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Iran: Regionalmacht am Kipppunkt?

Sei es das Atomabkommen oder die Unterstützung militanter Gruppierungen, die für Gewalt und islamistischen Terror im Nahen und Mittleren Osten sorgen: Der Iran und sein islamisches Regime machen schon lange keine positiven Schlagzeilen mehr. Doch mit den aktuellen Protesten überschlagen sich geradezu die Meldungen von Menschenrechtsverletzungen, Vergewaltigungen oder Hinrichtungen – auch von Kindern und Jugendlichen. Doch wie konnte es so weit kommen, was sind die gesellschaftlichen Hintergründe in dem doch sehr vielschichtigen Land und welche geopolitischen Auswirkungen können sich daraus ergeben? Ein Überblick.

(Foto: Darafsh via Wikimedia Commons)

IranNaher Osten

Infolge des Todes der 22-jährigen Kurdin Mahsa (kurdischer Name: Jina) Amini, die wegen eines nicht vorschriftskonform getragenen Kopftuchs am 22. September 2022 in der Haft der iranischen Sittenpolizei in Teheran starb, kommt es landesweit regelmäßig zu Protesten. Und obgleich es auch in der Vergangenheit immer wieder zu Unruhen kam, sind die aktuellen Ereignisse anders als zuvor: Die Aufstände sind nicht nur landesweit, sondern auch ethnien- und klassenübergreifend. Damit haben sie die größte gesellschaftliche Basis seit der Islamischen Revolution 1979, entsprechend bezeichnen manche Aktivisten und Analysten die aktuellen Aufstände bereits ebenfalls als eine Revolution. Der Politikwissenschaftler Ali Fatollah Nejad sieht deren Ursprung allerdings nicht in dem Mord an Mahsa Amini, sondern macht ihn an den Unruhen von 2017 fest. Damals ging vor allem die Unterschicht auf die Straße, um gegen hohe Benzin- und Nahrungsmittelpreise zu protestieren. Das Regime schlug gewaltsam zu, hunderte Demonstrierende wurden erschossen. Die soziale Frage wurde plötzlich zu einer Systemfrage, denn bis dahin galt die Unterschicht als soziale Basis des Regimes. Mittlerweile geht es den Demonstrierenden aber nicht mehr nur um Reformen – sie wollen einen Regimewechsel und vor allem weg vom Islamismus mit all seinen Einschränkungen.

Iranische Identität

Doch woher kommt das islamische Regime und weshalb ist es so unbeliebt in der iranischen Bevölkerung? Feststeht, dass der schiitische Klerus im persisch geprägten Iran traditionell schon immer eine starke Stellung innehatte. Damit unterscheidet sich der Iran von den anderen Staaten im Nahen und Mittleren Osten, die zumeist arabisch und sunnitisch geprägt sind. Entsprechend sieht sich das Regime im Iran als Beschützer der Schiiten, die in den anderen Staaten häufig als Minderheit leben. Des Weiteren spielt er durch seine Größe, seinen Reichtum an Rohstoffen und seine geostrategisch wichtige Lage im Zentrum zwischen Europa, Maschriq, Zentral- und Ostasien eine wichtige Rolle als Regionalmacht, besonders nach dem Zerfall des Iraks infolge des Einmarsches der USA 2003. Damit sieht sich der Iran als Gegenmacht zu Saudi-Arabien, das durch seine Nähe zu den USA und damit implizit auch Israel als imperialistisch dargestellt wird. Der Iran dagegen sieht sich seit der Revolution von 1979 als anti-imperialistisch und Verteidiger des „wahren“ Islams gegen den westlichen Einfluss.

Denn als es ab 1978 zu Aufständen gegen den damaligen von den USA unterstützten und in der Bevölkerung äußerst unpopulären Herrscher Schah Mohammad Reza Pahlavi kam, konnten sich unter den verschiedenen Gruppierungen der Revolution die Islamisten mit ihrem Anführer Ajatollah Chomeini 1979 durchsetzen. Dessen neue Staatsform der „Herrschaft der Rechtsgelehrten“ baut auf der Scharia auf und der Versuch der Islamisierung hat – verglichen mit der Zeit unter dem Schah – große Auswirkungen auf die Gesellschaft: Kleiderverordnungen (für Männer und Frauen!), eine strikte Trennung der Geschlechter, das Verbot von Alkohol, Musik und Film sowie vielem Weiteren.

Die Regionen des Irans. (Karte: Peter Fitzgerald via Wikimedia Commons)

 

Das schwierige Verhältnis zum Westen

Dabei sind es vor allem zwei Ereignisse, zu denen es noch während und kurz nach der Revolution kam, die das Selbstbild und das Verhältnis zu anderen Staaten, insbesondere zu den USA, bis heute prägen: Die Geiselnahme von 52 US-Diplomaten in Teheran und den ersten Golfkrieg. Bereits während der Revolution, zu Beginn des Jahres 1979, stürmten linksgerichtete Demonstranten die US-Botschaft in Teheran und nahmen die dort arbeitenden US-Amerikaner als Geiseln. Doch während Chomeini die Botschaft das erste Mal räumen ließ und die Geiseln freigab, waren es seine eigenen Anhänger, die im November desselben Jahres den Angriff wiederholten. Wieder wurde die Botschaft gestürmt und 52 Geiseln genommen. Diese wurde 444 Tage festgehalten, um so die Auslieferung des gestürzten iranischen Machthabers Schah Reza Pahlavi aus den USA zu fordern. Versuche der gewaltsamen Befreiung durch die USA scheiterten und erst durch das Lockern von harten Sanktionen konnten die Diplomaten fast anderthalb Jahre später ausgeflogen werden. Damit führte das islamische Regime die USA vor aller Weltöffentlichkeit vor, was bis heute zu Spannungen zwischen den beiden Staaten führt.

Noch während die Diplomaten der Vereinigten Staaten gefangen gehalten wurden, erklärte unterdessen 1980 der Irak unter Saddam Hussein der noch jungen islamische Republik Iran den Krieg. Der erste Golfkrieg dauerte insgesamt acht Jahre und zog massive menschliche und wirtschaftliche Verluste mit sich. Rund eine Millionen Menschen starben, viele davon waren Zivilisten. Saddam Hussein setzte dabei gezielt international geächtete biologische und chemische Kampfstoffe ein, sowohl gegen gegnerische Stellungen, aber auch gegen iranische sowie die einheimische kurdische Zivilbevölkerung. Doch obwohl der Iran die internationale Gemeinschaft aufrief zu intervenieren, lieferten Staaten wie die USA, die Sowjetunion, Saudi-Arabien und viele europäische Länder, darunter auch die Bundesrepublik, Waffen an den Irak und ermöglichten so die Fortsetzung des Krieges. Wenngleich auch der Iran mit Rüstungsgütern unter anderem aus westlichen Staaten beliefert wurde, zieht das islamische Regime bis heute aus dieser fehlenden Unterstützung und dem gefühlten Ausschluss aus der internationalen Gemeinschaft die Legitimierung und die Notwendigkeit von eigenen Atomwaffen.

Das iranische Nuklearprogramm und seine Konsequenzen

Aus verschiedenen Gründen begann der Iran Anfang der 2000er waffenfähiges Uran anzureichern. Zum einen sieht sich der Iran als Regionalmacht, die von anderen Atommächten wie Indien, Pakistan, Russland und Israel umgeben ist. Hinzu kommt der verpuffte Hilferuf an die internationale Gemeinschaft während des ersten Golfkrieges. Das Land kann sich also nicht – so das iranische Narrativ – auf internationales Recht verlassen und braucht eigene Atomwaffen, um seine Nachbarn nachhaltig abzuschrecken und einen Krieg wie den gegen den Irak zu verhindern. Da jedoch besonders Israel und damit die USA iranische Atomwaffen vermeiden wollen, kam es 2015 zum ersten Atomabkommen: Der Iran versprach auf die Anreicherung von Uran zu verzichten und im Gegenzug entließen westliche Staaten Wirtschaftssanktionen. Dabei wurde das Abkommen als Annäherung und als Rückkehr des Irans in die Weltgemeinschaft gefeiert. Insbesondere in der Bevölkerung war die Freude groß, da es einen Aufschwung der geplagten Wirtschaft implizierte.

Doch 2018 kündigte der damalige US-Präsident Donald Trump das Abkommen einseitig, da der Iran nach israelischen Informationen heimlich weiter Uran angereichert haben soll. Europa zeigt sich davon nicht überzeugt und hält an dem Abkommen fest Doch die westlichen Konzerne verließen das Land trotzdem, da die USA drohten Unternehmen vom heimischen Markt auszuschließen, wenn sie weiter Handel mit dem Iran treiben. Entsprechend groß war die Enttäuschung innerhalb der iranischen Bevölkerung gegenüber den europäischen Staaten, die sich nur allzu abhängig von den USA präsentierten. Trotzdem hält Europa, allen voran Deutschland, bis heute an dem Atomabkommen fest, wenngleich es als gesichert gilt, dass der Iran seit 2019 erneut Maßnahmen unternimmt, um waffenfähiges Uran anzureichern. Während der Westen den Iran also immer weiter isoliert, nähert sich das islamische Regime Staaten wie China und Russland an, die ein großes Interesse an den Rohstoffen und der geostrategischen Lage des Irans haben.

Allerdings sind es nicht nur die westlichen Staaten, zu denen der Iran ein schwieriges Verhältnis hat. Im Gegensatz zu einigen arabischen Staaten, die mit den Abraham Accords eine Annäherung an Israel wagen, erkennt der Iran den jüdischen Staat nach wie vor nicht an. Außerdem unterstützt er militante Gruppierungen im Kampf gegen Israel oder um schiitische Minderheiten zu schützen. De facto destabilisieret das islamische Regime die Region und versucht so seinen Anspruch als Regionalmacht geltend zu machen. So tobt im Jemen seit 2015 ein Stellvertreterkrieg zwischen Saudi-Arabien und dem Iran, der bisher rund 400.000 Menschen das Leben gekostet hat. 21 Millionen Menschen, darunter viele Kinder, sind auf humanitäre Hilfe angewiesen. Aber auch im Irak, Libanon oder in Syrien versucht das islamische Regime durch die Unterstützung von teilweise gewaltbereiten und als terroristisch gelisteten Gruppierungen wie der Hisbollah seinen Einfluss geltend zu machen. Dabei gilt als Konkurrent ausgerechnet das wahhabitische Saudi-Arabien, das eine puristische Form des sunnitischen Islams als Staatsreligion vorschreibt. Beide Staaten konkurrieren rücksichtslos um Einfluss in der Region.

Die Alliierten und Einflusszonen des Irans (rot) und Saudi-Arabiens (blau). (Karte: Mausebru via Wikimedia Commons)

Ausblick

Die geopolitische Lage – die Konkurrenz zu Saudi-Arabien, die Isolation von Europa und die dadurch entstehende Abhängigkeit von China und Russland – bringt auch wirtschaftliche Konsequenzen mit sich: Seit Jahren schrumpft die iranische Mittelschicht und wenngleich der Bildungsstandard hoch und vergleichbar mit Deutschland ist, leidet das Land unter einem großen Braindrain, also dem Abwandern von Akademikern. Allein im Jahr 2016 haben 150.000 Akademiker das Land verlassen. Grund dafür sind nicht nur die eingeschränkte Freiheit, sondern auch eine hohe Arbeitslosigkeit von rund einem Viertel bei Jugendlichen. Und spätestens seit der Grünen Bewegung 2009, als die Mittelschicht auf die Straße ging um gegen Wahlbetrug zu demonstrieren, kommt es immer wieder zu Protesten.

Dabei sind die Proteste von 2022 nur das Ende einer weitreichenderen Kette. Der iranischen Bevölkerung, so verschieden wie sie ist, geht es dabei nicht nur um einen Regimewechsel. Sowohl die ethnischen Minderheiten der Kurden im Nordwesten als auch die Belutschen im Südosten an der Grenze zu Pakistan kämpfen schon lange für mehr Autonomie. Dazu kommen die Folgen des Klimawandels und des stetigen Bevölkerungswachstums und damit eine immer bedrohlicher werdende Wasserknappheit und häufigere Extremwettereignisse wie Dürren oder Flutkatastrophen. Selbst die Revolutionsgarden, die Eliteeinheit des Regimes, erkannten – allerdings noch vor den Protesten 2022 – den Klimawandel als größte Bedrohung für das Land. Will sich der Iran langfristig diesen Ereignissen anpassen, muss er – wie auch die anderen Staaten in der Region – multilateral agieren. Es braucht neue Technologien und für ein effizientes Wirtschaften eine komplette Überholung der maroden Infrastruktur. Diese steht unter dem jetzigen System jedoch nicht in Aussicht. Die Proteste im Iran sollten uns also nicht nur aus Sicht von Menschenrechten interessieren, ein neues Regime wäre vermutlich auch deutlich offener für neue Wirtschaftsbeziehungen, kulturellen Austausch und einen nachhaltigen Kampf gegen den Klimawandel.

 

Autorin:

Emma Nentwig hat in Jena, Madaba (Jordanien) und Lille (Frankreich) Politikwissenschaft und Arabistik mit dem Schwerpunkt der islamischen Ideengeschichte studiert. Daneben liegen ihre Forschungsinteressen in der Außen- und Sicherheitspolitik des Nahen und Mittleren Ostens sowie der semitischen Sprachwissenschaft. Außerdem ist sie stellvertretende Vorsitzende des Bundesverbandes für Sicherheitspolitik an Hochschulen (BSH).

 

Literaturtipps:

 


Dieser Text stammt aus dem Sicherheitspolitischen Newsletter des Sachgebietes Sicherheitspolitische Arbeit. Diesen können Sie hier abonnieren.

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