Ohne eine einsatzfähige Reserve ist die Bundeswehr nicht verteidigungsfähig. Vor diesem Hintergrund hat Redakteur Benjamin Vorhölter mit Oberst d.R. Professor Dr. Martin Sebaldt, Autor der Bücher „Nicht abwehrbereit“ und „Das Elend der Strategen“, gesprochen. Der Politikwissenschaftler spricht von aus seiner Sicht „kardinalen Versäumnissen“ und von Anreizen, wie die Bundeswehr mehr Personal für die Reserve gewinnen könnte.
Herr Sebaldt, wie lange wäre Bundeswehr derzeit in der Lage, einen Krieg mit hochintensiven Gefechten zu führen?
Ich gehe davon aus, dass ein größeres Kriegsszenario gemeint ist. Dann antworte ich plakativ: nicht einmal drei Tage. Denn dafür bräuchte die Bundeswehr die notwendige Aufwuchsfähigkeit und Feldersatzkräfte. Das heißt, es müssten in Friedenszeiten nicht-aktive Verbände dann kurzfristig mobilisiert werden können, um den nötigen Aufwuchs und auch den Austausch von Verbänden gewährleisten zu können. Diese Fähigkeit fehlt der Bundeswehr und auch der im Einsatzfall nötige Personalersatz, wenn Soldaten verwundet werden oder fallen, ist nicht sichergestellt.
Warum ist die Bundeswehr noch nicht so aufwuchsfähig wie sie sein sollte?
Hier kommt ein Faktor hinzu, der kardinal ist und gern übersehen wird: Es fehlt die zivile Wehrorganisation und damit die Wehrüberwachung. Das heißt, die Erfassung der wehrdienstfähigen Männer ab 18 Jahren. Die Wehrerfassung wurde mit der Aussetzung der Wehrpflicht mit abgeschafft und müsste nun mühsam wieder aufgebaut werden. Ich habe nie verstanden, warum man die Kreiswehrersatzämter komplett geschlossen hat. Man hätte sie auf Kopfstellen reduzieren können, so dass sie weiterhin existieren und im Einzelfall personell wieder aufgefüllt werden könnten. Auch die Personaldateien der Wehrüberwachung hätten mit diesen kleinen Kopfstellen weiterhin gepflegt werden können. Jetzt sitzt man vor einem großen Scherbenhaufen und sieht, dass diese Dateien in Kooperation mit den Kommunen mühsam wieder aufgebaut werden müssten.
Was meinen Sie, wird die Pflicht, einen Fragebogen zur Wehrbereitschaft auszufüllen, künftig ausreichend sein, um mehr Personal für die Reserve gewinnen zu können?
Man muss fair bleiben. Die Initiativen des Ministers Boris Pistorius, der seine Aufgabe ernster nimmt als seine Vorgängerinnen und Vorgänger, will ich nicht von vornherein abqualifizieren. Ein Fragebogen zur Wehrbereitschaft ist besser als nichts. Aber so schön es wäre, die Wehrpflicht wieder einzuführen, um dann wirklich Personalersatz dauerhaft sicherzustellen, für die man natürlich die vorhin angesprochene Wehrersatzorganisation wieder haben müsste, so unrealistisch halte ich es trotzdem.
Denn eine Wehrpflicht ist nur dann mit dem Grundgesetz vereinbar, wenn sie wehrgerecht praktiziert wird. Wehrgerecht heißt, dass jeder, der dem Wehrrecht unterliegt – also alle wehrdienstfähigen Männer ab 18 – auch herangezogen werden. Dafür braucht es umfangreiche Streitkräftestrukturen, die sicherstellen, dass dies möglich ist. Alles, was unterhalb dessen läuft – zum Beispiel das schwedische Modell, das eine Art von Teilwehrpflicht darstellt – wird spätestens vor dem Bundesverfassungsgericht scheitern, weil der Gleichheitsgrundsatz verletzt wäre. Deswegen wird man unter dem Prinzip der Freiwilligkeit weiteroperieren müssen.
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Wie kann die Reserve der Bundeswehr ohne eine Wehrpflicht gestärkt werden?
Die grundsätzliche Affinität zum Wehrdienst ist vorhanden. Es geht um die Ausgestaltung der Bedingungen. Deswegen müssen Anreize geschaffen werden. Ein Schritt wäre, ein Ausbildungsmodell zu schaffen, das dem Zeitmanagement junger Leute Rechnung trägt. Das bedeutet, weniger längere zusammenhängende Ausbildungsphasen und mehr modulare Ausbildung. Man reiht zum Beispiel Tagesausbildung an Tagesausbildung und bekommt am Ende einen Ausbildungsnachweis. Solch ein flexibles Modulsystem setzt aber voraus, dass es vor Ort entsprechende Strukturen gibt, damit die Leute keine langen Entfernungen zurücklegen müssen. Mit niedrigschwelligen Angeboten unter Wahrung der Freiwilligkeit ist eine erfolgreiche Ansprache von jungen Soldaten möglich.
Ab April sollen die Heimatschutzregimenter in einer Heimatschutzdivision aufgehen. Wie bewerten Sie diesen Schritt?
Die Aufwertung des Heimatschutzes durch die Aufstellung der Heimatschutzdivision ist gut. Auch die Idee, die Heimatschutzregimenter in einem koordinierenden Großverband zusammenzufassen, ist prinzipiell gut. Jedoch: Weder sind die Heimatschutzregimenter von ihrer Ausgestaltung das, was man klassischerweise unter einem Regiment (ca. 3.000 Mann, gegliedert in mehrere Bataillone) versteht, noch wird die Heimatschutzdivision den Namen Division verdienen. Denn sie wird bei ihrer Aufstellung nur aus rund 6.000 Dienstposten bestehen, da die fünf bestehenden Heimatschutzregimenter derzeit nur über je 1.000 Dienstposten verfügen, also von der Personalstärke her bestenfalls Bataillone sind. Ein weiteres Regiment in der Größenordnung soll noch hinzukommen, womit wir dann bei der genannten Gesamtzahl von 6.000 angelangt wären. Das aber wiederum ist zahlenmäßig keine Division, sondern eine verstärkte Brigade. Ergo: Wenn man die Regimenter auf die gerade genannte Sollstärke von 3.000 verstärken würde und die Division am Ende auf gut 20.000 Dienstposten käme, würde sie ihren Namen verdienen.
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Mehr dezentrale Standorte und Ausbildungsorte für die Reserve schaffen, liegt darin das Erfolgsrezept für den Aufwuchs?
Mehr Dezentralität ist etwas, das man aus der deutschen Militärtradition lernen kann. Im Heer des Deutschen Kaiserreichs etwa hatte jedes Korps seinen eigenen Ersatzbezirk; die entscheidenden Akteure für den Personalersatz fanden sich also auf dezentraler Ebene. Zu diesen Zeiten hatten vor allem die Regimentskommandeure sicherzustellen, dass der Wehrersatz organisiert wurde. Das hatte den Vorteil, dass man die Personen vor Ort kannte. Die Wege waren kurz, um die Leute auch kurzfristig mobilisieren zu können. Deshalb müssen schon im Frieden bei nicht-aktiven Einheiten des Feldheeres (Ergänzungstruppenteile) und in den Heimatschutzregimentern Stabsstellen für diesen Zweck existieren. Und auch bei der Vermittlung militärischer Grundfertigkeiten – der Reservistenverband macht dies ja auch – ist dezentrale Organisation kardinal.
Was halten Sie von den Ausführungen von Generalleutnant Marlow über die Ausrichtung der Ausbildungsorganisation der Bundeswehr zur Sicherstellung des Aufwuchses und des Feldersatzes?
Richtig ist, dass Ausbildung im Ernstfall nicht mehr bei den Feldeinheiten erfolgen kann. In diesem Fall würden die Grundausbildungskompanien herausgezogen und den Truppenschulen zugeordnet. Somit würden die Kampfeinheiten im Feld von Ausbildungsaufgaben entlastet. Was im Einsatz bliebe, wären die Feldersatzkompanien, die nicht primär der Ausbildung dienen, sondern das Personal vorhalten, um kurzfristig in den Kampfkompanien entstehende Lücken auffüllen zu können.
Würde denn der Wehrersatz funktionieren, wenn es zum Ernstfall kommen würde, denn man hat die Strukturen ja niemals zuvor erproben können?
Im Verteidigungsfall hätte die Bundeswehr zunächst wieder die rechtliche Handhabe, Männer verpflichtend heranzuziehen. Denn bei einem Kriegsszenario wäre die Wehrpflicht ja wieder eingesetzt. Aber die strukturellen Probleme würden bleiben, vielleicht sogar noch größer werden. Denn neben der zivilen Wehrorganisation braucht es eben auch die militärischen Strukturen, in denen man diese große Menge Wehrpflichtiger einplanen kann. Derzeit gibt es aber eben viel zu wenig Dienstposten der Verstärkungsreserve in Ergänzungstruppenteilen und im Heimatschutz. Heißt also: Neben dem Aufwuchs in der Heimatschutzorganisation müssen zusätzlich gekaderte Feldverbände aufgestellt werden, die im Einsatzfall mit Reservisten aufgefüllt werden können. Das ist kostenintensiv, keine Frage. Wir reden hier von vielen zusätzlichen Infanterie,- Grenadier- und Artilleriebataillonen. Aber diese Hausaufgaben müssen nun dringend gemacht werden.
Müssen wir in puncto Aufwuchsfähigkeit und Feldersatz zurück in die Vergangenheit und das Territorialheer der 1980er Jahre wieder aufbauen?
In dieser Größenordnung wird das nicht realisierbar sein. Im Kern haben wir aber mit der Heimatschutzdivision schon mal eine Rückkehr im Kleinen. Die Idee, dass es eine eigene militärische Organisation braucht, die vom Feldheer abgesetzt ist, wird mit der Heimatschutzdivision nicht neu erfunden, sondern nur revitalisiert. Das beinhaltet auch, dass die Ausbildung für die Heimatschutzkräfte eine andere sein muss als im Feldheer, da sich das Aufgabenspektrum beider Bereiche unterscheidet. Heimatschutz dient der Sicherung des rückwärtigen Raumes, bei den Feldersatzeinheiten geht es um den Fronteinsatz. Das sollte sich in der Ausbildung widerspiegeln.
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Welche sonstigen Hausaufgaben liegen noch vor der Bundeswehr in puncto Aufwuchsfähigkeit?
Ausrüstung und Logistik müssen besser werden. Das Vorhalten von Gebrauchsgegenständen, Munition und Treibstoff ist derzeit nicht nachhaltig. Die Bundeswehr würde ihre Munition in einem größeren Krieg innerhalb weniger Tage verschossen haben. Es gibt auch keine systematischen Planungen mit der Rüstungsindustrie, die eine umfangreiche Munitionsbevorratung im Einsatzfall sicherstellen. Das gilt auch für die Wartung, Reparatur und Neubeschaffung von Waffensystemen.
Ist eine gewisse Verpflichtung zu einer bestimmten Anzahl an Wehrdienstagen (wie früher mit der Alarmreserve) wieder notwendig?
Das wäre ja eine Art Wehrpflicht nach Ende des aktiven Dienstes. Das ist eine schöne Idee, kann aber nicht funktionieren, weil die Wehrpflicht ja generell ausgesetzt ist. Eine verpflichtende Heranziehung von Reservisten oder Überlegungen, den Geltungszeitraum der Grundbeorderung zu verlängern, würde aus meiner Sicht aber in Friedenszeiten auch die falschen Akzente setzen. Man muss die Leute anders binden. Man muss primär mit Anreizen arbeiten, etwa mit dem Verweis auf eine attraktive, spannende und auch kameradschaftliche Ausbildung an modernen Waffen und digitaler Ausrüstung.
Wie kann der Reservistenverband sinnvoll die Reservistenarbeit unterstützen, mit dem Ziel, die Bundeswehr verteidigungsfähiger zu machen?
Mit einem Kooperationsmodell kann der Reservistenverband im Rahmen seiner Möglichkeiten zielführend in Planung und Arbeit der Bundeswehr eingebunden werden. Es ist auch weiterhin sinnvoll, Informationsveranstaltungen und beorderungsunabhängige Reservistenarbeit außerhalb des Wehrdienstes zu machen. Das kann der Verband mit seinen begrenzten Kapazitäten sehr gut leisten. Aber man muss trotzdem ganz nüchtern schauen, was man einem Verband fairerweise übertragen und wo er die Bundeswehr wirklich entlasten kann, denn das militärische Kerngeschäft müssen unsere Streitkräfte schon selbst leisten können. Dafür müssen sie aber erst wieder fit gemacht werden. Die Gefahr ist aber leider, dass das Thema Verteidigungsfähigkeit nach Ende des Ukrainekrieges auf der Prioritätenliste der Politik schnell wieder nach unten rutschen wird, so meine düstere Prognose. Denn Verteidigung kostet viel Geld, das andere auch gerne hätten.
Vielen Dank für das Gespräch!