Viele der 120 Teilnehmer beim diesjährigen PTBS-Kongress des Reservistenverbandes in Hamburg standen Tränen in den Augen als Obergefreiter der Reserve Gerd Kaminski einem der 133 Ahrflutopfern ein Gesicht gab. Er berichtete von seinem Kameraden und Freund Stabsfeldwebel Mario Jens Schulz. Seit vielen Jahren engagierte er sich für die Bundeswehraktion Lachen Helfen. Schulz brachte heimischen Kindern in den Auslandseinsätzen Schulmaterial, Spielzeug und Lebensmittel, um ihnen ihr spartanisches Leben zu verbessern. Damit hat er vermutlich Tausende Male ein Lachen geschenkt. Schulz wohnte in Altenahr direkt an der Ahr. Er war der 133. Tote, den man an der Ahr bergen konnte. Der Berufssoldat Schulz wurde 53 Jahre alt. Kaminski zeigte einen bewegenden Filmbeitrag. Darin sahen die Kongressteilnehmer die Wasserfluten und wie sie zum Beispiel einen Pkw mit Bremslicht davonspülte. Es saß also jemand am Lenkrad. Das bewegte, das ergriff. Stille!
Der „Hamburger Kongress Verwundungen an Leib und Seele“ fand Ende September an der Führungsakademie der Bundeswehr statt. Der Kongress wurde als PTBS-Kongress in Hamburg initiiert und hat sich im Laufe der vergangenen Jahre zu einer Institution entwickelt, die in Deutschland ihresgleichen sucht, denn hier tauschen sich Fachleute, Helfende und Betroffene aus. Es kommen Vertreter von Bundeswehr, Polizei, THW, Feuerwehr, Zoll. Hier werden Netzwerke geschmiedet, um im Sinne der Verwundeten Hilfe und Heilung zu verbessern. Und da hat sich einiges getan. Landesvorsitzender des Reservistenverbandes in Hamburg ist Oberst der Reserve Joachim Lenz. Er sagt: „Seit dem letzten Kongress, der wegen Corona im Jahr 2018 stattfand hat die Bundeswehr große Fortschritte bei der Versorgung, Betreuung und Heilung von Verwundeten an Leib und Seele gemacht. Wenn das so weiter geht, werden wir in zwei Jahren – beim nächsten Kongress – sicher wieder gute Dinge berichten können.“
Eine neue Behandlungsmethode stellten Sabine Schweizer aus dem schleswig-holsteinischen Bokel und Stabsbootsmann Christian Sieg aus Kiel vor. Die beiden bieten eine Pferdetherapie an (www.horsemanship-coaching.de). Der Berufssoldat Sieg wird in seinem Heimatverband liebevoll Papa Sieg genannt. Er ist in der Einsatzflottile 1 der Truppenpsychologiefeldwebel und Lotse für Einsatzgeschädigte. An seiner Marineuniform prangen die Auslandseinsatzmedaillen von 17 eigenen Einsätzen. Direkt in der Woche nach dem Kongress brach Sieg zu seinem 18. Einsatz auf. „Der wird gewiss mein letzter sein, denn kommendes Jahr gehe ich in Pension“, so der 54-jährige. Sabine Schweizer und Christian Sieg berichten über ihre Methode: „Das Pferd reagiert nicht auf das gesprochene Wort, sondern auf die emotionale, oft unbewusste Ebene der Kommunikation. Die Haltung ist entscheidend.“ So soll ein neuer Patient sich zu dem ihm zugeteilten Pferd begeben und versuchen, es mitzunehmen. „Wenn derjenige zum Pferd sagt, komm mit, gibt es zwei Möglichkeiten. Entweder wendet sich das Pferd ab, da es in der Person eine schwache Person sieht, oder es kommt mit, weil es den Menschen für eine starke Person hält.“ Deshalb sei die Therapie mit Pferden erfolgsversprechender als die mit Hunden, glauben beide. Sieg: „Ein Hund will gefallen. Ein Pferd nimmt instinktiv kleinste Gesten wahr und sucht gegebenenfalls die Fluchtlinie.“ Die Bundeswehr will dazu eine Studie erstellen und sucht dazu noch Probanden. „Das können auch Reservisten sein“, sagt Oberstarzt Dr. Gerd Willmund vom Bundeswehrkrankenhaus Berlin. Infos dazu gibt es beim Psychotraumazentrum des Bundeswehrkrankenhauses Berlin, Scharnhorststraße 13, 10115 Berlin.
In einem Vortrag über den Afghanistaneinsatz zog Oberstarzt Dr. Helge Höllmer vom Bundeswehrkrankenhaus Hamburg eine Bilanz auch der anderen Auslandseinsätze. Er sagt: „Eine genügend große Gruppe hat ihre Seele in Afghanistan gelassen. 59 ihr Leben.“ Er dankte den Polizisten, die ebenfalls am Kongress teilnahmen. „Sie erleben oft bürgerkriegsähnliche Zustände. Auch das ist belastend wie ein Auslandseinsatz.“ Er begegnet Vorurteilen von Vorgesetzten, Kameraden und Angehörigen von Einsatzsoldaten, die z. B. sagen: „Du warst nicht im Krieg, dann kannst du nicht traumatisiert sein“ mit dem Argument: „Ich habe bis heute nicht verstanden, was der Unterschied eines Mienentods im Zweiten Weltkrieg und in Afghanistan ist.“
Eine Teilnehmerin des Kongresses ist Mona Eckeberg. Sie arbeitet seit fünf Jahren beim evangelischen Kirchenamt der ev. Militärseelsorge in Berlin. Sie berichtet am Rande beim Kaffee über ihre berührendste Erfahrung mit einer traumatisierten Mutter. „Deren Sohn ist in dem Alter verstorben, wie mein jüngster Sohn alt ist und er wäre jetzt so alt wie mein Ältester. Da war ich berührt und habe für mich eine persönliche Verbindung hergestellt, über die ich bis heute nachdenke.“ Insgesamt betreut das Berliner Kirchenamt im „Arbeitsfeld Seelsorge für unter Einsatz oder Dienstfolgen leidende Menschen“ (Kontakt: ekaasem@bundeswehr.org) 300 traumatisierte Familien und 90 Familien von Hinterbliebenen, deren Familienangehörige als Soldaten bei Unfällen, Gefechten oder durch Suizid ums Leben kamen.
Über Suizd in der Bundeswehr wurde auch gesprochen. Oberstarzt Dr. Gerd Willmund referierte über die Suizidalität in den Streitkräften. „Innerhalb der Bundeswehr haben wir unter den aktiven Soldaten 20 bis 30 Suizidfälle im Jahr. Zu Reservisten können wir keine Zahlen nennen, es sei denn, dass sie gerade in einem Wehrdienstverhältnis sind.“ Anders sei das bei den US-Amerikanern, so Willmund. Dort nehmen sich Reservisten oft in den ersten Monaten nach Dienstzeitende das Leben. Im Schnitt haben die US-amerikanischen Streitkräfte jeden Tag ein Selbstmordopfer zu beklagen. Inzwischen haben die Streitkräfte dort mehr Menschen durch Suizid verloren als durch die Einsätze.“ Dann nannte er Zahlen aus Deutschland: Die Suizide von 2010 bis 2016 setzten sich so zusammen: Meist männlich, 9,6-fach mehr als Frauen, meist zwischen 17 und 35 Jahre alt, weniger als sechs Jahre Dienstzeit in der Bundeswehr, 40 Prozent mit dokumentierten psychischen Erkrankungen. Doch für die Bundeswehr gebe es kein statistisches Suizidproblem, denn bei den 17- bis 35-jährigen liege die Bundeswehr zwar etwas über dem Durchschnitt der Gesamtbevölkerung, bei den anderen Altersgruppen aber darunter. Ein höheres Suizidrisiko durch Auslandseinsätze belege die Studie nicht. Zum Abschluss des Kongresses sagte Dr. Helge Höllmer: „Dies hier ist ein sehr familiäres Format, bewegend trotz der unterschiedlichen Herkunft und Erfahrungen.“
Das Presse- und Informationszentrum des Sanitätsdienstes der Bundeswehr war mit einem Kameramann auf dem Kongress. Hier geht es zu einem Kurzvideo, Kurz-URL: https://t1p.de/yxkwr