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Europa und die Arktis – auf einem Auge blind?

Blickt man auf eine Weltkarte, so nimmt die Arktis einen vermeintlich kleinen Raum an der Peripherie ein. Jedoch entwickelt sich der arktische Raum im vergangenen Jahrzehnt wieder zu einem geopolitisch bedeutsamen Gebiet, das die Aufmerksamkeit internationaler Akteure immer stärker auf sich zieht. Angesichts der sich verändernden geopolitischen Dynamiken, des Klimawandels und Ressourcen im nördlichen Vorgarten Europas, Asiens und Amerikas ist eine auf die Arktis gerichtete Sicherheitspolitik der Europäischen Union von zunehmender Relevanz. Welche Bedeutung hatte die Arktis für Europa und trägt die Europäische Union dieser Bedeutung Rechnung?

Symbolbild.

(Foto: Quintin Soloviev via Wikimedia Commons)

arktiseueuroparussland

Die Bedeutung der Arktis für Europa wuchs seit dem Mittelalter stetig. Bis zum 20. Jahrhundert war sie vor allem ein Ort wissenschaftlicher und wirtschaftlicher Expansion. Spuren dieser Zeit finden sich bis heute in der Namensgebung von Orten wie dem Franz-Josef-Land als österreich-ungarisches Zeugnis. Sie verdeutlichen das europäische Engagement in der Arktis, welches sich nicht nur auf die klassischen Seemächte beschränkte. Mit dem Zeitalter der globalen Kriege beginnt die Wahrnehmung der Region als militärisch und sicherheitspolitisch relevanter Raum.

Historische Bedeutung der Arktis für Europa

Bereits im Ersten Weltkrieg nutzte Russland arktische Seerouten als Alternative zur gesperrten Ostsee für den Nachschub. Während des Zweiten Weltkrieges erweisen sich diese Seewege als existenziell. Im Rahmen des 1941 zwischen den USA und der Sowjetunion beschlossenen Leih-Pacht-Abkommen lieferten amerikanische und britische Geleitzüge der Sowjetunion über die Barentssee und die Beringstraße viereinhalb Millionen Tonnen Nachschub. Obwohl in der geografischen Peripherie gelegen, wurde die Arktis zu einer Überlebensader für die Sowjetunion und zu einem elementaren maritimen Operationsgebiet für den europäischen Kriegsschauplatz. Auch im Kalten Krieg behielt die Region ihre Bedeutung als Manövrierraum. Fortan operierten strategische U-Boote und Bomber beider Blöcke im Rahmen der Erst- und Zweitschlagfähigkeit unter und über dem Eis des Nordpolarmeeres. Das militärische Potenzial der Arktis lag in ihrer Abgeschiedenheit und der direkten Nachbarschaft von Ost und West. Hierdurch war sie ein Ort höchster militärischer Aktivität, dem in einem heiß gewordenen Kalten Krieg eine wichtige Rolle zugekommen wäre.

Mit Ende des Kalten Krieges sollte die öffentliche Aufmerksamkeit rapide abnehmen und die Zeiten des Konflikts in der Arktis beendet sein. Bereits 1987 bezeichnete Michail Gorbatschow die Arktis der Zukunft als „Zone des Friedens“. Die Gründung des Arktischen Rats (AR) 1996 als zwischenstaatliches Forum für den Dialog und Interessenausgleich zwischen arktischen Staaten repräsentierte eine fragile internationale Aufbruchsstimmung. Einerseits gab es internationale Projekte, wie die Planungen zur Erschließung des Shtokman-Gasfeldes zwischen Russland, Norwegen und Frankreich, welches aufgrund mangelnder Nachfrage 2010 scheiterte. Andererseits machten Signale wie die Absetzung der russischen Flagge am geographischen Nordpol durch eine russische Expedition im Jahr 2007 die Arktis wieder zu einem ambivalenten Ort zwischen unilateralem Anspruchsdenken und Kooperation. 2021 warnte der russische Außenminister Sergei Lawrow den Westen vor jeglichen Besitzansprüchen in der Region, da jedem klar sein müsse, „dass dies unser Territorium ist“. Vermengt man Äußerungen wie diese mit dem russischen Überfall auf die Ukraine 2022 sowie die hieraus resultierende Erweiterung der NATO-Nordostflanke durch die Beitritte Finnlands und Schwedens, so wird deutlich, dass die sicherheitspolitische Krise die Arktis längst erfasst hat.

Damals wie heute: Die Wetterbedingungen der Arktis stellen hohe Anforderungen an Mensch und Material. Der Geleitzug JW53 im Treibeis, Februar 1943. (Foto: IWM A 15360)

Aktuelle Konfliktfelder der Region

Die heutige Lage macht zwei Konfliktfelder erkennbar, die vor allem durch die Auswirkungen des Klimawandels zutage treten. Dazu gehören die bereits erwähnten Gebietsansprüche im Zusammenhang mit den zugehörigen Ressourcen. Eine Untersuchung des United States Geological Surveys aus dem Jahr 2008 vermutete nicht weniger als 30 Prozent aller unerschlossenen Erdgasvorkommen sowie 13 Prozent aller Ölvorkommen in der Arktis. Hiervon liegen 2/3 auf europäisch-russischer und 1/3 auf kanadisch-amerikanischer Seite, das meiste davon in Küstennähe. Hinzu kommt die potenzielle Bedeutung der Region für den Fischfang. Obwohl momentan nur einprozentige Zahlen des weltweiten Fisches im Nordpolarmeer gefangen werden, welches bisher von der Überfischung verschont geblieben ist, ermöglicht das Schmelzen des Eises einen hypothetisch größeren Fangansatz.

Das zweite Konfliktfeld betrifft die Nutzung potenzieller Seerouten. Der intensiven wirtschaftlichen und kommerziellen Nutzung dieser Seewege stand bisher das ewige Eis im Weg. Dieses wird durch den Klimawandel seine Ewigkeit verlieren und damit die arktischen Gewässer in Zukunft zu einer ernsthaften Alternative zu den konventionellen Seerouten machen. Während der Seehandel von Asien nach Europa bei der Fahrt durch den Suezkanal 20.000 Kilometer zurücklegen muss, würde sich bei ganzjährig eisfreien Fahrrinnen der Weg entlang der russischen Nordküste über die Nordostpassage auf rund 15.000 Kilometer reduzieren. Gemeinsam mit der Nordwestpassage, die Routen durch den Panamakanal ersetzen würde, und der zentralen transpolaren Route gilt sie als der bisher aussichtsreichste Seeweg der Zukunft. Eine kurzfristige Nutzung sehen Experten aufgrund fehlender Infrastruktur und des extremen Wetters noch kritisch. Langfristig steht der Nutzung jedoch wenig entgegen. Die Frage der Kontrolle über diese potenziellen Lebensadern der Weltwirtschaft ist auch für Europa, welches von diesen abhängig ist, eine zentrale ökonomische und sicherheitspolitische Frage der Gegenwart und Zukunft.

EU als sicherheitspolitischer Akteur

In Anbetracht der Lage bestimmte die EU den Schutz der Arktis, die friedliche internationale Zusammenarbeit sowie Innovationen zum Schutz der Natur zu den drei Kernprinzipien ihrer Arktispolitik. Aufgrund des langjährigen Engagements in der Region und einer Vielzahl an Projekten, wie zum Beispiel die Arctic PASSION oder MOSAiC, kann die EU als ein arktischer Akteur betrachtet werden, auch wenn sie kein Mitglied des AR ist und keinen formellen Beobachterstatus innehat. Informell hat die EU dennoch Einfluss auf den Arktischen Rat, da die drei EU-Staaten Dänemark, Finnland und Schweden Mitglieder sind. Das genannte Potenzial der Region führt jedoch dazu, dass auch Länder wie Indien oder China öffentliche Diskussionen über eine eigene Arktisstrategie führen. Sie verfolgen daher Strategien, um ihre Interessen in Bezug auf Ressourcengewinnung, Schifffahrt und politische Einflussnahme in der Region zu wahren.

Am 8. November 2019 erklärte die EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen, Europa müsse die Sprache der Macht lernen, das heißt „eigene Muskeln aufzubauen (…) etwa in der Sicherheitspolitik.“ Dafür wurden verschiedene Projekte, wie zum Beispiel das Rüstungsgroßprojekt „Future Combat Air System“ oder die Militär-Trainingsmissionen, die in Zusammenarbeit mit den EU-Staaten durchgeführt werden, eingeführt. Deshalb ist es wenig verwundernd, dass sich die am 13. Oktober 2021 veröffentlichte gemeinsame Mitteilung der EU-Kommission über die Arktisstrategie explizit mit sicherheitspolitischen Herausforderungen beschäftigt. Als potenzielle Konfliktakteure werden China und vor allem Russland betrachtet. China wird nur nebenbei erwähnt, während Russland für seine militärischen Operationen und sein gesteigertes Selbstvertrauen in der Arktis und im Luftraum kritisiert wird. Die EU betont außerdem, dass dies die Auswirkungen des Klimawandels weiter verschlimmern könnte. Bemerkenswert ist hierbei, dass die EU anerkennt, dass es einen Zusammenhang zwischen Klimawandel und Militäroperationen geben kann. Dabei stellt sich die Frage: Kann die EU-Strategie den neuen Herausforderungen gerecht werden?

Dänemark (für Grönland) sowie Schweden und Finnland sind als EU-Mitglieder im Arktischen Rat vertreten. (Karte: CIA World Factbook via Wikimedia Commons)

Arktisstrategie der EU

Die aktuelle Arktisstrategie der EU ist im „Joint Communication to the European Parliament and the Council: An integrated European Union policy for the Arctic“ festgehalten. Diese Strategie betont die Bedeutung der Arktis als ein einzigartiges Ökosystem und bekräftigt das Engagement der EU für die Nachhaltigkeit, den Umweltschutz, die wissenschaftliche Forschung und die Förderung der Zusammenarbeit in der Region. Ferner werden konkrete Maßnahmen zur Bewältigung des Klimawandels, zur Förderung von Frieden und Sicherheit sowie zur nachhaltigen Entwicklung skizziert. Die EU bemüht sich um Sicherheitspolitik in der Arktis, insbesondere im Bereich der maritimen Sicherheit, da die zunehmende Erschließung der Region aufgrund des Klimawandels zu verstärkter Schifffahrt führt. Die maritime Sicherheit ist aufgrund der rauen Umweltbedingungen, des begrenzten Rettungsdienstes und daraus resultierenden Katastrophen von großer Bedeutung. Durch die Entwicklung einer umfassenden maritimen Sicherheitsstrategie trägt die EU dazu bei, die Umwelt zu schützen und die Sicherheit von Schifffahrtswegen zu gewährleisten. Eine effektive maritime Sicherheitsstrategie ist daher ein wichtiger Bestandteil der Sicherheitspolitik der EU.

Es ist anzumerken, dass es keine spezielle Militärstrategie im herkömmlichen Sinne seitens der EU für die Arktis gibt, die auch von der NATO abgekoppelt wirkt. Die EU setzt auf zivile Maßnahmen, multilaterale Kooperation und Diplomatie, um potenzielle Konflikte zu vermeiden und Herausforderungen zu lösen. Eine sicherheitspolitische Strategie in der Region wird dann von den einzelnen arktischen Anrainerstaaten sowie der NATO verfolgt. Daher ist es von entscheidender Bedeutung, dass die EU auch eine gemeinsame sicherheitspolitische Doktrin für die Arktis entwickelt, um Konflikten begegnen zu können, die aufgrund des wachsenden Potenzials und der globalen Lage ausbrechen könnten. Diese müssten unabhängig von ihren transatlantischen Verbündeten funktionieren. Ansatzpunkte für eine autarke Sicherheitsdoktrin wären die Erarbeitung eines Krisenplanes, der Aufbau einer ernstzunehmenden maritimen Präsenz, europäische Übungen bei gleichzeitiger Beibehaltung der NATO-Manöver, die Betonung der Bedeutung der Arktis für alle europäische Staaten sowie der verstärkte Austausch von Informationen. Um die an erster Stelle stehenden präventive Diplomatie und Konfliktvermeidung zu fördern, sollte die EU ihre diplomatische Zusammenarbeit mit allen Akteuren in der Arktis und solche, die sich in Zukunft platzieren möchten, intensivieren.

Ausblick

Trotz der ausformulierten Strategie scheint die EU die historische sowie künftige Bedeutung der Arktis und die durch ihr Potenzial entstehenden Spannungen zumindest offiziell nicht zu berücksichtigen. Es ist lobenswert, dass die EU als Friedensvermittler auftritt und über ein maritimes Sicherheitskonzept verfügt. Möglichen Ansprüchen um die Kontrolle von Ressourcen und zukünftigen Seewegen darf die EU jedoch nicht naiv begegnen. Die Geschichte zeigt, dass die Region stets ein Raum bedeutender Seerouten war und sein wird, von denen Europa abhängig sein kann. Hieraus leitet sich die gesamteuropäische Verantwortung ab, Interessen zu wahren und mögliche Konflikte im arktischen Raum als realistisch zu erachten, sie frühzeitig entschärfen oder im Konfliktfall souverän agieren zu können. Die Erfahrungen des russisch-ukrainischen Krieges zeigen, dass die EU eine sicherheitspolitische Doktrin entwickeln muss, die auch unabhängig von der NATO funktionieren kann. Wollen die EU-Staaten in einer bi- oder multipolaren Weltordnung weiterhin Gewicht haben, so müssen sie als Staatenbund auftreten. Ein gemeinsamer, sicherheitspolitischer Blick auf die Arktis wäre hierfür ein wichtiges Zeichen.

 

Autoreninfo:

Hannes Fritz hat an der Rheinisch-Westfälischen Technischen Hochschule Aachen seinen B.A. in Gesellschaftswissenschaften abgeschlossen. Er macht dort aktuell sein Masterstudium der Politikwissenschaft mit dem Fokus auf internationale Beziehungen.

Leonard Kleiber hat an der Universität Heidelberg seinen B.A. in Geschichte und Ethnologie abgeschlossen. An der Universität Potsdam macht er aktuell sein Masterstudium der Geschichtswissenschaften.

 

Literaturtipps:

 


Dieser Beitrag stammt aus den SiPol-News des Sachgebietes Sicherheitspolitische Arbeit. Die SiPol-News können Sie hier abonnieren.

 

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