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European Sky Shield – Renaissance der europäischen Luftabwehr?

Es ist kurz vor Mitternacht, als die Drohne vom Typ Tu-141 in den rumänischen Luftraum eindringt und unbehelligt über Ungarn bis nach Kroatien fliegt. Eine Dreiviertelstunde später schlägt sie in Zagreb ein und glücklicherweise kamen nur wenige Autos zu Schaden. Obwohl die Drohne auf dem Radar erschien, wurde sie nicht abgeschossen, was zu großer Kritik an der europäischen Luftabwehr führte. Der Vorfall zeigt auch die Strahlwirkung des ukrainisch-russischen Krieges auf unbeteiligte Staaten, die durch sich häufende Luftraumverletzungen in Polen weiter zunimmt. Zwar verfügt die NATO mit dem NATO Integrated Air Defense System (NATINADS) über eine Bündnisluftverteidigung, die sich aber vor allem auf die USA stützt. Die im August 2022 von Deutschland initiierte European Sky Shield Initiative (ESSI) soll den großen Nachholbedarf decken. Doch wie will die ESSI den europäischen Beitrag gewährleisten, welche Chancen und Probleme bietet sie und was sind die Gründe für die schwache europäische Luftverteidigung?

(Foto: Lance Cpl. Alyssa Chuluda via Wikimedia Commons)

Mit dem Ende des Kalten Krieges galt ein großer Krieg in Europa als unwahrscheinlich. Europäische Armeen priorisierten fortan die Krisenintervention gepaart mit radikalen Einsparungen, was den sukzessiven Niedergang der Luftabwehr bedeutete. Das NATINADS existiert zwar weiterhin, büßte mit dem Abbau der Luftverteidigungsgürtel des Kalten Krieges jedoch dramatisch an Schlagkraft ein. Gerade europäische Staaten maßen der Luftabwehr in künftigen Konflikten eine untergeordnete Rolle bei. Beispielhaft hierfür ist die deutsche Heeresflugabwehr: Von 36 Patriotstaffeln existieren heute noch 11. Die Systeme Gepard und Roland wurden bis 2010 vollständig ausgemustert und 2012 wurde die Truppengattung der Heeresflugabwehr schließlich aufgelöst. Die restlichen Systeme wurden in die Luftwaffe integriert.  Die deutsche Luftabwehr könnte Stand 2024 gerade einmal die Fläche Berlins decken, die Situation in anderen Ländern ist vergleichbar.

Notwendigkeit der Luftabwehr

Der russische Überfall auf die Ukraine 24. Februar 2022 zeigte, dass man sich mit der Wette auf ein Ende der Kriegsgeschichte verspekuliert hatte. Die sicherheitspolitischen Anforderungen veränderten sich über Nacht, die bodengebundene Luftabwehr ist für die Ukraine überlebenswichtig. Ob auf strategischer Ebene zum Schutz der Bevölkerung und der Infrastruktur oder auf dem Gefechtsfeld zur Abwehr von Helikoptern und Kampfflugzeugen. Der massive Einsatz von Drohnen erweitert das Aufgabenfeld der Luftabwehr zusätzlich und trägt zur Renaissance der Kanonenflugabwehr bei, die ironischerweise totgeglaubt wurde.

Der von Russland mit hoher Intensität geführte Luftkrieg und die anfängliche materielle Ohnmacht europäischer Staaten darauf zu reagieren, offenbarte schwerwiegende Fähigkeitslücken. Die von Bundeskanzler Olaf Scholz im August 2022 angekündigte und von Deutschland angeführte ESSI soll hierzu einen wichtigen Beitrag leisten. Die Initiative hat nicht das Ziel, NATO-Strukturen zu ersetzen, sondern den europäischen Pfeiler der bodengebundenen NATO-Luftverteidigung in Europa zu stärken. Kernelement ist die gemeinsame Beschaffung bodengebundener Luftabwehrsysteme.  Hieraus ergeben sich drei Vorteile. Einerseits senken größere Bestellungen die Beschaffungskosten. Zweitens ermöglicht die Nutzung der gleichen Systeme gemeinsame Ausbildung, Logistik, Instandhaltung und Materialerhaltung, was sich positiv auf die Betriebskosten auswirkt. Die anvisierte Interoperabilität erhöht zusätzlich den operativen Einsatzwert der Systeme und damit des europäischen Luftabwehrschirms. Drittens soll die ESSI die europäische Rüstungsindustrie ankurbeln. Eine Besonderheit und Stärke ist, dass sie auch Nicht-Mitgliedern der EU- oder NATO offensteht. So traten der Initiative mittlerweile auch Österreich und die Schweiz bei, sodass stand November 2024 insgesamt 21 Nationen vertreten sind.

Die Gründungsmitglieder 2022 (dunkelgrün) und beigetretenen Staaten (hellgrün) des ESSI. (Karte: Derkoenig via Wikimedia Commons)

Technisches Gerüst der ESSI

Die ESSI sieht die Beschaffung von Systemen für vier Abfangschichten vor. Für den Nahbereich von bis zu 15 Kilometern sowie 6 Kilometern Höhe und den Schutz auf taktischer Ebene ist das mobile System Skyranger von Rheinmetall in zwei verschiedenen Konfigurationen vorgesehen. In der ersten Version, die vor allem gegen Drohnen wirken soll, besteht die Bewaffnung aus einer 30 × 137 mm Kanone, deren Kadenz von 1200 Schuss pro Minute ungefähr der des Gepards entspricht. In einer zweiten Version wird das System mit IRIS-T SLS Flugkörpern für kurze Reichweite ausgestattet. Für die Abwehr von Flugzeugen und Helikoptern auf mittlere Distanz soll das System IRIS-T in der Version für mittlere Reichweiten (SLM) beschafft werden. Eine 140 Millionen Euro teure Feuereinheit besteht aus Radar, Feuerleitstand und mehreren Startern. Obwohl das System recht neu ist, bewährte es sich bereits im Feuerkampf: Seit 2022 nutzt die ukrainische Luftverteidigung IRIS-T SLM und SLS erfolgreich zur Abwehr verschiedener Bedrohungen, laut der ukrainischen Regierung mit einer Trefferquote von über 90 Prozent.

Die Abwehr von Bedrohungen aus großer Entfernung von bis zu 100 Kilometern und 35 Kilometern Höhe soll das ebenfalls bewährte MIM-104 Patriot-System sicherstellen, das schon von einigen ESSI-Staaten genutzt wird. Der Fokus liegt hier vor allem auf der Beschaffung ausreichender und in Europa produzierter Munition, die bereits vertraglich vereinbart wurde. Die größte Fähigkeitslücke besteht im Bereich der sehr großen Entfernungen von über 100 Kilometer und über 35 Kilometern Höhe, konkret gesprochen für die Abwehr von ballistischen Mittel- und Langstreckenraketen mit konventionellen oder nuklearen Gefechtsköpfen. Hierfür plant die ESSI das israelisch-amerikanische System Arrow 3 zu beschaffen. Die Hyperschallflugkörper haben eine Reichweite von bis zu 2400 Kilometern und können Ziele außerhalb der Atmosphäre abfangen. Auch Arrow 3 ist seit 2023 kampferprobt und trug beispielsweise zur Abwehr des kombinierten Angriffs des Iran auf Israel im April 2024 bei. Die Wahl von Arrow 3 ist umstritten, da es im Unterschied zu anderen Systemen, wie dem amerikanischen Ground-Based Midcourse Defense, erst mit hohem Aufwand in die technisch-operative Struktur der NATO integriert werden muss. Auch untergräbt die Beschaffung eines israelischen Systems das Ziel der ESSI, Europas industrielle und technologische Verteidigungsbasis zu stärken. Ökonomisch gilt das auch für das Patriot System, das wiederum schon lange in der NATO dient und integriert ist.

Kritik und Probleme

Die ESSI wird auch aufgrund ihrer wirtschaftlichen Verflechtungen und die damit verbundenen geopolitischen Implikationen kritisiert. Vor allem Frankreich und Italien äußern Bedenken, wobei insbesondere die starke Abhängigkeit von großen Waffenherstellern aus Deutschland, den USA und Israel in der Kritik steht. Ein Beispiel ist Diehl Defence, deutscher Hersteller von IRIS-T. Das Unternehmen hat seine Produktion in diesem Jahr verdreifacht und plant, diese weiter auszubauen. Das Arrow 3 System wird von Raytheon geliefert, einem der weltweit größten Rüstungshersteller, dessen Hauptaktionäre die drei größten Kapitalverwaltungsgesellschaften Vanguard Group, State Street und BlackRock sind. Diese Verflechtungen werfen Fragen zur Rolle des Militärs im kapitalistischen System auf, da die Bevölkerung mit Steuern zur Finanzierung solcher Projekte beiträgt, während nur eine kleine Elite von staatlich geförderten Vermögensübertragungen profitiert.

Das bodengestützte Flugabwehrraketen-System IRIS-T SLM von Diehl Defence. (Bild: Matti Blume via Wikimedia Commons)

Dennoch hat die ESSI einen großen strategischen Wert. Sie stärkt die militärische Verteidigung Europas und fördert die Zusammenarbeit innerhalb der NATO und der Europäischen Union. Das Projekt könnte die Abhängigkeit von nationalen Verteidigungssystemen verringern und die Handlungsfähigkeit Europas in Krisenzeiten erhöhen. Kritiker bemängeln, dass die ESSI hierzu nicht in der Lage ist. Beispielsweise ist Arrow 3 zwar darauf ausgelegt, ballistische Mittelstreckenraketen außerhalb der Atmosphäre abzufangen, es sei jedoch unklar, inwieweit Russland über solche Raketen verfüge. Der jüngste Angriff einer Mittelstreckenrakete auf Dnipro zeigt leider, dass diese Waffen nicht nur einsatzbereit sind, sondern auch eingesetzt werden.

Die ESSI ist auch ein geopolitisches Projekt. Sie ist Teil der euroatlantischen militärischen Integration und steht im Kontext der Expansion der NATO sowie des zunehmenden militärischen Engagements der USA in Eurasien. Das Projekt ist nicht nur wegen des russisch-ukrainischen Krieges, sondern auch im Hinblick auf die wachsenden Spannungen zwischen den USA und China sowie den Kriegen in Nahost von Bedeutung. Viele Länder erweitern ihre Arsenale ballistischer Raketen, was das globale Wettrüsten weiter anheizt. Die ESSI könnte die europäische Sicherheitsarchitektur nachhaltig verändern, indem es eine gemeinsame Luftabwehr schafft, die Europa unabhängiger von den USA macht und in die Lage versetzt, Luftbedrohungen eigenständig abzuwehren. In Anbetracht der Krise mit Russland und der Gefahr von Raketenangriffen ist diese Fähigkeit essenziell. Durch die Bündelung von Ressourcen und Expertise kann eine kohärente Verteidigungsstrategie entwickelt werden, die das Vertrauen und die Zusammenarbeit unter den europäischen Ländern stärkt. Obwohl die ESSI ein defensives Projekt ist, könnte Russland sie als Bedrohung wahrnehmen und mit entsprechenden Maßnahmen beispielsweise einer Aufstockung des Raketenarsenals, der Stationierung von Systemen an den Grenzen zu ESSI-Ländern und einer Intensivierung von Allianzen mit dem Iran, Nordkorea oder China, reagieren.

Auch Nicht-EU-Staaten wie Serbien könnten sich durch die Initiative marginalisiert fühlen, was zu politischen und militärischen Spannungen führen kann. Insbesondere könnten diese Staaten den Eindruck gewinnen, dass ihre Sicherheitsinteressen bei der regionalen Zusammenarbeit vernachlässigt werden. Es entstünden Neuorientierungen, die den strategischen Wert dieser Staaten erhöhen. Die ESSI kann langfristig zu einer Verschiebung der globalen Sicherheitsdynamik führen, bei der Europa eine aktivere Rolle in der internationalen Sicherheitsordnung übernimmt. Das würde die transatlantischen Beziehungen verändern und geopolitische Dynamiken beeinflussen. Eine intensivere militärische Zusammenarbeit in Europa könnte auch zu einem Anstieg der Verteidigungsausgaben innerhalb Europas führen und den militärischen Wettbewerb verschärfen, da einige Staaten ihre eigenen Kapazitäten ausbauen möchten.

Fazit

Die gegenwärtige Lage zeigt die erheblichen Lücken und Mängel der europäischen Luftverteidigung auf. Wachsende globale Spannungen sowie Bedrohungen durch Drohnen, Hyperschallraketen und ballistischen Raketen kontrastieren diese Entwicklung. Der methodische Ansatz der ESSI, eine Luftabwehr für alle Abfangschichten aufzubauen, die gemeinsame Beschaffung sowie Interoperabilität zu fördern und die europäische Verteidigungsindustrie zu stärken, ist prinzipiell richtig. Der Weg jedoch ist steinig: Technische Unsicherheiten, geopolitische Spannungen und wirtschaftliche Abhängigkeiten von internationalen Rüstungsriesen bremsen die Fortschritte. Zudem bleibt die Frage offen, ob die ESSI wirklich das Niveau der Unabhängigkeit und Effizienz erreichen kann, das Europa benötigt. Die Initiative ist ein erster wichtiger Schritt, könnte aber angesichts der aktuellen Herausforderungen eher ein Funke als eine umfassende Lösung sein. Die Abwesenheit wichtiger Staaten wie Frankreich oder Italien ist beispielhaft für den Teilerfolg der ESSI.

Mit weiterem Engagement, attraktiven Angeboten und einer konsequenten Umsetzung könnte die ESSI den Grundstein für eine belastbare europäische Sicherheitsarchitektur legen und langfristig zu größerer Unabhängigkeit beitragen. In einer Zeit, die zunehmend von Ungewissheit und Instabilität geprägt ist, was ein erneutes Wetten auf die Zukunft gefährlich macht, ist die europäische Selbstständigkeit nicht nur wünschenswert, sondern unabdingbar. Aufgrund der zunehmenden Unsicherheit in Bezug auf die amerikanische Politik und die unvorhersehbaren Handlungen des kommender US-Präsidenten, kann sich Europa nicht länger blind auf die Vereinigten Staaten verlassen.

 

Autoreninfo:

Hannes Fritz hat an der Rheinisch-Westfälischen Technischen Hochschule Aachen seinen B.A. in Gesellschaftswissenschaften abgeschlossen. Er macht dort aktuell sein Masterstudium der Politikwissenschaft mit dem Fokus auf internationale Beziehungen.

Leonard Kleiber hat an der Universität Heidelberg seinen B.A. in Geschichte und Ethnologie abgeschlossen. An der Universität Potsdam macht er aktuell sein Masterstudium der Geschichtswissenschaften.

 

Literaturtipps:

 


Dieser Beitrag stammt aus den SiPol-News des Sachgebietes Sicherheitspolitische Arbeit. Die SiPol-News können Sie hier abonnieren.
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