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Indien auf dem Weg zur Großmacht?

Seit der Jahrtausendwende zählt Indien zu den ökonomisch aufstrebenden Nationen. Auch in der globalen Politik gewinnt das südasiatische Land immer mehr an Bedeutung. Zusammen mit der Europäischen Union (EU), China, Russland und Brasilien wird Indien zu den potenziellen Supermächten gezählt. Der seit 2014 regierende Premierminister Narendra Modi forciert die Liberalisierung der Wirtschaft mit dem Ziel, Indien noch stärker in den globalen Markt zu integrieren. Außenpolitisch fokussiert sich die Regierung auf den Ausbau regionaler und globaler Netzwerke, um den politischen und ökonomischen Einfluss des Landes zu erhöhen. Parallel setzt Modi hindu-nationalistische Gesetze um, die die religiösen Konflikte im Land verstärken und die schwierigen Beziehungen zum Nachbarland Pakistan weiter belasten. Die aktuellen wirtschafts-, innen- und außenpolitischen Entwicklungen bleiben nicht ohne Folgen für die Gesellschaft und den möglichen Aufstieg Indiens zu einer Großmacht.

(Foto: Darshak Pandya via pixabay.com)

AsienGeopolitikindien

Indien vollzog erst in den 1990er Jahren eine ökonomische Liberalisierung, die das Land in den Weltmarkt integrierte. Die Folge war ein wirtschaftlicher Boom, der sich in jährlichen Wachstumsraten von 4 bis 10 Prozent widerspiegelte. Die föderale und demokratische Republik profitierte hierbei von der Übernahme der früheren Kolonialsprache Englisch und der geografischen Lage zwischen dem Nahen und Fernen Osten. Die wichtigsten Handelspartner stellen die Arabische Liga, die EU, der Verband Südostasiatischer Nationen (ASEAN), die Vereinigten Staaten und die Länder Ostasiens dar. Die Landwirtschaft, von der mehr als die Hälfte der Bevölkerung lebt, hat jedoch noch immer eine wichtige Stellung inne. Auf der anderen Seite nimmt die Bedeutung des Dienstleistungsgewerbes und der Industrie, insbesondere die der IT-, Automobil-, Pharma- und Textilbranche, stetig zu.

Indien zählt heutzutage zu den Schwellenländern mit fortschreitender Industrialisierung und hohen Wachstumsraten, die in den 2010er Jahren sogar die Chinas überboten haben. Das Land stellt laut Weltbank-Daten von 2019 den sechsgrößten Konsummarkt der Welt dar, der einen hohen Anteil des Eigenkonsums am Bruttoinlandsprodukt aufweist. Neben der Binnennachfrage tragen privatwirtschaftliche Investitionen und staatliche Förderungen zum Wachstum bei. Vor dem Hintergrund der laut Prognosen auch in Zukunft steigenden Wirtschaftsleistung und Investitionen bezeichnen einige Ökonomen das 21. Jahrhundert als ein mögliches „indisches Jahrhundert“.

Armut und Spannungen in der Gesellschaft

Der Wirtschaftsboom seit der Jahrtausendwende trug zur Erhöhung des Durchschnittseinkommens, der Lebenserwartung, der Alphabetisierungsrate und der Urbanisierung bei. Von diesen Entwicklungen profitierten vor allem die städtische Bevölkerung und die wachsende Mittelschicht. Die Infrastrukturen und der Lebensstandard der Menschen auf dem Land haben sich hingegen nur geringfügig verändert. Einkommen und Wohlstand innerhalb der Gesellschaft sind ähnlich ungleich verteilt wie in China oder Russland. Nach Angaben der Vereinten Nationen (VN) lebten im Jahr 2018 trotz des wirtschaftlichen Aufschwungs noch 22 Prozent der Bevölkerung in Armut. Davon betroffen sind insbesondere die Dalits, die dem niedrigsten sozialen Stand im indischen Kastensystem angehören, und die Adivasi, eine Sammelbezeichnung der anerkannten indigenen Stammesgesellschaften. Beide Gruppen sind gesellschaftlich und ökonomisch ausgegrenzt und stellen rund ein Viertel der Bevölkerung. Aufgrund der abnehmenden Bedeutung der Agrarwirtschaft migrieren immer mehr ärmere Menschen in Großstädte und suchen Arbeit im Dienstleistungsgewerbe oder in der Industrie, den Wachstumsmotoren der Wirtschaft.

Indien weist laut Zahlen der VN aus dem Jahr 2018 eine Bevölkerung von 1,38 Milliarden Menschen bestehend aus diversen Volks- und Religionsgruppen auf. Die Gesellschaft ist seit Jahrzehnten von großen innenpolitischen Konflikten geprägt, bei denen die Spannungen zwischen der hinduistischen Mehrheit (80%) und der muslimischen Minderheit (14%) herausragen. Verstärkt wird dieser religiöse Konflikt durch Terroranschläge islamistischer Gruppierungen und hindu-nationalistische Gesetze, die von der Modi-Regierung und den Bundesstaaten beschlossen wurden. So löste ein Gesetz über die Staatsbürgerschaft von Flüchtlingen aus Afghanistan, Bangladesch und Pakistan im Dezember 2019 landesweite Proteste unter indischen Muslimen aus. Der Beschluss wurde als diskriminierend aufgefasst, da er ausschließlich Personen betraf, die als religiöse Minderheit in den Ländern verfolgt wurden und nicht dem Islam angehörten. Nach den Demonstrationen brachen im Februar 2020 anti-muslimische, gewalttätige Unruhen in der Metropole Delhi aus.

Ein weiteres Konfliktfeld stellen die militanten Aufstände der maoistischen Naxaliten dar, die landesweit gegen die Bundesregierung kämpfen. Anschlagsziele der linksextremen Paramilitärs sind vor allem Angehörige des Militärs und der Polizei. Daneben existieren in dem Vielvölkerstaat separatistische Bewegungen, die gewaltsam mehr Autonomie oder ihre Unabhängigkeit erreichen wollen.

Militärische Stärke und Partnerschaften

Indien stellt als siebtgrößtes und zweitbevölkerungsreichstes Land der Welt aufgrund seiner Größe und geografischen Position einen wichtigen politischen Faktor in Asien dar. Das Land nimmt bei den Verteidigungsausgaben weltweit die dritte Position ein und stellt mit rund 1,5 Millionen aktiven Soldaten, noch vor den USA, die zweitgrößten Streitkräfte. Mehr als zwei Drittel der Rüstungsgüter stammen aus Russland, gefolgt von Israel und Frankreich. Mit Russland als Nachfolgestaat der Sowjetunion verbindet Indien seit der Unabhängigkeit eine enge militärische, ökonomische und politische Partnerschaft. Auch in der Nuklearenergie kooperieren beide Länder, die zu den Atommächten zählen. Zu Frankreich entwickelte Indien in den letzten Jahren eine Partnerschaft und kooperiert in den Bereichen Wissenschaft, Technologie, Verteidigung und Terrorabwehr.

Das Land ist neben Brasilien, Russland, China und Südafrika Mitglied der 2009 gegründeten Organisation BRICS, deren Bezeichnung für die Initialen der fünf Staaten steht. Die fünf aufstrebenden Wirtschaftsnationen streben den Ausbau einer stärkeren ökonomischen und politischen Zusammenarbeit an und tauschen sich auf jährlichen Konferenzen aus. Des Weiteren nahm Indien als Gast an mehreren Gipfeln der ASEAN teil, die die Vertiefung der diplomatischen und wirtschaftlichen Beziehungen festlegten. Im Nahen Osten pflegt Indien ein partnerschaftliches Verhältnis zu Bahrain, Oman und den Vereinigten Arabischen Emiraten, wo Millionen Gastarbeiter indischer Herkunft leben. Mit Israel verbindet das Land eine umfangreiche militärische und ökonomische Partnerschaft. Zudem hat Indien in den letzten Jahren sowohl die Kooperation mit dem Iran weiter intensiviert als auch die politischen und wirtschaftlichen Beziehungen zu Saudi-Arabien deutlich ausgebaut.

Regionale Freundschaften, Konkurrenten und Konflikte

Die politischen Beziehungen zu Nachbarstaaten und Ländern im südasiatischen Raum sind überwiegend freundlich. Insbesondere zu Afghanistan, Bangladesch und Bhutan hat Indien ein enges Verhältnis, auch die Beziehungen zu Sri Lanka und Myanmar sind überwiegend gut. Ausnahmen stellen die zunehmenden Grenzstreitigkeiten mit Nepal, die Balance zwischen Kooperation und Konkurrenz mit China sowie die fortwährenden Konflikte mit Pakistan dar. Mit China verbindet Indien eine wirtschaftliche und strategische Zusammenarbeit, die jedoch auf politischer Ebene durch die langjährige chinesisch-pakistanische Partnerschaft belastet wird. Des Weiteren entsteht aufgrund des ökonomischen Aufstiegs beider Länder eine Konkurrenz um den Einfluss auf die Staaten Südasiens. Im Jahr 2020 kam es zudem zum Wiederaufflammen des indisch-chinesischen Grenzkonflikts in der Himalaya-Region, der zu einer Verschlechterung der bilateralen Beziehungen beigetragen hat.

Die geografische Lage Indiens in Asien (Bild: CIA World Factbook)

Das Verhältnis zu Pakistan ist seit der Trennung und Unabhängigkeit beider Länder vom Vereinigten Königreich im Jahr 1947 von Misstrauen und Abneigung geprägt. Hauptgrund der politischen Teilung waren die Spannungen zwischen der hinduistischen und muslimischen Bevölkerung. Während fast alle Hindus nach Indien migrierten oder flüchteten, wurde Pakistan zur Heimat der meisten südasiatischen Muslime. Die militärische Unterstützung Indiens bei der Abspaltung Bangladeschs von Pakistan 1971 festigte das schwierige Verhältnis. Versuche, die politischen Beziehungen nachhaltig zu verbessern, scheiterten bisher. Ein bis heute ungelöstes Problem stellt der Kaschmir-Konflikt dar. Beide Staaten beanspruchen die mehrheitlich muslimische Region im Himalaya und versuchten in Kriegen eine Entscheidung herbeizuführen. Im indischen Landesteil kommt es oft zu Protesten und Unruhen bis hin zu militärischen Revolten von Separatisten. Für islamistische Attentate macht die indische Regierung Pakistan verantwortlich. Nach der Rücknahme des Autonomiestatus des indischen Landesteils im August 2019 brach die pakistanische Regierung alle diplomatischen und wirtschaftlichen Beziehungen zu Indien ab. Von November 2020 bis Februar 2021 kam es nach Jahren an der Landesgrenze wieder zu Gefechten.

Indien auf der Bühne der Weltpolitik

Mit dem wirtschaftlichen Aufschwung ging nicht nur der Ausbau von Handelsbeziehungen und eine militärische Aufrüstung einher, sondern auch der wachsende geopolitische Einfluss Indiens. Weltpolitisch bedeutend sind die strategischen Partnerschaften zu Russland und Frankreich, die zu den fünf ständigen Mitgliedern und Vetomächten im VN-Sicherheitsrat zählen. Indien strebt als Mitglied der G4 neben Brasilien, Deutschland und Japan einen permanenten Sitz im Sicherheitsrat an. Der indische Antrag wird unter anderem von den Großmächten Russland, Frankreich, dem Vereinigten Königreich und den USA befürwortet. Das Vorhaben scheiterte bisher stets am Veto Chinas, nimmt aber in der indischen Außenpolitik weiterhin eine herausragende Stellung ein.

Brasilien entwickelte sich auf politischer und ökonomischer Ebene zu einem bedeutenden Partner. Beide Länder zählen zu den aufstrebenden Wirtschaftsnationen, kooperieren in Formaten wie den G4 und BRICS und unterstützen sich in geopolitischen Fragen. Insbesondere unter dem seit 2019 regierenden brasilianischen Präsidenten Jair Bolsonaro, der einen ähnlichen nationalistischen Kurs wie Modi verfolgt, wurde die Zusammenarbeit intensiviert. Sowohl in der Skepsis gegenüber China als auch im Kaschmir-Konflikt und in Indiens Streben nach einem permanenten Sitz im VN-Sicherheitsrat zählt das südamerikanische Land zu den wichtigsten Verbündeten. Auch die engen Beziehungen zu Staaten im Nahen Osten gehen über gegenseitige Investitionen hinaus. Zu Partnerländern wie Bahrain, Israel, Oman und den Vereinigten Arabischen Emiraten bestehen Kooperationen in der Terrorabwehr und in der internationalen Politik. Des Weiteren zählen die vier Staaten zu den größten Unterstützern Indiens bei der Aufnahme in die Riege der Vetomächte.

Premierminister Narenda Modi spricht auf der 69. Generalversammlung der Vereinten Nationen (Foto: Press Information Bureau/Government of India via Wikimedia Commons; Copyright Policy : PIB)

Die indischen Regierungen drängen seit Jahren auf eine umfassende Reform des VN-Sicherheitsrats. Als Hauptargument wird angeführt, dass der Rat die gegenwärtigen geopolitischen Realitäten widerspiegeln sollte. Aufgrund der ökonomischen und politischen Bedeutung des Landes, die Analysten zufolge im Verlauf des 21. Jahrhunderts zunehmen wird, sieht sich Indien in seinem Streben um eine ständige Mitgliedschaft im Recht.

Großmachtstreben – Traum oder künftige Realität?

Kaum ein Schwellenland hat in den letzten Jahren eine so rasante wirtschaftliche Entwicklung zurückgelegt wie Indien. Vor allem im Dienstleistungs- und Industriebereich entstehen neue Jobs, die zum Anstieg der Einkommen und Lebenserwartung beitragen. Auch wenn das Land noch mit Armut sowie innen- und außenpolitischen Konflikten zu kämpfen hat: Der Wirtschaftsboom scheint langsam bei den Menschen anzukommen. Den Aufschwung investiert die Regierung vor allem in militärische Aufrüstung und die Bildung politisch-ökonomischer Netzwerke. Welche Auswirkungen die Covid-19-Pandemie auf das jahrelange Wirtschaftswachstum haben wird, zeigt sich wahrscheinlich erst im nächsten Jahr.

Es ist davon auszugehen, dass sich Indien auch in naher Zukunft neben dem südasiatischen Raum auf die strategischen Partnerschaften zu Russland, Frankreich, Brasilien und Staaten im Nahen Osten fokussieren wird. Folglich wird de facto eine Konkurrenz zu China bestehen bleiben, welches das Streben der indischen Regierung nach einem permanenten Sitz im VN-Sicherheitsrat weiterhin blockieren wird. Die wirtschaftlichen Prognosen, die personellen und militärischen Ressourcen sowie die globalen Netzwerke weisen jedoch eindeutig auf eine größere geostrategische Rolle und politische Einflussnahme Indiens hin. Der Weg zu einer neuen Großmacht ist möglich. Führt dieser Weg auch in ein „indisches Jahrhundert“?

 

Literaturtipps:


Dieser Text stammt aus dem Sicherheitspolitischen Newsletter des Sachgebietes Sicherheitspolitische Arbeit. Diesen können Sie hier abonnieren.

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