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Jahrestagung: Auf einem guten Weg, aber lange nicht am Ziel

Wir sind auf einem guten Weg, aber noch lange nicht am Ziel. Das war der Tenor bei der Jahrestagung der Reserve der Bundeswehr am Wochenende in Berlin. Um das Ziel einer kaltstartfähigen Bundeswehr zu erreichen, brauche es nicht nur mehr Geld und mehr Waffen – entscheidend sei auch das Mindset.

Wie ist es um die Reservistenarbeit aktuell bestellt? Darum ging es bei der Jahrestagung der Reserve der Bundeswehr.

Foto: Vincent Mosch

Verteidigungsminister Boris Pistorius spricht bei der Jahrestagung der Reserve der Bundeswehr.

Foto: Vincent Mosch

Generalleutnant Markus Laubenthal, Stellvertreter des Generalinspekteurs und Beauftragter für Reservistenangelegenheiten der Bundeswehr.

Foto: Vincent Mosch

Der Präsident des Reservistenverbandes, Oberst d.R. Prof. Dr. Patrick Sensburg.

Foto: Vincent Mosch

jahrestagungreserve

„Damit die Zeitenwende gelingen kann, müssen wir die Bevölkerung mitnehmen“, sagte Verteidigungsminister Boris Pistorius. Die Zeitenwende ist eingeleitet. „Aber sie ist ein Marathon, kein Sprint. Das funktioniert nicht wie bei einem Lichtschalter“, mahnte der Minister. Der Prozess werde sich bis in die 2030er Jahre hinziehen. Um einen weiteren Schritt in die richtige Richtung zu machen, hatte  Pistorius eine Task Force eingerichtet mit dem Ziel, die Verfahren auf den Prüfstand zu stellen und Prozesse zu verschlanken, vor allem in der Personalgewinnung und -bindung. Erste Ergebnisse sollen im Februar 2024, also in rund vier Monaten, vorliegen.

„Die Reserve ist ein unverzichtbarer Bestandteil unserer Streitkräfte und ein Element strategischer Tiefe“, betonte Pistorius. „Landes- und Bündnisverteidigung sind ohne eine gut ausgebildete und verlässliche Reserve nicht darstellbar. Die Reserve wird das Rückgrat sein für den Schutz der Heimat!“ Das bedeutet unter anderem, die zur Verfügung stehenden Dienstposten gezielt aufzufüllen. „Wir brauchen mehr beorderte Reservisten“, sagte der Minister. Genügend Reservistenstellen stünden jedenfalls zur Verfügung. Bis 2027 sind das, so die politische Zusage, 7.500. Heißt: An jedem Tag des Jahres können im Durchschnitt 7.500 Reservistinnen und Reservisten in der Bundeswehr ihren Dienst leisten.

Von diesen Stellen für Reservisten wurden im vergangenen Jahr 88 Prozent und in diesem – prognostiziert – rund 85 Prozent genutzt, sagte der Stellvertreter des Generalinspekteurs und Beauftragte für Reservistenangelegenheiten, Generalleutnant Markus Laubenthal. Darum wurde der Aufwuchs um weitere 500 Stellen für das kommende Jahr erst einmal ausgesetzt. Die politische Zusage, bis 2027 auf 7.500 aufzuwachsen, bleibe jedoch bestehen, betonte Laubenthal. Seit dem Erlass der Strategie der Reserve vor rund vier Jahren sei Vieles in Bewegung gesetzt worden, aber auch er weiß: „Wir sind auf einem guten Weg, aber eben noch nicht am Ziel.“

Rascher Aufwuchs ist entscheidend

Die Kriege in der Ukraine und in Israel hätten zwei Gemeinsamkeiten aufgezeigt: „Erstens: Der rasche Aufwuchs durch die Mobilmachung von Reservisten ist essenziell. Die aktive Truppe beginnt den Krieg, die Reserve beendet ihn. Zweitens: Reserve ist ein Mengengeschäft. Wir müssen lernen, vom Einsatz – in diesem Fall von der Landes- und Bündnisverteidigung – her zu denken. Alles andere ist nicht kriegstauglich!“

Beides setzt jedoch die Verfügbarkeit von Reservistinnen und Reservisten voraus. Verbesserungen stellte Laubenthal in diesem Zusammenhang bei der Grundbeorderung fest. Seit deren Beginn vor zwei Jahren seien inzwischen rund 9.000 frisch ausgeschiedene Soldatinnen und Soldaten auf einem Beorderungsdienstposten eingeplant worden. „Inzwischen gibt es ein Verständnis für und eine Vertrautheit mit der Grundbeorderung“, bemerkte der „Stellv. GI“.

Verband weiterhin besonders beauftragter Partner

Was er aber aus der Wirtschaft wahrnimmt: Die Befürchtung, schlechterer ESG-Ratings, wenn Mitarbeiter für Reservistendienst freigestellt werden. Diese ESG-Ratings bewerten Unternehmen mit Blick auf ökologische und soziale Faktoren. Eine Kooperation mit dem Militär kommt dabei nicht gut an. Laubenthal widerspricht: „Die zivile Wirtschaft kann ihre Aufträge nur erfüllen, wenn die Bundeswehr das auch kann. Diese Unternehmen setzen sich für Demokratie, Sicherheit und Freiheit ein und sollten Bonuspunkte bekommen!“

Zwei weitere gute Nachrichten hatte Laubenthal für die rund 300 Gäste in Berlin und die bis zu 500 Zuschauer des Online-Streams im Gepäck: Der Bürokratieabbau wird fortgesetzt. Nach dem Start der Unterhaltssicherung per App soll nun auch die Heranziehung digital über die App „Meine Reserve“ erfolgen. Ein erster Testlauf startet im Rahmen der Quadriga-Übung im kommenden Jahr, konkret beim „National Guardian“, der in dieser vierteiligen Übungsreihe den Heimatschutz und Host Nation Support abbilden wird. Und: Das Verteidigungsministerium setzt in der beorderungsunabhängigen Reservistenarbeit auch weiterhin auf den Reservistenverband als besonders beauftragter Partner. Konkret sollen dafür nun neue Zielvereinbarungen ausgearbeitet werden.

Dinge möglich machen

Die Reserve in ihrer Gesamtheit nahm der Präsident des Reservistenverbandes, Oberst d.R. Prof. Dr. Patrick Sensburg, in den Blick. Dabei griff er auch Gedanken von Pistorius und Laubenthal auf, etwa beim Personal. „Wir können nicht mit einer Brigade dauerhaft an der NATO-Ostflanke stehen und dahinter kommt nichts mehr“, mahnte Sensburg. „Durchhaltefähigkeit ist kein Selbstzweck, sondern Voraussetzung für eine glaubhafte Abschreckung.“ Dabei gehe es nicht nur darum, einen politischen Plan zu er- oder ein Organigramm zu befüllen, sondern auch, an eine zweite, dritte oder vierte Welle zu denken und an Aufgaben, die über Heimatschutz und Host Nation Support hinausgehen. Dabei sieht er in der Reserve in ihrer Gesamtheit sehr großes Potenzial. „Der Aggressor muss wissen, dass es sich nicht lohnt, dass wir dieses Potenzial aktivieren“, sagte Sensburg und mahnte zeitgleich eine enge Verzahnung mit der aktiven Truppe an. „Wir können es uns nicht mehr leisten, auf den einen oder die andere zu verzichten, sondern wir müssen diejenigen sein, die Dinge möglich machen.“

Der Beirat Reservistenarbeit beim VdRBw unterstützt Sensburg. „Wir sind überzeugt, dass neben den grundbeorderten Reservisten weitere Back-Up-Kräfte aus unbeorderten Reservisten vorgehalten werden müssen, um die Personelle Einsatzbereitschaft und einen hinreichenden Einsatzwert von Truppenteilen durchhaltefähig gewährleisten zu können“, sagte Generalmajor a.D. Walter Huhn, Vorsitzender des Beirats, der mit seinen 22 Vereinen und Verbänden die Interessen von rund 400.000 Mitgliedern vertritt. Huhn weiter: „Damit rückt das in der Allgemeinen Reserve – und in der wachsenden Gruppe interessierter Ungedienter – steckende Potenzial mehr und mehr in den Fokus.“

Dinge möglich machen, dafür braucht es den Rückhalt in der Gesellschaft. Und da ist es wieder: das Mindset. Für Input von außen sorgte in diesem Zusammenhang Brigadegeneral Manu Tuominen von den finnischen Streitkräften. Gemäß einer von ihm präsentierten Erhebung sind über die vergangenen Jahre durchweg mehr als 80 Prozent der Finnen bereit, ihr Land mit der Waffe zu verteidigen. Verpflichtender Wehrdienst für Männer, freiwilliger Wehrdienst für Frauen, regelmäßige Inübunghaltung, Unterstützung und ein breites Verständnis der zivilen Arbeitgeber, dazu ein gesamtstaatlich gedachter Sicherheitsansatz. Es scheint, als machten die Finnen vieles richtig. „Hier können wir uns etwas abschauen“, blickte auch General Laubenthal zum Abschluss des ersten Tages Richtung Norden.

Demografischer Wandel zusätzliche Herausforderung

Auf dem Weg, aber noch lange nicht am Ziel – dieser Grundtenor setzte sich am zweiten Tag fort. Unter anderem berichtete Oberst i.G. Peter Haupt, Leiter des „Reservistenreferats“ FüSK III 4 im Verteidigungsministerium über den aktuellen Stand bei der Umsetzung der Strategie der Reserve. Das Thema Personal griff Oberst Wilhelm Neißendorfer aus dem Bundesamt für Personalmanagement der Bundeswehr auf. Seinen Angaben zufolge ist bei der Grundbeorderung nun Schwung drin und die Zielmarke von 2.500 Grundbeorderten pro Quartal werde in Kürze erreicht. Sorge bereitet ihm jedoch die Demografie. Die Zahl von 900.000 der Dienstleistungsüberwachung unterliegenden Reservistinnen und Reservisten werde in den kommenden fünf Jahren auf rund 750.000 abschmelzen, da die geburtenstarken und seinerzeit wehrpflichtigen Jahrgänge dann die Altersgrenze überschreiten.

Oberst i.G. Florian Kracht ist seit September der neue Leiter des Kompetenzzentrums für Reservistenangelegenheiten der Bundeswehr und hat sich in den ersten Wochen auf dem neuen Dienstposten einen Überblick verschafft, den er mit dem Plenum teilte. Auch ihn beschäftigten die nicht voll ausgeschöpften RDL-Tage, jedoch beobachtete er, dass sich die Tage, die ein Reservist im Schnitt übte, in den vergangenen Jahren erhöht hätten. Der Trend geht also hin zu wenigen Reservisten, die zehn Monate oder länger üben anstatt zu kurzen Reservistendiensten zur Inübunghaltung. „Hier brauchen wir eine Trendumkehr“, sagte Kracht.

Heimatschutz in der Bevölkerung angekommen

So weit, so komplex. Einer, der die Auswirkungen von theoretischen Planungen auf dem Kasernenhof zu spüren bekommt, ist Oberst Jens Teichmann, Kommandeur des Heimatschutzregiments 2, das am kommenden Donnerstag in Münster feierlich in Dienst gestellt wird. Dabei sieht er sein Regiment vergleichsweise gut aufgestellt: In der Lützow-Kaserne stehen den Reservisten vier Blocks mit drei gut gefüllten Waffenkammern und 227 Betten zur Verfügung, der Standortübungsplatz befindet sich gleich nebenan. Dazu kommt eine Liegenschaft im Zentrum Münsters, wo der Regimentsstab auf 37 IT-Arbeitsplätze zurückgreifen kann. 75 Prozent der Dienstposten sind mit qualifiziertem Personal gefüllt und auch vakante aktive Dienstposten konnten mit Reservisten befüllt werden. Dazu kommen 1.000 Bewerbungen – eine stattliche Zahl. Einziger Wermutstropfen ist die zum Teil nicht dienstpostengerechte Besetzung von Stellen. „Aber das kriegen wir auch noch hin“, gibt sich Teichmann optimistisch, mahnt aber dennoch Geschwindigkeit und Verlässlichkeit von allen Seiten an. „Wenn wir die Verfügbarkeit von Reservistinnen und Reservisten deutlich steigern wollen, benötigen wir alternative Formen des Reservistendienstes.“ Unterm Strich sieht er den Heimatschutz durch die Bundeswehr in der Bevölkerung angekommen – und da ist es wieder, das Mindset.

Sprüche wie „Der Wille entscheidet“ waren zu Zeiten der Wehrpflicht in zahlreichen Liegenschaften an die Wände von Korridoren gepinselt. Nicht nur in der Mode sind die 80er und 90er zurück.


Die Jahrestagung hatte am Freitag begonnen, unter anderem wurde hier der Preis Partner der Reserve verliehen – wir berichteten.

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