setzt General McChrystal sein neues Operationskonzept.

 

In der „Operation Moshtarak“ (Gemeinsam) sollen afghanische und ISAF-Truppen die von den Aufständischen kontrollierten Gebiete zurück-erobern. Pha­se eins dieses Plans ist im Februar mit der weitestgehend widerstandslosen Eroberung der 80000-Einwohner-Stadt Mardschah angelaufen, einer Taliban-Hochburg in der Provinz Helmand. Im Gefolge der Truppen befanden sich Regierungsvertreter, Entwicklungshelfer so­wie Hunderte Polizisten, die jetzt sicht- und spürbar für die Menschen Verwaltungs-, Entwicklungshilfe- und Sicherheitsstrukturen schaffen sollen. Das massive Aufgebot, mit dem McChrys­tal vorgehen ließ, diente der Demonstration seiner Entschlossenheit, die Taliban nachhaltig vertreiben zu wollen. „Normalerweise verkämpft er sich nicht für eine einzelne Stadt“, sagt ein NATO-Offizier. „Doch er woll­te ein Zeichen setzen. Das ist gelungen.“ Zunächst jedenfalls. Weil sich die Polizei bislang als eher unzuverlässig erweist, bleiben vorerst 1000 US-Marines in Mardschah.

 

Ihre Kameraden ziehen derweil in Phase zwei der „Operation Moshtarak“ den Helmand-Fluss aufwärts, um die Taliban aus ihren traditionellen Herrschaftsgebieten entlang des Wasserlaufs zu vertreiben. Dort zuzuschlagen ist wie ein Stich ins Wespennest. Nicht nur, weil die Extremisten in der Bevölkerung Rückhalt genießen, sondern auch, weil entlang des Flusses der Mohn gedeiht. Helmand mutierte in den acht Jahren seit der US-Invasion zum weltweit größten Opiumexporteur. 60 Prozent des global konsumierten Heroins haben auf den Feldern der Provinz ihren Ursprung. Zudem dient der Landstrich den Taliban als Nachschubbasis für Waffen und Kämpfer. Helmand ist von strategischer Bedeutung, weshalb McChrystal die Fehler der Vergangenheit nicht wiederholen will. Mehrfach war es den seit 2006 in Helmand stationierten Briten und Dänen gelungen, die Taliban aus Städten wie Musa Qala zu vertreiben. Anschließend zogen sie wieder ab, weil Personal und Ausrüs­tung fehlten, um dauerhaft vor Ort zu bleiben. Die Extremis­ten kamen zurück. Statt bisher 7000 werden dort künftig 24000 ISAF- sowie 12000 afghanische Soldaten stationiert sein.

 

Während „Moshtarak II“ noch läuft, stehen die Vorbereitungen für „Moshtarak III“ vor dem Abschluss. Im Mai werden mehr als 10000 ISAF-Truppen und noch einmal so viele afghanische Soldaten antreten, um die Provinz Kandahar sukzessive unter Kontrolle zu bringen. Wenn die Operation in Helmand einem Stich ins Wespennest gleicht, dann ist die Offensive in Kandahar der Versuch, das Nest gleich mit zu vernichten. Die zweitgrößte Stadt Afghanis­tans und die umliegenden Distrikte sind das spirituelle Zentrum des Aufstands. Dort, wo ein Großteil ihrer Führer herstammt, erfahren die Taliban massenhaft Zulauf. „Distrikt für Distrikt werden wir uns vornehmen“, sagt ein Offizier, „ehe wir uns abschließend Kandahar selbst widmen.“ Ein ambitioniertes Unterfangen, das, so ist in der NATO zu hören, viele Unbekannte birgt, nicht zu vergleichen mit der ersten Phase in Mardschah. Der Widerstand der Taliban dürfte gewaltig sein, sei es durch offenen Kampf , Sprengfallen oder Selbstmordattentäter. Hinzu kommt die Fragwürdig­keit des An­satzes, dis­triktweise vorzugehen. Die Taliban und ih­nen zugewandte Stämme organisieren sich nicht nach Distriktgrenzen, sondern in Netzwerken. Diese auf Patronage, Korruption und Kodizes basierende Systeme aufzubrechen, ist Experten zufolge mit dem geplanten Ansatz nahezu unmöglich. So sind auch die jüngsten Äußerungen des afghanischen Präsidenten Hamid Karzai zu verstehen. Sinngemäß hatte er vor Stammesvertretern in Kandahar geäußert, ohne ihre Einwillung werde es keine Offensive geben. Dahinter steht die Einsicht, dass jede Operation ohne die Einbindung der Stammesführer von vorn herein zum Scheitern verurteilt ist. Ein Jahr hat General McChrys­tal angesetzt, um die Kontrolle in Kandahar zu erlangen. Anschließend sollen auch dort dauerhaft deutlich mehr Soldaten als bisher verbleiben. Denn dort wird die Entscheidungsschlacht um die Herzen und Köpfe der Paschtunen ausgetragen. Dort im Süden wird sich das Schicksal der internatio­nalen ISAF-Mission entscheiden.

Wie das Ringen ausgeht, hängt wohl weniger von der „Operation Moshtarak“ an sich ab, sondern vielmehr vom Erfolg der Verhandlungen in ihrer Folge. Seit einiger Zeit führt die Regierung in Kabul Gespräche mit den Aufständischen; auch US-amerikanische und britische Unterhändler trafen sich auf Vermittlung Sau­di-Arabiens bereits mehrfach, aber ergebnislos mit Abge­sandten der Tali­ban. Hier setzt McChrys­tals Plan an. Seine Offensive hat letztlich zum Ziel, die Bewegung soweit zu schwächen, dass ihre Führer an den Verhandlungstisch gezwungen werden. Beobachter halten das für machbar. Die Taliban, so ihre Argumentation, kontrollieren keines der wichtigen Ballungszentren und es gibt keine landesweiten vom Volk getragenen Aufstände gegen die NATO-Truppen. Die Mehrheit der Afghanen will die Taliban nicht wieder an der Macht sehen – trotz ihres Zorns auf die korrupte Regierung Karzai, trotz des internationalen Versagens, ihnen den versprochenen wirtschaftlichen Fortschritt zu bringen. Solange die Soldaten aus dem Wes­ten im Land sind, bestehe, so äußern zumindest viele in den Städten lebende Afghanen in Umfragen, wenigstens die Hoffnung auf eine Rückkehr in geordnete Verhältnisse und darauf, dass sich ihr Leben zum Besseren wenden wird. Die kommenden Monate könnten eine entscheidende Gelegenheit bieten, die Taliban zu überzeugen, dass der Zeitpunkt für Friedensgespräche gekommen ist.

 

Lange standen sich die Parteien unversöhnlich gegenüber. Doch inzwischen ha-ben die Aufständischen das, was sie wollten: einen (noch unverbindlichen) Abzugsplan des Westens mit der Ankündigung des US-Präsidenten, im kommenden Jahr die ersten Truppen nach Hause zu holen. Als Gegenleistung erwarten die US-Amerikaner, dass sich die Taliban von Al-Qaida distanzieren, um der Terrororganisation ein wichtiges Rückzugs- und Operationsgebiet zu nehmen. Vor allem aber wird es in möglichen Verhandlungen um die Machtverteilung in Afghanistan nach dem Abzug der westlichen Koalition gehen. Dabei wird derjenige ein gewichtiges Wort mitreden wollen, der in den Konsultationen bislang außen vor geblieben ist. Auch wenn sowohl die afghanische Regie­rung als auch die Auf­stän­dischen dem pakis­tanischen Geheimdienst ISI („Inter Service Intelligence“) nicht über den Weg trauen, ist er der Schlüssel zu förmlichen Verhandlungen mit der Taliban-Führung. Jahrelang spielte Pakistan eine destruktive Rolle in Afghanistan, indem es die Extremis­ten als Instrument seiner Außenpolitik benutzte und sie in ihrem Kampf gegen die Machthaber in Kabul und die internationalen Truppen unterstützte. Nun ändert es offenbar seinen Kurs und bietet die Vermittlung von Gesprächen zwischen Taliban, den US-Amerikanern und der Regierung Karzai an. Was hinter diesem Angebot steckt, gibt An­lass zu Spekulationen. Pakistan wolle, so lautet eine Überlegung, die politischen Weichenstellungen für die Zeit nach dem Abzug der US-Truppen in eine für sich günstige Richtung lenken. Eine andere Überlegung geht von massivem US-amerikanischem Druck auf Islamabad aus, der dazu geführt hat, dass Präsident Asif Ali Zardari eine deutlich konstruktivere Afghanistan-Politik als bisher verfolgt.

 

Wie auch immer Pakistans Rolle sein wird, Frieden gibt es in Afghanistan dauerhaft nur, wenn die Volksgruppen zur Versöhnung bereit sind. Das letzte Wort darüber liegt bei der nichtpaschtunischen Bevölkerung im Norden. Wenn Tadschiken, Usbeken und Hazara, die knapp 50 Prozent der Bevölkerung ausmachen, den Aussöhnungsplan nicht akzeptieren, sehen auch ranghohe NATO-Vertreter nach dem Abzug der internationalen Truppen einen erneuten Bürgerkrieg aufziehen. Wie in den 90er Jahren, als sich die verschiedenen Mudschaheddin-Gruppen nach dem Sieg gegen die Sow­jet-Besatzer brutal bekriegten und das Land vollständig ruinierten, würde Afghanis­tan wieder im Chaos versin­ken. Mithilfe ei­ner „Peace Jirga“, einer Aussöh-nungskonferenz im Mai in Ka­bul, soll das verhindert werden. Präsident Hamid Karzai will mit den Volksgruppen über ihre Vorstellungen von einer gemeinsamen Zukunft beraten. Allerdings sind wichtige Repräsentanten der Aufständischen nicht geladen, etwa die Angehörigen des Netzwerks um den Terroristen und früheren Mudschaheddin-Kommandeur Jalaladdin Haqqani. Sie gelten als nicht integrierbar. Haqqani operiert vom pakistanischen Waziris­tan aus in den Provinzen Paktika, Paktia und Khowst; seine Leute sind zudem für alle großen Anschläge der jüngeren Vergangenheit in Kabul verantwortlich. Ihre Anzahl wird von der ISAF auf 600 bis 1000 geschätzt. Es ist die Allianz mit Al-Qaida, die Haqqani besonders gefährlich macht. Daher wird ein weiterer Schwerpunkt der ISAF-Operationen in diesem und im nächsten Jahr den Ballungszentren und Hauptverkehrsadern in den Ostprovinzen gelten. Auch hier ist die Offensive mit einer gleichzeitigen Aufsto­ckung der dauerhaft in der Region stationierten Truppen verbunden.

 

McChrystal nimmt sich genau die Distrikte vor, in denen Aufstandsbewegung und Terrornetzwerke besonders mächtig sind. Sein Fokus richtet sich daher auch auf sechs „Landkreise“ im Raum Kunduz. Ähnlich der „Operation Moshtarak“ wird es Offensiven geben, die in einer ständigen Präsenz internationaler Truppen und afghanischer Sicherheitskräfte in den wichtigsten Ortschaften münden. Die Bundeswehr gliedert dazu bis August ihre Kampftruppen in zwei Ausbildungs- und Schutzbataillone um und schickt einige hundert Soldaten mehr in die Provinz. Doch um Kunduz und die umliegenden Distrikte unter Kontrolle zu bekommen, sind wohl mehr als knapp 1400 Infanteristen und Unterstützungstruppen notwendig. Nicht zuletzt deshalb schicken die US-Amerikaner bis zum Sommer 5000 Soldaten in den Norden. McChrystal hofft so, die „Trend­umkehr“ zu schaffen, fordert von den Deutschen zugleich aber eine massive Beteiligung mit Kampftruppen an den unausweichlichen Offensiven.

 

Konkret brigen die US-Amerikaner 1000 Infanteristen, 1500 Heeresflieger mit 40 Kampf- und Unterstützungshubschraubern („Combat Aviation Brigade“) sowie 2000 Polizeiausbilder („Trainer Brigade“) in die Region. Am Sitz des von den Deutschen geführten Regionalkommandos in Mazar-i-Sharif ist ihr Aufmarsch schon spürbar. Wie im ISAF-Hauptquartier in Kabul werden wichtige Posten künftig von US-Soldaten besetzt. Das Kommando erfährt nominell eine Aufwertung; ab Juli steht ihm mit Erhard Bühler ein Zwei-Sterne-General vor, sein Stellvertreter wird ein US-Brigadegeneral. McChrystal, sagt ein NATO-Offizier, erwartet von ihnen, dass sie das „Aufständischen-Problem“ im Raum Kunduz und südlich davon in Baghlan schnell in den Griff bekommen. Denn zum Einen ist das Gebiet für den Nachschub der ISAF inzwischen von immenser Bedeutung, zum Anderen aber hat der Oberbefehlshaber kein Inte­resse an einer zweiten dauerhaft instabilen Front im Land.

 

Stanley McChrystal scheint fest entschlossen, seine Strategie zur Aufstandsbekämpfung umzusetzen. Beobachter attestieren ihm eine „gnadenlose Effizienz“ und ein „rigoroses Vorgehen ohne Rücksicht auf Befindlichkeiten einzelner Nationen“ innerhalb der ISAF. Er ordnet alles dem Ziel unter, binnen zwölf Monaten die Trendwende herbeizuführen, und er erwartet, dass dies auch die Verbündeten tun. Er packt den Stier bei den Hörnern. In der Arena sitzt ein skeptisches Publikum. Noch ist nicht zu erkennen, wie der Kampf ausgeht.

Quelle: loyal
Foto: Archiv VdRBw


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