Debattenbeitrag: Eine starke Reserve benötigt jungen Nachwuchs
Wie es um die Reserve in Deutschland bestellt ist, was sie kann, was sie können soll und was für das Ziel einer einsatzbereiten Reserve zu tun ist, sind wichtige Fragen. Sie betreffen aber nicht allein die Streitkräfte oder die Bundeswehr-Community. Reserve ist ein gesamtgesellschaftliches Thema, über das mehr öffentlich diskutiert werden muss. Dies ist der zweite Teil einer Reihe von Debattenbeiträgen zum Thema Reserve. Der Autor dieses Gastkommentars ist der Redaktion bekannt. Er ist ein beorderter Reservist. Aus persönlichen Gründen möchte er seinen Namen nicht nennen, aber einen Debattenbeitrag liefern. Hier ist er.
Als im vergangenen Monat Terroristen der radikalislamischen Hamas einen Überraschungsangriff auf Israel verübten, hat die israelische Regierung eine Mobilmachung zur Vorbereitung einer Gegenoffensive angeordnet. In nur wenigen Tagen wurden über 360.000 Reservistinnen und Reservisten eingezogen – so viele wie nie zuvor in der Geschichte des Landes. Hinter der beispiellosen Mobilmachung steht eine hohe Wehrbereitschaft in der Bevölkerung, aber auch eine strenge Wehrpflichtordnung. Mit 18 Jahren werden die meisten Männer und Frauen zum mehrjährigen Wehrdienst eingezogen und müssen anschließend rund vier Wochen im Jahr Reservedienst leisten.
Die verpflichtende Heranziehung in der israelischen Reserve endet gewöhnlich mit dem 40. Lebensjahr (Reserveoffiziere bis 45 Jahre), weil mit zunehmendem Alter die Leistungsfähigkeit der Reservistinnen und Reservisten zurückgeht. Die Altersgrenze trägt aber auch der Tatsache Rechnung, dass ältere Reservistinnen und Reservisten in mehr Verpflichtungen gebunden sind – sie gründen Familien oder steigen im Beruf in verantwortungsvolle Positionen auf – weshalb ihre Heranziehung zu regelmäßigen Übungen oder gar ihre Mobilmachung im Verteidigungsfall größere Lücken hinterlässt, die gesellschaftlich schwerer zu akzeptieren sind.
Das Beispiel Israel zeigt, dass eine Kombination aus Wehrpflicht und verpflichtender Reserve im Bedarfsfall einen enormen Aufwuchs gewährleisten kann. Trotz eines allgemeinen Trends zur Abschaffung der Wehrpflicht halten einige kleine Staaten, die sich aus finanziellen und personellen Gründen keinen großen stehenden Truppenkörper leisten können, weiterhin an diesem Modell fest. Hierzu zählen beispielsweise die Schweiz und Finnland sowie, in abgeschwächter Form, Österreich und die skandinavischen Staaten.
Berufsarmeen: Nachwuchsgewinnung durch Reserve
Die meisten westlichen Staaten haben spätestens mit dem Ende des Kalten Krieges von der Wehrpflichtarmee auf freiwillige Berufsarmeen umgestellt und damit auch die Pflicht zum Reservedienst abgeschafft. Ihre Streitkräfte bestehen größtenteils aus Zeit- und Berufssoldatinnen und -soldaten, die in der Regel erst im fortgeschrittenen Alter aus dem aktiven Dienst ausscheiden. Anders als Wehrpflichtarmeen stehen Berufsarmeen daher vor der Herausforderung, ausreichend Freiwillige zu finden, die in der Reserve dienen möchten und zugleich fit genug für den körperlich anspruchsvollen Gefechtsdienst sind. Viele Streitkräfte sahen sich daher gezwungen, die Personalbedarfsdeckung ihrer nicht-aktiven Truppenteile neu auszurichten.
In Australien, Großbritannien und Kanada – nur um einige Beispiele zu nennen – nimmt die Nachwuchsgewinnung der Reserve zunehmend junge Zivilistinnen und Zivilisten ohne militärische Vorerfahrung in den Fokus. In den USA gilt dies nicht nur für die Reserve der Teilstreitkräfte, sondern insbesondere für die teilaktiven Strukturen der Nationalgarde. Ungediente können hier eine temporäre Dienstverpflichtung mit Grundausbildung eingehen und werden danach in der Reserve beordert. Abhängig von Eignung und Verfügbarkeit können Bewerberinnen und Bewerber fast im gesamten Spektrum der Streitkräfte eingesetzt werden. Dazu zählen auch hochspezialisierte Verwendungen, wie beispielsweise in den Spezialkräften oder (nur USA) im Cockpit eines F-35 Kampfjets.
Um genügend Freiwillige für die Reserve zu gewinnen und zu binden, wird die Nachwuchsgewinnung ähnlich intensiv betrieben, wie in der aktiven Truppe. Zudem wird die Attraktivität der Reserve durch unterschiedliche Anreize gesteigert, die ein langfristiges freiwilliges Engagement fördern. Je nach Land umfassen die Maßnahmen beispielsweise Prämienzahlungen, Rentenvorteile, Studienförderungen oder Zuschüsse für Sportangebote.
Weil die Reserve vielfältige militärische Verwendungen mit persönlichen Entwicklungsmöglichkeiten anbietet, aber keine langfristige Verpflichtung voraussetzt, adressiert sie eine andere Zielgruppe als die aktive Truppe. Sie spricht Menschen an, die sich für die Sicherheit ihres Landes engagieren möchten, aber keine hauptberufliche Beschäftigung in den Streitkräften wünschen oder diesbezüglich noch unentschlossen sind. Für diese Zielgruppe bietet die Reserve niedrigschwellige und zugleich vielfältige Möglichkeiten, um erste Diensterfahrungen in den Streitkräften zu sammeln und einen persönlichen Eindruck über verschiedene Verwendungen und Karrieremöglichkeiten zu gewinnen.
In den britischen und amerikanischen Streitkräften ist es daher nicht selten, dass junge Bewerberinnen und Bewerber zunächst den Einstieg in die Reserve wählen und sich zu einem späteren Zeitpunkt für einen Wechsel in eine aktive Laufbahn entscheiden. Insofern kann die Reserve ein Türöffner für interessierte junge Menschen sein und dadurch einen vergleichbaren Beitrag zur Nachwuchsgewinnung leisten, wie früher die Wehrpflicht, nur auf freiwilliger Basis.
Grundbeorderung: viel Bürokratie für wenig Ertrag
Bereits nach Russlands völkerrechtswidriger Annexion der Krim wurde im Verteidigungsministerium der Aufbau einer Verstärkungsreserve beschlossen, um in der Landes- und Bündnisverteidigung den Aufwuchs und die Durchhaltefähigkeit der Bundeswehr zu gewährleisten. Als Gesamtumfang wurden 60.000 strukturgebundene Dienstposten für Reservistendienstleistende festgelegt. Um den Personalbedarf in der Reserve zu decken, wurde mit der 2019 neu erlassenen Strategie der Reserve die Grundbeorderung eingeführt und zum 1. Oktober 2021 in Kraft gesetzt. Seitdem sollen alle aus dem aktiven Dienst ausscheidende Soldatinnen und Soldaten für sechs Jahre oder bis zum Erreichen der Altersgrenze von 58 Jahren automatisch in der Reserve beordert werden.
Doch das Kernprojekt der Reserve droht zu einem bürokratischen Monster mit fragwürdiger Wirkung zu werden. Wie dem Jahresbericht 2023 der Wehrbeauftragten zu entnehmen ist, geht die Umsetzung der Grundbeorderung bisher nur schleppend voran. Ursächlich hierfür seien unter anderem ein hoher Zeitansatz für die verwaltungsmäßige Umsetzung und ein zunehmender Mangel an Personalbearbeiterinnen und Personalbearbeitern. Zusätzlich stellt sich die Frage nach der Wirksamkeit. Während die Grundbeorderung vor der Aussetzung der Wehrpflicht sinnvoll gewesen wäre, sprechen die derzeitigen Rahmenbedingungen eher dagegen. Die Ausscheiderinnen und Ausscheider von heute sind keine jungen Wehrpflichtigen mehr, sondern hauptsächlich Zeitsoldaten mit länger Dienstzeit. Planerisch wurde dieser Umstand mit der Festlegung der verhältnismäßig hohen Altersgrenze in der Grundbeorderung berücksichtigt. Dahinter steht jedoch die Gefahr einer Überalterung und damit verbundenen Leistungseinschränkungen in der Reserve.
Eine weitere Problematik der Grundbeorderung ist, dass sie mit dem Grundsatz der Freiwilligkeit in der Reserve kollidiert. Anders als noch zu Zeiten des Kalten Krieges ist die Teilnahme an Reservedienstleistungen ausschließlich freiwillig. Eine verpflichtende Heranziehung kann heutzutage nur im Spannungs- und Verteidigungsfall erfolgen. Ausscheiderinnen und Ausscheider, die im Rahmen der Grundbeorderung eingeplant werden, sind also nicht verpflichtet, ihre militärischen Fähigkeiten durch regelmäßiges Üben zu erhalten. Daher steht zu befürchten, dass die Verstärkungsreserve größtenteils mit übungsunwilligem Personal befüllt wird und dadurch hohle und dysfunktionale Strukturen entstehen.
Das birgt ein hohes Frustrationspotential für all diejenigen, die sich mit viel Herzblut und Engagement für die Reserve einsetzen. Wer möchte schon freiwillig Zeit und Aufwand in die Ausplanung von Ausbildungs- und Übungsvorhaben investieren, wenn das Angebot nicht in Anspruch genommen wird? Oder wenn Wunschdienstposten mit Karteileichen besetzt sind und dadurch Aufstiegs- und Veränderungsmöglichkeiten für engagierte Reservistinnen und Reservisten verhindert werden.
Strategie der Reserve: Zeitenwende erfordert Nachbesserung
Was in Friedenszeiten ein Ärgernis ist, birgt im Ernstfall ein veritables sicherheitspolitisches Risiko. Denn eine Reserve, die größtenteils auf dem Papier besteht, wird kaum ihren Zweck erfüllen können, wenn es darauf ankommt. Während die Reserve in der Bundeswehr in den letzten Jahrzehnten ein Schattendasein fristete, hat sich ihre Bedeutung durch den russischen Überfall auf die Ukraine rasch gewandelt. Die Neuausrichtung der Bundeswehr auf die Landes- und Bündnisverteidigung erfordert eine starke Reserve. Ohne Reservistinnen und Reservisten wäre die Bundeswehr in einem konventionellen Konflikt nur eingeschränkt handlungs- und durchhaltefähig. Der Ukrainekrieg hat zudem deutlich gemacht, dass die Reserve im Ernstfall vor allem dort die aktive Truppe verstärken müsste, wo der Feinddruck am stärksten ist: an der Front. Hierzu muss sie entsprechend aufgestellt, ausgerüstet und ausgebildet sein. Vor allem aber benötigt sie Personal, welches den Anforderungen eines möglichen Konfliktes wie in der Ukraine gerecht werden kann.
Auch wenn die Ausplanung der Verstärkungsreserve andauert und ihre finale Struktur noch offen ist, dürfte bereits klar sein, dass die Grundbeorderung nur bedingt zur Herstellung der Einsatzbereitschaft in der Reserve beitragen kann – und schlimmstenfalls diese sogar konterkariert. Um die Reserve zu stärken und ihre Überalterung zu verhindern, braucht sie dringend jungen und motivierten Nachwuchs. Hierzu muss die Bundeswehr die Anwerbung von interessierten Zivilistinnen und Zivilisten stärker in den Fokus nehmen. Mit den Projekten freiwilliger Wehrdienst im Heimatschutz („Dein Jahr für Deutschland“) und der Ausbildung für Ungediente wurden bereits erste Schritte in diese Richtung übernommen, die nun konsequent weitergedacht werden müssen.
Gleichzeitig sollte die freiwillige Bereitschaft eine zwingende Voraussetzung für eine Beorderung sein, um funktionsfähige Reservestrukturen zu gewährleisten. In diesem Zusammenhang könnte auch über eine Personalkategorisierung nach Leistung und Verfügbarkeit nachgedacht werden, wie von Johannes Mühle in der Oktoberausgabe von loyal vorgeschlagen. Zwingend sind jedoch weitere Anstrengungen zur Attraktivitätssteigerung erforderlich, um die freiwillige Verfügbarkeit von Reservistinnen und Reservisten zu erhöhen. Hierzu zählen vor allem Selbstverständlichkeiten, die bisher unzureichend gewährleistet sind, wie eine adäquate materielle Ausstattung und ausreichende Übungsmöglichkeiten, aber auch die Ausweitung von Verwendungsmöglichkeiten, der Abbau bürokratischer Hürden, die Gestaltung von Bindungsanreizen und vieles mehr.
Im Lichte der Zeitenwende sollte die Strategie der Reserve überarbeitet werden, um die Erfahrungen aus dem Krieg in der Ukraine zu berücksichtigen und die Reserve an die gestiegenen sicherheitspolitischen Herausforderungen auszurichten. Hierbei sollte insbesondere der personelle Aufwuchs in der Reserve neu betrachtet werden. Dabei lohnt der Blick über den eigenen Tellerrand und die Auseinandersetzung mit den Erfahrungen von Partnern, die über leistungsfähige Reservestrukturen verfügen. Hier bestehen bewährte Konzepte zur Personalgewinnung, die übernommen und auf die eigenen Rahmenbedingungen angepasst werden können. Vor allem aber sollte den eigenen Reservistinnen und Reservisten mehr Gehör geschenkt werden. Schließlich geht es um sie.
In unregelmäßigen Abständen erscheinen in der gedruckten loyal wie auch hier auf der Webseite Gastkommentare und Debattenbeiträge wie etwa zuletzt zu Kategorien der Reserve. Was ist Ihre Meinung zu den jeweiligen Themen? Schicken Sie uns gerne einen Leserbrief an presse@reservistenverband.de.