Verfolgt Wladimir Putin eine übergeordnete Strategie oder nutzt er in seinem Handeln lediglich die Schwächen des Westens aus? Diese Frage versuchte der Leiter des Russland-Programms der Friedrich-Ebert-Stiftung, Alexey Yusupov, bei einer Veranstaltung der Sektion Bonn der Gesellschaft für Sicherheitspolitik (GSP) auf der Hardthöhe zu beantworten. Sein Fazit: Russland hat ausgereizt, was es mobilisieren konnte. Das Land befindet sich aktuell jedoch in einer Phase zwischen Stagnation und Niedergang, sein Handeln pendelt zwischen einer kohärenten „Grand Strategy“ und taktischem Opportunismus.
Yusupov machte diese Einschätzung unter anderem an Zahlen aus der Demographie, der Wirtschaft und der Finanzen fest. Russland betreibe aus der eigenen Schwäche heraus eine Revision des internationalen Systems durch eine zweigleisige Strategie: die Nutzung alternativer Plattformen wie BRICS und die Destabilisierung der regelbasierten Ordnung. Yusupov formulierte zugespitzt, dass Russland Zugeständnisse und Reputation erpresse und als strategisches Ziel verfolge, sein destruktives außenpolitisches Profil in einen „neuen Deal“ zu konvertieren, der seiner Rolle in der Welt gerecht wird. Der Referent sah dabei allerdings bedeutende Fehleinschätzungen in der russischen Entwicklung, ein periodisches Scheitern der Außenpolitik und ein Auftreten massiver Gegenkräfte.
In seinem Vortrag befasste sich Yusupov zudem mit dem Leitmotiv russischer Politik: Verwundbarkeit. Russland wolle als Pol in einer multipolaren Welt nicht untergehen. Es sehe nur als Nuklearmacht seine volle Souveränität und betrachte die Spielregeln der internationalen Ordnung als destruktiv für seinen Status. Er unterstrich den Stellenwert russischer Außenpolitik und fragte, ob Russland opportunistisch handelt (also die Schwäche des Gegners nutzt) oder aber einer „Grand Strategy“ folgt, (soll heißen: übergeordnete Pläne, Ziele und langfristige Visionen hat). Dabei präsentierte er „vier Erzählungen“ über Russland, die die Situation aus unterschiedlichen Perspektiven im Spannungsfeld „Niedergang – Wiederaufstieg“ und „Taktik/Opportunismus – Kohärente Grand Strategy“ beschrieben. Im Folgenden untersuchte er Erklärungsmuster für diese Theorien, zu denen es allerdings keinen Fachkonsensus gebe. Zudem warf er einen Blick auf historische Meilensteine im Verhältnis Russlands zum Westen und die Schlüsse, die russische Politik hieraus gezogen habe.
Schüler beteiligen sich an Diskussion
Yusupovs Darstellung der sehr komplexen Situation in Russland heute und in der Vergangenheit war umfassend und für das Publikum gut nachvollziehbar. Er setzte sich dabei auch kritisch mit der westlichen Wahrnehmung Russlands auseinander. Er gab seine fundierte Einschätzung der zukünftigen Entwicklung ab, ohne in hypothetische Gedankenspiele zu verfallen. Die Offenheit, Klarheit und Direktheit des Vortrages wurden vom Publikum dankend aufgenommen.
In der anschließenden Diskussion wurden unter anderem die Stellung und Zukunft Putins, sein Verhältnis zu den Oligarchen, die Unterstützung durch und die Zusammenarbeit mit China, der Ukraine-Krieg und die einhergehenden westlichen Sanktionen sowie Perspektiven für eine Beendigung des Konfliktes vertieft.
Bemerkenswert: Erstmals nahmen auch Schüler eines Bonner Gymnasiums an einer solchen Veranstaltung teil. Insgesamt waren es 85 Gäste, die in Präsenz an der Veranstaltung teilnahmen, weitere 100 schalteten sich online dazu. Kooperationspartner der Veranstaltung waren der Rotary Club Köln-Kastell, das Center for Advanced Security, Strategic and Integration Studies der Universität Bonn (CASSIS) und der Reservistenverband. Eine Aufzeichnung der Veranstaltung steht in Kürze auf dem Youtube-Kanal der GSP zur Verfügung.
Der Referent
Alexey Yusupov ist Politikwissenschaftler und betrachtet im Schwerpunkt Sicherheitspolitik und gesellschaftliche Krisenresilienz. Nach bisherigen Entsendungen als Büroleiter der Friedrich-Ebert- Stiftung in Kasachstan, Afghanistan und Myanmar ist er nunmehr der Leiter des Russland-Programms. Er ist ein ausgewiesener Experte und verfügt durch ein agiles Netzwerk und russische Sprachkenntnis über Insider-Wissen der aktuellen Situation in Russland.