Exkursion auf den Spuren der Atombombe
Die Reservistenkameradschaft Gera hat sich bei einer sicherheitspolitischen Veranstaltung mit der bergmännischen Gewinnung jenes Stoffes befasst, der für Kernbrennstäbe und Nuklearsprengköpfe verwendet wird: Uran. Zu DDR-Zeiten gab es eine Abbaustätte, die Material für das sowjetische Atomprogramm lieferte. Ohne es vorherzusehen, bekam der Blick der Landesgruppe Thüringen in ein Kapitel DDR-Geschichte in den vergangenen Wochen einen erschreckend aktuellen Bezug zur Realität.
Die Mitglieder der RK Gera begaben sich auf die Spuren des Uran-Abbaus in der DDR. Die Reise in die Vergangenheit führte sie an eine zur Zeit des Kalten Krieges militärisch relevante Verkehrsverbindung von Osten nach Westen, einen Eisenbahntunnel, bei Ronneburg. Diese Stelle soll als Zielpunkt eines Kernwaffenschlages in entsprechenden Kriegsszenarien vorgesehen gewesen sein. Das gehe aus mittlerweile freigegeben Unterlagen aus den 1970er Jahren hervor. Demzufolge hätte es sich um eine angenommene Sprengkraft gehandelt, die das Zweifache der Hiroshima-Bombe betragen hätte.
Vor diesem Hintergrund wurde den Teilnehmern der sicherheitspolitischen Veranstaltung mulmig, als sie an die Lage in Osteuropa dachten. Aus der Ukraine kommen nahezu wöchentlich neue Meldungen über die angespannte Situation an dem Atomkraftwerk in Saporischschja. Vor dem Hintergrund der militärischen Niederlagen, die die russischen Streitkräfte in den Regionen Cherson und Charkiw erlitten haben, drohte der Kreml mit dem Einsatz taktischer Nuklearwaffen.
Sipri-Bericht: Arsenale werden vergrößert
Die Mitgliedsstaaten der NATO nahmen die Drohung ernst. Militärs und Sicherheitsexperten halten trotz der Drohgebärden einen tatsächlichen Einsatz von Atomwaffen in der Ukraine für unwahrscheinlich. Sie wiesen darauf hin, dass das Spiel mit der Bombe ein Teil des Informationskrieges ist, den Russland mit der Ukraine und den NATO-Staaten führt. Die aktuellen Ereignisse in der Ukraine unterstreichen eine Analyse des Stockholmer Sipri-Instituts, dass die Bedeutung von Atomwaffen in den Militärstrategien wieder zunimmt. Alle atomar bewaffneten Staaten vergrößern oder modernisieren ihre Arsenale, stellen die Friedensforscher fest.
Im weiteren Verlauf führte der Weg für die Reservisten quer durch die Neue Landschaft. So heißt das mittlerweile renaturierte Uranbergbaugelände am Rande von Ronneburg. Dabei erfuhren die Teilnehmer viel über das Schwermetall Uran. Sie erhielten Einblicke in die industrielle Gewinnung und Aufbereitung des Erzes bis hin zum entweder militärisch oder zivil nutzbaren pulverförmigen, gelb aussehenden vierzigprozentigen Urankonzentrat. Dieser sogenannte „Yellow Cake“ ist Ausgangsstoff für die Atomindustrie.
Tarnname: Wismut
Die DDR gilt bis heute als viertgrößter Uranproduzent der Welt. Begonnen hatte der Erzabbau 1946. In dessen Folge konnte 1949 die erste sowjetische Atombombe in der kasachischen Steppe gezündet werden konnte (Versuchsgelände Semipalatinsk). Die Förderung endete 1991. Die Gesamtproduktion belief sich auf 220.000 Tonnen aufbereitetes Uran. Aus Sachsen und Thüringen kamen jeweils 50 Prozent und gingen ausschließlich an die Sowjetunion. Der vollständige Ablauf von der Erkundung der Lagerstätten bis zum Abtransport des Endproduktes war geheim (Sperrgebiete), sowjetisch dominiert und gesondert verwaltet unter dem Tarnnamen Wismut. Das ist ebenfalls ein Schwermetall, dessen Name jedoch nur zur Verschleierung dieser offen so bezeichneten Sowjetisch-Deutschen Aktiengesellschaft diente. Deren Nachfolgebetrieb Wismut GmbH ist derzeit als globaler Sanierer tätig.
Die sächsischen Reviere erstreckten sich verstreut vom Elbtal (hinter der Festung Königstein sowie am Südrand Dresdens bei Freital, Gittersee) über den gesamten Erzgebirgskamm bis in das Vogtland bei Klingenthal und Plauen. Hauptabbaugebiet war das mittlere Erzgebirge um Johanngeorgenstadt, Aue und Schlema. Das Thüringer Revier war begrenzt auf das Gebiet um Ronneburg im Osten des Freistaates, kaum fünf Kilometer entfernt von Gera. Auf einer Fläche von 100 Quadratkilometern war alles vorhanden, was jemals zur Uranproduktion notwendig war: 63 Schächte, Förder-, Material- und Wetterschächte für Lüftung, drei Tagebaue und ein großer Aufbereitungsbetrieb. Es ist die größte Uranlagerstätte Europas, noch heute werden die Vorräte auf 10-20.000 Tonnen geschätzt. Die Arbeit unter und über Tage war gefährlich. Es gab Gesundheitsschäden durch Strahlung, Unfälle, Todesopfer und häufige Grubenbrände durch Selbstentzündung.
Spuren sind noch heute sichtbar
Um das begehrte Uran zu erhalten, das nicht in reiner Form vorkommt, sondern stets gebunden an andere Gesteine ist, wurden in 45 Jahren circa eine Milliarde Tonnen Erdreich und Gestein aus dem ostdeutschen Boden geholt. Aus 205 Millionen Tonnen Uranerz gewann man in komplizierten mechanisch-chemischen Verfahren schließlich als Endprodukt jene 220.000 Tonnen „Yellow Cake“ und hinterließ dabei kontaminierte, geschundene, unansehnliche Landschaften. Insgesamt 3.000 Halden und 20 Schlammdeponien auf einer 1.000 Quadratkilometer großen Fläche: das entspricht etwas mehr als einem Drittel des Saarlandes.
Das alles ist Geschichte. In sämtlichen Revieren sind durch weltweit einmalige Sanierungsmaßnahmen wahrhaft blühende Bergbaufolgelandschaften entstanden. Allerdings dauern Renaturierung und Grundwasserreinigung voraussichtlich bis 2035 an. Das Ronneburger Areal war 2007 Bestandteil der Bundesgartenschau und ist seitdem ein beliebtes Freizeit- und Erholungsgebiet. Besucher können sich in der sehenswerten Wismut-Ausstellung Objekt 90 (ehemals Tarnname der örtlichen Grubenverwaltung) auf die Spuren der Atombombe begeben. Das unscheinbarste, zugleich aber spektakulärste Asservat, ist eine Laborflasche mit kyrillischer Aufschrift, darin ein gelbes Pulver: „Yellow Cake“.
7,5 Milliarden Euro Sanierungskosten
Übrigens: Nach 1991 wurden auch westliche Atommächte mit ostdeutschem Uran beliefert. So lagerten zum Beispiel noch 1992 im Aufbereitungsbetrieb Seelingstädt in Thüringen mehr als 3700 Fässer mit Urankonzentrat. Im sächsischen Königstein fielen aus technologischen Gründen (Untertagelaugung) bis vor wenigen Jahren (etwa 2015) geringe Mengen Uran an. Diese sowie die anderen Restbestände wurden an Frankreich und die USA verkauft, insgesamt circa 4.000 Tonnen. Dafür standen bis Mitte 2015 rund 70 Millionen Euro an Einnahmen zu Buche. Denen stehen bis heute rund 7,5 Milliarden Euro Sanierungskosten gegenüber – zur Beseitigung von Altlasten, deren unheilvoller Schatten noch weit in die Zukunft reichen wird.