Europäische Sicherheitspolitik im Spannungsfeld von NATO und EU
Europa zu verteidigen ist eine komplexe und undankbare Aufgabe. Im Stimmengewirr aus EU, NATO und regionalen Organisationen muss eine gemeinsame Linie für rund dreißig Staaten gefunden werden. Auch die Rolle der USA und die immer wiederkehrende Frage nach der fairen Lastenteilung zwischen den Staaten sind Reibungspunkte. Der externe Schock des russischen Angriffskrieges auf die Ukraine und die damit einhergehende Verkündung der gerade im Ausland viel beobachteten Zeitenwende scheinen damit aufzuräumen. Doch wo genau liegen die Verstrickungen, was sind die Knackpunkte und wie lässt sich die Verteidigung Europas straffen, vereinheitlichen und auf eine politische Linie bringen?
Endlich ist sie da: Die Nationale Sicherheitsstrategie für Deutschland. Weit hinten versteckt im Koalitionsvertrag war sie eigentlich noch für das erste Jahr der neuen Bundesregierung angekündigt. Nach einigen Aufschüben und hartem Ringen um inhaltliche Punkte dauerte es nun rund ein halbes Jahr länger als geplant. Dass sie inhaltlich so dünn ausfällt, wie vielerorts bereits jetzt kritisiert wird, beruht auf zwei Gründen: Erstens ist, anders als etwa beim Weißbuch der Bundeswehr 2016, eine viel größere Breite an Ressorts an der Erstellung der Strategie beteiligt gewesen. In Berlin ist derzeit häufig zu hören, dass vor allem das Finanzministerium in der Schlussredaktion noch viele fromme Wünsche aus dem Papier hat streichen lassen. Die Haushaltslage ist durch Pandemie, Inflation und Russlands Angriffskrieg in der Ukraine bereits jetzt schon zu angespannt für viele der ambitionierten Projekte der Ampel. Allein der Passus, dass alle Vorhaben im Einklang mit der Schuldenbremse durchzuführen seien, spricht Bände. In Kreisen des Verteidigungsministeriums ist die Rede von einer „Palliativmaßnahme“. Zweitens aber ist die Bundesrepublik in ihrem Handlungsspielraum für eigene Impulse im Bereich der Außensicherheit zu sehr eingespannt in Systeme der kollektiven Verteidigung, als dass sie dort viel eigene Kreativität ausleben könnte. Zumal die Erstellung des Papiers hinter die Veröffentlichungen der zwei wichtigsten strategischen Papiere in der westlichen Hemisphäre fällt, nämlich der Ende 2021 veröffentlichten Vision „NATO 2030“ und dem im März 2022 veröffentlichten „Strategischen Kompass“ der EU.
Neue NATO-Strategie
Die NATO versucht mit ihrer neuen Strategie die Vielstimmigkeit im Bündnis zu konsolidieren. Für die Zukunft des Bündnisses wird es unabdingbar sein die zunehmende politische Heterogenität, insbesondere den – je nach Wahlergebnissen – drohenden Isolationismus der USA, aufzufangen. Das Gezerre um den NATO-Beitritt Schwedens führt uns gerade drastisch vor Augen, wie weit sich einige Partner vom vermeintlichen Konsens über die Wertegemeinschaft NATO entfernt haben. Dabei wirkt das Vorgehen bei näherer Betrachtung reichlich hilflos. Bedrohungen außerhalb der konventionellen Gefährdungen für die Existenz des Westens und der liberalen Weltordnung werden weiterhin nur kommentiert, nicht angegangen. Es lässt den Leser ein wenig ratlos zurück, dass die NATO ihr Fähigkeitsprofil für die Reaktion auf einen hochintensiven konventionellen Krieg in Europa verbessern will, obwohl mit einem solchen vorerst nicht mehr zu rechnen ist.
Die regelmäßigen Berichte des britischen Geheimdienstes über die russischen Verluste in der Ukraine machen deutlich, dass Russland um Jahrzehnte in der Rüstung zurückgeworfen wurde. Außerhalb der nach wie vor ernstzunehmenden Nuklearbedrohung hat das strategische Gewicht Russlands in Europa massiv abgenommen. Das umfasst vor allem die russischen Hochwert-Einheiten, dazu kommen immense Material-Verluste und eine Rüstungs-Industrie, die ohne westliche Elektronik-Bauteile auskommen muss. Militärisch und (kriegs-)wirtschaftlich betrachtet liegt Russland am Boden, völlig unabhängig vom weiteren Verlauf des Ukraine-Krieges. Doch die NATO bereitet sich nicht auf Fallout-Effekte eines zerfallenden Russlands vor, sondern hält mit „more of the same“ eine verstärkte Strategie des status quo ante vor. Allerdings kann vor allem mit Blick auf die völlig unklare Zukunft Russlands die Gefahr an der Ostflanke damit nicht ad acta gelegt werden. Es sind endlos viele verschiedene Szenarien denkbar, denen die NATO lieber besser als schlechter vorbereitet gegenüberstehen sollte.
Gefahr erkannt, Gefahr ignoriert?
Die reine Anerkennung des Klimawandels als „sicherheitspolitischen Bedrohungsmultiplikator“, wie es sowohl bei NATO als auch bei der EU heißt, zeigt, dass der Westen dessen Bedeutung nach wie vor unterschätzt (auch wenn die aggregierte Haltung der Nationalstaaten hier weiter sein dürfte als die vorherrschende Meinung in der sicherheitspolitischen Teil-Öffentlichkeit). Sicherlich ist es richtig zunehmende Push-Faktoren in der Migration, veränderte Herausforderungen auf den Schlachtfeldern der Zukunft, strategische Veränderungen durch das Abschmelzen des Arktis-Eises, die zu erwartende Zunahme an humanitären Einsätzen, Instabilität durch zum Beispiel Desertifikation in Subsahara-Afrika zu benennen. Es zeigt aber auch die Engstirnigkeit des Ressort-Denkens, den Klimawandel selbst nicht als wichtigstes Sicherheitsrisiko dieser und kommender Generationen anzuerkennen. Das Versprechen von Bundesaußenministerin Annalena Baerbock, mit der Nationalen Sicherheitsstrategie aus dem Silo-Denken auszubrechen, wird nicht erfüllt. Auch hier wird zwar festgestellt, dass die Klimakrise unsere Lebensgrundlagen bedrohe, doch mehr als weiche Formulierungen à la „wir müssen mehr tun“ gibt es nicht. Operative Formulierungen oder feste Zielgrößen sucht man vergebens.
Apropos Klimawandel: „Russland ist der Sturm, China ist der Klimawandel“ lautet ein viel zitiertes Bonmot von Bundesverfassungsschutzpräsident Thomas Haldenwang. Das zielt nicht nur auf die global veränderte Bedrohungslage ab. Es meint, dass der Sicherheitsbegriff eben nicht eindimensional auf militärische Abschreckung eingedampft werden darf. Denn die Art der russischen Bedrohung für das innere Gefüge Europas ist eine grundsätzlich andere als die der chinesischen. Es zielt aber nicht nur auf die Mehrdimensionalität von Sicherheit ab, sondern ist auch ein Wink in Richtung eines anderen ungeliebten Themas in der deutschen außen- und sicherheitspolitischen Debatte, nämlich dem der Lastenteilung. Ein naheliegender Taschenspielertrick in den kommenden Haushaltsdebatten wird sein, diese beiden Themenblöcke gegeneinander auszuspielen – eine mehrdimensionale Sicherheitsdefinition lädt schließlich dazu ein, ressortübergreifend Ressourcen anzurechnen, um vermeintliche Mehrausgaben zu belegen. Dabei sollte nicht in Vergessenheit geraten, dass die vielbeschworene „Zeitenwende“ keinesfalls die erste ihrer Art ist, denn bereits seit der völkerrechtswidrigen Annexion der Krim durch Russland 2014 wurde in Deutschland angestrebt, die Ressourcenverteilung zwischen Auslandseinsätzen und Aufgaben der Landes- und Bündnisverteidigung ins Gleichgewicht zu bringen.
Doppelte Strukturen, halbe Effektivität
Die Überschneidung der staatlichen Kooperationsebenen birgt das Risiko von Doppelstrukturen. Im sicherheitspolitischen Sprech wird das gern als single set of forces bezeichnet, also die banale Feststellung, dass jeder Panzer und jeder Soldat genau einmal vorhanden sind und folgerichtig nicht in verschiedenen Verwendungen gleichzeitig gebunden sein können. Aus in der Hauptsache politischen Gründen gibt es daher ein System der Kontingente. In der Praxis ist Europas Verteidigung, schaut man beispielsweise auf die Enhanced Forward Presence (EFP) in Litauen, längst als multinationaler Einsatz aufgebaut. Insofern ist die „Rückbesinnung auf das militärische Kerngeschäft“, als die Re-Fokussierung der Bundeswehr auf den Einsatzbereich der Landes- und Bündnisverteidigung (LV/BV) intern propagiert wurde, illusorisch. Russlands Angriffskrieg auf die Ukraine hat gezeigt, dass die Abschreckung zum Feind getragen werden muss, nicht umgekehrt. Wenn also die kontinentale Verteidigung in Europa das oberste Ziel europäischer Verteidigungspolitik bleibt, so sollte sie das auch ernstnehmen. Dennoch tragen die USA de facto nach wie vor den größten Teil der Sicherheitslast, auch wenn sich die Rhetorik verändert hat. Immerhin sind sie größter Hilfsmittelgeber der Ukraine und tragen bei Übungen wie dem gerade stattfindenden Air Defender 2023 einen Großteil der logistischen Last und des Materials – von 250 für die Übung nach Deutschland verlegten Flugzeugen sind 100 aus den USA. Wenn die USA die Lastenteilung für die Abschreckung Chinas vor einer Invasion Taiwans und die allgemeine Sicherheit der Seewege im Indopazifik übernehmen sollen – der europäische Beitrag ist auf diesem Gebiet bislang nicht messbar und würde eine grundlegend neue Aufstellung der europäischen Verteidigungsinfrastruktur verlangen – muss noch viel geschehen.
Bliebe also die Frage, was derzeit an eigenen Projekten in EU und NATO vorangetrieben wird, um, wenn schon nicht strategisch autonom, so doch ein Stück unabhängiger zu werden. Zur Illustration werden im Folgenden drei aktuelle Projekte skizziert, die Schwierigkeiten und Chancen von multilateraler Kooperation im EU-NATO-Kontext aufzeigen. Zuerst gibt es das System der Permanent Structured Cooperation (PESCO), das Barrieren in der Interoperabilität zwischen den EU-Mitgliedsstaaten abbauen soll. Im Rahmen von PESCO gibt es auch einige kleinere Beschaffungsprojekte, an denen allerdings nie alle Mitgliedsstaaten zugleich beteiligt sind. PESCO ist als Handlungsrahmen schon mehrfach von US-amerikanischer Seite kritisiert worden, denn viele der Ideen und Aufgaben von PESCO seien nach ihrer Auffassung eigentlich NATO-Aufgaben. Hier zeigt sich ein dauerhaftes Dilemma im Streben der EU nach zunehmender strategischer Autonomie, denn ein Mehr in der Lastenübernahme seitens der EU bedeutet oft gleichzeitig ein Weniger an Einfluss für jene NATO-Verbündeten, welche keine EU-Mitgliedsstaaten sind. Das gelegentlich scherzhaft als „Panzer-Schengen“ bezeichnete Projekt der Military Mobility findet ebenfalls im Rahmen der PESCO statt, allerdings unter Beteiligung der USA. Hier geht es darum, Verlegefähigkeiten zwischen den EU-Mitgliedsstaaten zu verbessern, hin bis zu vermeintlich banalen Dingen wie Straßenzulassungen für Kampffahrzeuge.
Ein weiteres aktuelles Projekt findet derzeit unter dem Namen Future Combat Air System (FCAS) statt. Hier soll der Mehrzweck-Kampfjet der nächsten Generation entwickelt und zur Serienreife gebracht werden. Es ist derzeit noch vollkommen unklar, wie das Endprodukt aussehen wird. Bleibt es bei einem menschengelenkten Jet oder wird es eher eine „Kampfwolke“ aus Drohnen geben? Unterschiedliche Vorstellungen – auch ethischer Natur – zu autonomen Waffensystemen treffen hier genauso aufeinander wie das leidige Thema der Rüstungsexporte. Teilnehmerländer des bis 2040 angepeilten Vorhabens sind derzeit Frankreich, Deutschland und Spanien. Die Unsicherheiten des Projektes und die häufig zu optimistischen Prognosen haben dazu geführt, dass einige EU-Staaten in den letzten Jahren US-amerikanische F-35 als „Lückenfüller“ für die aktuelle Multifunktionsjet-Generation beschaffen mussten. Strategische Kohärenz sieht anders aus.
Zuletzt sei das neuste Vorhaben von 15 europäischen Staaten erwähnt, das kurz nach dem Einmarsch Russlands ins Leben gerufen wurde: Die European Sky Shield Initiative (ESSI). Unter deutscher Federführung sollte als Antwort auf Sorgen in der Bevölkerung vor russischen Raketenangriffen ein europäisches Luftverteidigungssystem geschaffen werden. Abermals geht es um großangelegte Beschaffungsprojekte für sehr spezifische Fähigkeiten. Dabei verfügt die NATO bereits über einen Verbund von Luftverteidigungssystemen, nämlich das NATO Integrated Air and Missile Defence System (NATINAMDS), das auch die vor allem im Baltikum aktiven NATO Air Policing Missionen überwacht. Allerdings hatte ausgerechnet hier die Türkei mit dem Erwerb russischer Systeme (bei gleichzeitiger Stationierung von Systemen amerikanischer Bauart unter deutschem Kommando) nicht nur den Bündnispartnern Unmut bereitet, sondern auch die technische Zusammenarbeit einzelner Systemkomponenten verunmöglicht. Also wird auch hier letzten Endes eine Doppelstruktur notwendig sein.
Leben in der Lage
Abschließend bleibt also festzuhalten, dass bei allem Gerede über „Strategie“ und „Autonomie“ die sicherheitspolitischen Realitäten in Deutschland, EU und NATO bis auf weiteres aus einem Geflecht an gleichzeitigen und überschneidenden Einzelprojekten bestehen bleiben werden. Das ist einerseits ernüchternd, andererseits aber eben erwartbar, denn für einen „großen Wurf“, welcher politischen Richtung auch immer, braucht es in EU und NATO eben nicht nur Mehrheiten, sondern auch Konsens. Der ist aber bereits dann nicht erreicht, wenn ein Staat seine Interessen nicht berücksichtigt sieht und bei insgesamt 35 Staaten, von denen 23 in beiden Organisationen vertreten sind, nicht weiter verwunderlich. Die vermeintlichen Allianzen einiger Mitgliedsstaaten mit Gegnern der Wertegemeinschaft haben sich als wenig belastbar herausgestellt. Auch Ungarn und die Türkei wurden durch den Krieg in Europa zu einer Rückkehr an die gemeinsame Linie gezwungen. Trotzdem ist dieses Störfeuer etwas, was die Staatengemeinschaften weiterhin ausbremsen wird.
Autor:
Roland von Kintzel hat in Düsseldorf und Jena Soziologie, Medienwissenschaft und Politikwissenschaft mit Schwerpunkt Politische Ideengeschichte studiert. Seine Forschungsinteressen liegen im Bereich der Europa- sowie der Sicherheits- und Verteidigungspolitik. Derzeit bereitet er sich auf seine Promotion vor.
Literaturtipps:
- Bundesregierung (2023): Wehrhaft. Resilient. Nachhaltig. Integrierte Sicherheit für Deutschland: Nationale Sicherheitsstrategie.
- North Atlantic Treaty Organization (2021): NATO 2030: Making a Strong Alliance Even Stronger.
- Rat der Europäischen Union (2022): Ein Strategischer Kompass für mehr Sicherheit und Verteidigung der EU im nächsten Jahrzehnt.
Dieser Text stammt aus dem Sicherheitspolitischen Newsletter des Sachgebietes Sicherheitspolitische Arbeit. Diesen können Sie hier abonnieren.