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Folter ohne Folgen? Die Uiguren als Opfer der Geopolitik

Im Jahr 2022 gelangten die „Xinjiang Police Files“ an die Öffentlichkeit. Die geleakten Dokumente beweisen, was seit Jahren vermutet wird: Die Unterdrückung, Inhaftierung und Folter der Uiguren durch das chinesische Regime. Einige Fachleute bezeichnen das staatliche Vorgehen gar als Völkermord. Die Menschenrechtsverletzungen werden von westlichen Regierungen öffentlich kritisiert, haben aber bisher kaum negative Konsequenzen für China nach sich getragen. Warum verfolgt das Regime die Uiguren? Und weshalb reagiert der Westen nicht schärfer?

(Foto: Leonhard Lenz via Wikimedia Commons)

chinauigurenVölkermordXinjiang

Die Verfolgung der Uiguren gilt als größte Inhaftierung einer ethnischen oder religiösen Minderheit nach dem Zweiten Weltkrieg. Seit Beginn der staatlichen Repressionswelle 2014 wurden Schätzungen zufolge 1 bis 3 Millionen Menschen eingesperrt. Die umfassende Unterdrückung und Umerziehung des uigurischen Volkes fallen somit in die Amtszeit von Xi Jinping, der seit 2013 Präsident der Volksrepublik China ist. Das autoritäre, kommunistische Regime leugnet die Menschenrechtsverletzungen bis heute und rechtfertigt sein Vorgehen als „Kampf gegen Terroristen“.

Islamisches Turkvolk im Nordwesten Chinas

China weist eine Bevölkerung von 1,4 Milliarden auf, von denen über 91 Prozent Han-Chinesen sind. Mit fast 12 Millionen stellen die Uiguren die drittgrößte Ethnie dar. Viele der über 50 anerkannten Minderheiten unterscheiden sich sprachlich (Zhuang, Miao, Mandschu, Mongolen) von den Han-Chinesen. Hierzu zählen auch die Uiguren, die eine Turksprache und keine sino-tibetische Sprache wie die der Yi oder Tibeter sprechen. Im Gegensatz zu anderen Minderheiten kommt bei den Uiguren noch die religiös-kulturelle Unterscheidung von den Han-Chinesen hinzu: Sie praktizieren den islamischen Glauben und gehören nicht dem Buddhismus oder einer Volksreligion mit Ahnenverehrung an.

Die Zugehörigkeit zum Islam trifft auch auf weitere Volksgruppen zu. Wie die Uiguren sind die 5 Millionen turksprachigen Kasachen Muslime. Des Weiteren stellen mit über 11 Millionen die muslimischen Hui die viertgrößte Ethnie des Landes dar. Die Hui stammen mehrheitlich Ostasiaten ab, deren Vorfahren im Mittelalter zum Islam konvertierten. Im Gegensatz zu den Uiguren unterscheiden sich die Hui sprachlich und kulturell fast nicht von den Han-Chinesen. Während die Hui über ganz China verteilt anzutreffen sind, sind die Uiguren und andere Turkvölker fast ausnahmslos in der nordwestlichen Provinz Xinjiang beheimatet.

Bedeutung von Xinjiang für die chinesische Regierung

Xinjiang – von den Uiguren „Ostturkestan“ genannt – gilt aufgrund seines Rohstoffreichtums und seiner geografischen Lage als wirtschaftlich und strategisch bedeutsam. So weist die Provinz unter anderem die größten Kohle-, Erdgas- und Erdölvorkommen Chinas auf. Allein im Tarimbecken wurden in den letzten Jahren 16 Milliarden Tonnen Öl- und Gasreserven entdeckt. Wie ökonomisch wichtig Xinjiang für die chinesische Regierung ist, unterstreicht der stetige Ausbau der West-Ost-Pipeline. Die über 7.300 Kilometer langen Pipelines werden dringend benötigt, um die Ressourcen-hungrigen Metropolen im Osten des Landes zu versorgen.

Des Weiteren grenzt die Provinz an sechs Länder, die für Xi von großem Interesse sind: Die Mongolei, Russland, Kasachstan, Kirgisistan, Tadschikistan, Afghanistan, Pakistan und Indien. Bis auf die Mongolei und Afghanistan, die Beobachterstatus haben, sind alle Mitglieder in der „Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit“. Das Bündnis fokussiert sich auf sicherheitspolitische und ökonomische Kooperation. Ziel ist auch die Eindämmung des amerikanischen Einflusses in Zentralasien. Fünf der sechs Staaten sind auch Mitglied im chinesischen Wirtschaftsnetzwerk „Neue Seidenstraße“. Eine Ausnahme bildet der regionale Wirtschaftskonkurrent Indien. Dem Netzwerk gehören auch einige Länder in Süd- und Osteuropa, wie zum Beispiel Polen oder Ungarn, an. Das 2013 gestartete Projekt zielt offiziell auf die Förderung von Infrastrukturen und des globalen Handels ab. Faktisch beabsichtigt Xi den Ausbau der Rolle Chinas in der Geopolitik und Weltwirtschaft. Xinjiang stellt für die „Neue Seidenstraße“ einen zentralen Handelskorridor dar.

Die geografische Lage der Provinz Xinjiang im Nordwesten Chinas. (Bild: Weaveravel via Wikimedia Commons)

Für Peking ist die Provinz somit in vielfacher Hinsicht von großer Wichtigkeit. Eine stärkere Autonomie oder gar Unabhängigkeit von Xinjiang käme einem Kontrollverlust gleich. Dies kann und wird das Regime nicht zulassen, da von dem wirtschaftlichen Boom der Region primär die Han-Chinesen profitieren. Verschiedene uigurische Gruppen setzen sich – mit friedlichen oder militanten Mitteln – für ein unabhängiges Ostturkestan ein. Folglich werden, wie in der Provinz Tibet, separatistische Aktivitäten massiv unterdrückt. Die Attentate islamistischer Gruppen nahm Peking schließlich zum Anlass, die gesamte uigurische Unabhängigkeitsbewegung dem Terrorismus zuzuordnen. 2014 rief die Regierung die Anti-Terror-Kampagne ins Leben. Was folgte war die Errichtung eines Überwachungs- und Internierungssystem in Xinjiang.

Verfolgung und Folter vor den Augen der Welt

Die Menschenrechtsverletzungen gegenüber den Uiguren nahmen seit der Jahrtausendwende immer drastischere Züge an. Zu Beginn fokussierte sich das Regime auf die Inhaftierung politischer Aktivisten, um die Unabhängigkeitsbewegung zu schwächen. Des Weiteren forciert Peking seit den 1960er Jahren eine demografische Verschiebung in der Region. So werden verstärkt Han-Chinesen angesiedelt, um deren politischen und sozialen Einfluss in Xinjiang zu erhöhen. Ihr Bevölkerungsanteil stieg allein zwischen 2018 und 2020 von 34 auf 42 Prozent an. Dies hatte zur Folge, dass die uigurische Mehrheit von 51 Prozent auf 45 Prozent schrumpfte.

Mit der Verabschiedung des Anti-Terrorgesetzes 2014 folgte die Massenüberwachung, Indoktrinierung und gewaltsame Einschüchterung. Das Ziel: Die erzwungene Assimilierung aller Uiguren. Auch andere turksprachige Muslime wie die Kasachen sind, wenn auch in geringerem Ausmaß, davon betroffen. Wenige Jahre später wurden die ersten Internierungslager errichtet. Die Regierung spricht von „beruflichen Bildungs- und Erziehungsanstalten“ und verneint die Existenz von Lagern. Faktisch handelt es sich um ein „Gulag-System“, bei dem Menschen ohne Verfahren willkürlich inhaftiert werden. Schätzungen gehen von bis zu 3 Millionen Häftlingen aus (Stand 2019).

2019 gelang es uigurischen Exilanten geheime Regierungsdokumente an das „Internationale Netzwerk investigativer Journalisten“ zu senden. Die Veröffentlichung der „China Cables“ über die US-Organisation bewies die Existenz der Internierungslager. Diese werden durch Berichte von Gefangenen bestätigt. Lokale Dokumente belegen auch Kampagnen zur Zwangssterilisation uigurischer Frauen. Mit den 2022 veröffentlichten „Xinjiang Police Files“ kamen auch das Ausmaß der Menschenrechtsverletzungen ans Tageslicht: Misshandlungen, Vergewaltigungen, Zwangsarbeit und Folter. Einige Fachleute sprechen von einem Ethnozid oder kulturellen Völkermord.

Reaktionen des Westens und das neue Verhältnis zu Peking

Die internationalen Reaktionen auf die Verfolgung und Unterdrückung der Uiguren fallen höchst unterschiedlich aus. Unterstützt wird China von Verbündeten wie Russland, dem Iran oder Pakistan. Auch viele Staaten im Nahen Osten und Afrika verteidigen die Position Pekings, obwohl sie islamisch geprägt sind. Beispiele hierfür sind Saudi-Arabien, Katar, die Vereinigten Arabischen Emirate und Ägypten. Hintergrund ist nach Ansicht von Fachleuten das Interesse an der Stabilität der eigenen autoritären Regime. So könnte die Unterstützung der Minderheit der Uiguren die Spannungen mit ethnischen oder religiösen Minderheiten im eigenen Land anheizen.

Der Westen verurteilt Chinas Menschenrechtsverletzungen in Xinjiang. 2020 prangerten die USA, die EU und weitere Staaten das Regime in einem Statement an. Die Vereinigten Staaten beschlossen ein Sanktionsgesetz gegen chinesische Politiker, die in die Verbrechen involviert sind. Zudem wurden das Vorgehen Pekings als Genozid und Verbrechen gegen die Menschlichkeit bezeichnet. Die EU blieb zur Verabschiedung des Sanktionspakets 2021 milde. Auch das Verhalten der deutschen Regierungen galt lange als zu passiv. Erst mit der Chinastrategie der Ampel-Regierung fand ein – zumindest verbaler – Wandel statt. So forderte Außenministerin Annalena Baerbock nach Veröffentlichung der „Xinjiang Police Files“ umgehend Aufklärung. Im April 2023 sprach sie das Thema bei ihrem Antrittsbesuch in China erneut an. Peking weist bis heute alle Vorwürfe zurück. Einige Monate später bezeichnete sie Xi in einem Interview im US-Fernsehen öffentlich als „Diktator“ und kritisierte die fehlende Rechtsstaatlichkeit.

Die EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen und der französische Präsident Emmanuel Macron bei ihrem China-Besuch im April 2023. (Foto: Dati Bendo/European Commission via Wikimedia Commons)

Das Dilemma des Westens: Die wirtschaftliche Abhängigkeit von China. Diese wird oft als Grund für die lange Zeit verhaltene Kritik Europas in der Uiguren-Frage gesehen. Dem will die EU entgegenwirken und klassifizierte Peking 2019 als „systemischen Rivalen“. Zwei Jahre später legte Brüssel ein geplantes Investmentabkommen mit China auf Eis. 2023 wurde eine Strategie zur wirtschaftlichen Sicherheit vorgestellt. Das Ziel ist die Minimierung des Abhängigkeitsrisikos im Technologiebereich. Parallel wird betont, dass man den Handel nicht gefährden, sondern sogar ausbauen möchte. So ist es nicht verwunderlich, dass die EU und China auch 2023 die jeweils wichtigsten Handelspartner darstellten.

Große Reden, aber keine Veränderung

Ungeachtet der mittlerweile deutlichen Worte auf der politischen Bühne: An der Situation der Uiguren hat sich nichts geändert. Trotz der geleakten Dokumente gehen Unterdrückung, Inhaftierung und Folter vor den Augen der Welt weiter. Positiv hervorzuheben ist die gemeinsame Linie der EU und USA. Doch die Sanktionspakete sind nicht hart genug, da man Peking als Handelspartner braucht. Zudem steht der Westen mit seiner Haltung global betrachtet allein dar. Schließlich macht die Zunahme an politischen Krisen wie der Ukraine, Taiwan und Gaza es noch schwieriger, die Aufmerksamkeit des Themas hochzuhalten. So bleiben die Uiguren am Ende weiterhin ein Opfer der Geopolitik.

Im Gegensatz zu den Parlamenten der USA, Kanadas, des Vereinigten Königreichs, der Niederlande, Tschechiens, Litauens oder Frankreichs stuft der Bundestag die Verbrechen gegenüber den Uiguren bis heute nicht als Völkermord ein. Gerade Deutschland sollte angesichts der Massenmorde der eigenen Vergangenheit – wie den Völkermorden an europäischen Juden und Roma sowie in Namibia oder den Verbrechen gegen ethnische Polen – stärker die Stimme heben.

 

Literaturtipps:


Dieser Beitrag stammt aus den SiPol-News des Sachgebietes Sicherheitspolitische Arbeit. Die SiPol-News können Sie hier abonnieren.
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