Besser hätte das Timing nicht sein können. Nur wenige Stunden, nachdem der Bundestag mit großer Mehrheit für die Einführung eines Veteranentages am 15. Juni gestimmt hatte, war der Militärhistoriker Prof. Dr. Sönke Neitzel im mobilen Studio des Reservistenverbandes in Berlin zu Gast, um über den Afghanistan-Krieg zu sprechen. Nach den ersten Erfahrungen auf dem Balkan brachte dieser Einsatz, sei es im Rahmen von ISAF (Schutzmission) oder Resolute Support (Ausbildung), alle Themen in diesem Kontext mit voller Wucht auf den Tisch – und damit auch die Frage, wie die Gesellschaft mit den Veteranen der Parlamentsarmee Bundeswehr umgehen möchte. „Tod, Traumata, Kampf – die Bundeswehr ist in Afghanistan erwachsen geworden“, sagte Neitzel.
Für ihn geht es aktuell jedoch nicht um die Fakten, die bereits auf dem Tisch liegen, sondern eher darum, in die noch unbeleuchteten Ecken zu schauen. Dazu ist er auf der Suche nach „Ego-Dokumenten“, also nach Tagebüchern oder nach WhatsApp-Nachrichten. Die Erkenntnisse daraus sollen – anonymisiert – Aufschluss darüber geben, wie die Soldatinnen und Soldaten ihren Einsatz bewerten, ob sie Sinn in ihrer Tätigkeit gesehen haben. Was dem Historiker wichtig ist: „Hier findet kein ‚Blame-Game‘ statt, sondern für uns ist das ganz wichtiges Hintergrundwissen. Wir nutzen das Material nicht, um es zu veröffentlichen, sondern um zu verstehen, was los war.“
Was sind die „Geschichten von unten“?
Mit ‚wir‘ meint Neitzel sich und Oberstleutnant Dr. Helmut R. Hammerich, der am ZMSBw forscht. Denn alleine wäre die aufwändige und zeitintensive Forschung wohl kaum zu bewältigen. Neitzel geht davon aus, dass aktuell nur ein geringer Prozentsatz des Einsatzes erforscht ist. Zwar gibt es Quellen auf Seiten der Bundeswehr, etwa die offiziellen Berichte, zu denen er auch Zugang hat. Aber vielmehr sollen die persönlichen Erlebnisse auf den verschiedenen Ebenen im Mittelpunkt seiner Arbeit stehen. „Worüber haben sich die Soldaten Gedanken gemacht? Und worüber auch nicht?“, fragt sich Neitzel. „Der Einsatz war sehr vielschichtig. Neben der Bundeswehr waren ja auch rund 800 NGOs vor Ort. Und was haben die Bündnispartner über die Bundeswehr gedacht? Die Geschichte ‚von unten‘ ist ja häufig eine ganz andere. Und oft ändert sich auch eine persönliche Einstellung zu den Dingen, wenn man zum zweiten oder dritten Mal im Einsatz ist.“
Dass die bisher erschienen Bücher und Facharbeiten eine Art „Schönfärberei“ waren, glaubt sein Forschungspartner Oberstleutnant Hammerich nicht. „Beim ZMSBw sind wir ja auch in erster Linie Historiker und haben das Thema Afghanistan durchaus kritisch angefasst.“ Die Rezensionen zu seinen Arbeiten hätten das durchaus bestätigt. In der Folge möchte auch er die persönliche Ebene dieses Einsatzes näher betrachten – und daraus auch eben „lessons learned“ für die Bundeswehr ableiten.
Wer die Arbeit mit seinen Aufzeichnungen unterstützen möchte, kann sich an das Büro von Prof. Dr. Sönke Neitzel wenden: sekretariat-militaergeschichte@uni-potsdam.de. Danach ist Gedult gefragt. Die Historiker rechnen mit einem ersten Ergebnis in etwa fünf Jahren.
Spitzenwert bei der Zuschauerzahl
Der Live-Talk war ein Teil der Digitalen Ausbildung des Reservistenverbandes, moderiert von Oberstleutnant d.R. Randolf Richter und Oberleutnant d.R. Markus Flaam. In der Technik unterstützte Ralf Erdmann. Knapp 120 Zuschauerinnen und Zuschauer verfolgten die Sendung am Donnerstagabend – für ein sicherheitspolitisches Thema ein absoluter Spitzenwert!
Anmerkung: Beitrag vom 25. April. Aufzeichnung beigefügt am 14. Mai.