Jahrestagung Reserve: Prinzip der Freiwilligkeit hinterfragen
Die Jahrestagung Reserve gehört zum Herbst wie Martinszüge oder nasses Laub auf dem Gehweg. Seit vielen Jahren richten der Reservistenverband und das Bundesministerium der Verteidigung diese Veranstaltung gemeinsam aus. Am Freitag geht es dabei traditionell um den großen sicherheitspolitischen Rahmen.
Vor allem drei Aspekte klangen in allen Vorträgen durch. Der erste: Die Masse macht’s. Personalgewinnung steht bei allen Akteuren ganz oben auf der Agenda. Der zweite: Das Prinzip der Freiwilligkeit steht auf dem Prüfstand. Reservistinnen und Reservisten sollen verlässlich üben können. Damit einher geht ein dritter Kernaspekt: Noch schöner wäre es, wenn man eine solche Verpflichtung gar nicht bräuchte. Verteidigung ist ein gesamtgesellschaftlicher Kraftakt. Nur haben das anscheinend längst noch nicht alle verstanden.
Los ging es aber erst einmal mit den aktuellen Entwicklungen. „Eine turbulente Woche“, stellte der Minister zum Eingang seiner Rede trocken fest. Sein Ressort habe er nach dem Platzen der Ampel-Koalition gebrieft: „Wir arbeiten weiter auf unserer Spur! Unabhängig davon, ob die Übergabe des Ressorts nach bevorstehenden Neuwahlen an einen anderen erfolgt – oder an mich“, schmunzelte er, um dann aber auch gleich wieder ernst zu werden: „Parteipolitische Überzeugungen sind hier schädlich. Wir machen mit dem weiter, was wir angefangen haben.“ Das übergeordnete Ziel ist, auf NATO-Ebene und in Europa ein verlässlicher Partner zu sein. Nicht erst Trump habe in seiner ersten Amtszeit von den Europäern verlangt, verteidigungspolitisch auf eigenen Füßen zu stehen. „Schon Obama hat uns mehr abverlangt. Jetzt ist es mehr denn je von zentraler Bedeutung, dass wir Europäer die vor uns liegenden Aufgaben angehen.“
Um die Einsatzbereitschaft sicherzustellen und die Verpflichtungen gegenüber der NATO zu erfüllen, sei es erforderlich, dass „wir die Reserve bereits im Frieden so befähigen müssen, dass wir sie im Ernstfall unmittelbar einsetzen können. Wir wollen und müssen die Reserve in den kommenden Jahren so aufstellen, dass sie zum Rückgrat für den Heimatschutz wird“, sagte Pistorius. Der Minister nahm auch Bezug auf die derzeit laufende Imagekampagne des Reservistenverbandes unter dem Motto „Bereit sein ist alles“, die Verbandspräsident Sensburg später vorstellte. Zu dieser Bereitschaft gehöre, sich zu engagieren und Verantwortung zu übernehmen. „Bereit sein erfordert aber auch den Willen zur Veränderung“, so der Minister. Damit ist unter anderem eine stärkere Rolle im Host Nation Support gemeint oder eben auch die Zuordnung der Heimatschutzkräfte zum Heer. „Wir gehen in die richtige Richtung und stärken damit die Dimension Land, die in einem Bündnisfall besonders gefordert sein dürfte.“
Dafür muss die Reserve aber auch fit genug sein. „Die Übung National Guardian vor einigen Monaten hat eindrucksvoll gezeigt, was diese Kräfte können“, lobte der Minister. Dafür brauche es aber auch entsprechend Ausrüstung und Übung. Und Masse. „Für Verteidigung unseres Landes brauchen wir genügend Frauen und Männer, die wissen, was sie tun. Sicherheit kann nicht von einigen wenigen gewährleistet werden“, leitete Pistorius zum neuen Wehrdienstmodell über. Diese soll die jungen Frauen und Männer nicht nur körperlich fordern, sondern ihnen auch einen anderen Blick auf die Bundeswehr vermitteln. „Es geht nicht nur darum, eine Uniform zu tragen, sondern Verantwortung zu übernehmen.“
„Hin zu einer verpflichtenden Heranziehung“
Neben der Verantwortung ist die Verlässlichkeit ein großes Thema. Das hat Generalleutnant Andreas Hoppe, Stellvertreter des Generalinspekteurs der Bundeswehr und in dieser Funktion auch Beauftragter für Reservistenangelegenheiten, auf seiner Liste. Ganz konkret stellt er hier das Freiwilligkeitsprinzip in Frage. Denn auch wenn alle verfügbaren Dienstposten mit Grundbeorderten besetzt sind, mag das zwar auf dem Papier gut aussehen, bringt praktisch aber wenig bis gar keine Übungstätigkeit. „Ich will hin zu einer verpflichtenden Heranziehung. In anderen Ländern gibt es das schon, aber dort ist es auch gesamtgesellschaftlicher Konsens, dort bräuchte man diese Verpflichtung nicht einmal, da alle die Notwendigkeit sehen und das mittragen.“
Womit wir wieder beim Mindset wären. „Mein Minimalanspruch ist, dass sich jeder einmal die Frage gestellt hat: ‚Wo ist mein Platz, wenn es losgeht?‘ Das muss nicht unbedingt bei der Bundeswehr sein. Das kann beim THW sein oder der Bäcker hält seine Backstube am Laufen. Selbst wenn die Antwort lautet ‚am Strand von Mallorca‘, dann ist das vielleicht nicht die ideale Antwort, aber er hat sich zumindest mal mit der Frage auseinandergesetzt.“
Mit Blick auf den Heimatschutz ist Hoppe „zutiefst überzeugt davon, dass es ein hervorragender Ansatz ist, junge Menschen regional an die Streitkräfte heranzuführen. Allerdings bin ich noch nicht ganz davon überzeugt, dass alle Truppenteile nach den gleichen Prinzipien ausgebildet werden.“ Der „Stellv. GI“ strebt hier eine Standardisierung an. Die Heimatschutzregimenter seien „ein zartes Pflänzchen, wir müssen aufpassen, dass beim Übergang zum Heer nix schiefgeht.“ Für den 1. April 2025 kündigte Hoppe die Aufstellung des sechsten Regiments in Berlin an. „Eigentlich bräuchten wir aber nochmal sechs…“
Eine klare Absage erteilte Hoppe einer militärischen Weiterverwendung nach Vollendung des 65. Lebensjahres. „Es gibt den militärischen Bedarf nicht.“ Ohne Uniform, etwa als Contractor, könne man seine Fähigkeiten jedoch weiterhin in der Truppe einbringen.
Die Masse macht’s
„Die Zeitenwende betrifft nicht nur die Bundeswehr, sondern auch die Satelliten, die drumherum schwirren, also auch den Reservistenverband“, merkte Hoppe in seinem Vortrag an. Das nahm Verbandspräsident Oberst d.R. Prof. Dr. Patrick Sensburg auf. Neben einem beiderseitigen Einverständnis über die besondere Beauftragung mit der beorderungsunabhängigen Reservistenarbeit hinaus denkt er an konkrete Zielvereinbarungen mit dem Streitkräfteamt. Dazu sei man bereits in einem konstruktiven Austausch mit dem Kompetenzzentrum für Reservistenangelegenheiten.
Die Bundeswehr könne sich auch in Zukunft auf die Unterstützung des Reservistenverbandes verlassen, sicherte Sensburg zu. Das gelte nicht nur für gewisse Ausbildungen, sondern auch dabei, ein gewisses Grundverständnis in der Bevölkerung zu wecken. „Wir müssen jetzt erklären, was wir machen und warum wir das machen“, sagte Sensburg. „Wir müssen jetzt das Narrativ schaffen, damit die Bevölkerung versteht, warum wir auf lange Sicht 260.000 Reservistinnen und Reservisten brauchen.“ Oder um es mit den Worten der diesjährigen Gastnation Großbritannien auszudrücken: Mass matters!
Mehr Masse, mehr als sechs Heimatschutzregimenter – das sagt auch Generalleutnant André Bodemann, Befehlshaber des Territorialen Führungskommandos. Zwar ist der Heimatschutz attraktiv – das belegen das große Interesse und zahlreiche Bewerbungen – allerdings sei der Ressourcenumfang absehbar nicht ausreichend für die Schutzbedarfe gemäß des Operationsplans Deutschland (OPLAN DEU). Noch für diesen Monat sei ein Stresstest für den OPLAN geplant, an dem sich auch die Oberen Bundesbehörden, Blaulichtorganisationen und die Länder beteiligen sollen. Aus der im Frühjahr durchgeführten NATO-Übung Quadriga, unter deren Dach auch der National Guardian stattfand, habe er durchaus positive Erkenntnisse gewinnen können. „Doch ein echter Stresstest war das nicht.“ Für den nächsten April kündigte Bodemann eine zweite Iteration zum OPLAN an, vor allem der NATO-Beitritt Schwedens habe hier entscheidende Auswirkungen. Zudem formulierte Bodemann den Bedarf nach einem Rechtsstatus zwischen Frieden und Spannungs- und Verteidigungsfall, eine rechtlich definierte Grauzone, wenn man so will. „Parallel dazu bräuchte man sowas auch gespiegelt auf ziviler Seite.“
„Aufhören, die Bundeswehr schlechtzureden“
Ein Stresstest für die gesamte Gesellschaft – so sieht es Generalinspekteur Carsten Breuer. Die derzeitige sicherheitspolitische Großwetterlage sei kein „new normal“, sondern der alte Zustand. Nach dem Fall der Mauer hätten wir lediglich 30 Jahre zum Durchatmen gehabt. „Das Akzeptieren einer Bedrohung und sich dagegen aufzustellen muss wieder in die Gesellschaft getragen werden. Wenn wir als Europa nicht bereit sind, uns zu verteidigen, waren Friedensbemühungen nach dem Zweiten Weltkrieg umsonst.“ Dabei sind alle gefordert. „Das Thema Kommunikation muss bei uns eine besondere Rolle spielen. Erzählen Sie Ihren Nachbarn, was gut ist, in der Bundeswehr. Erzählen Sie es General Hoppe und mir, was schlecht läuft. Aber lassen Sie uns aufhören, uns darin zu suhlen, die Bundeswehr schlechtzureden!“
Der Blick nach Russland und das Umstellen des Landes auf Kriegswirtschaft erinnert Deutschlands ranghöchsten Soldaten an ein Zitat des russischen Schriftstellers Anton Tschechow: „Wenn im ersten Akt ein Gewehr an der Wand hängt, wird es im letzten Akt abgefeuert.“
Darüber hinaus bot der Vorsitzende des Beirats Reservistenarbeit, Generalmajor a.D. Walter Huhn, die Unterstützung der Beiratsverbände an. Dame Sheron Nesmith und Generalmajor Marc Overton sprachen über das Reservesystem der Gastnation Großbritannien und über den Output des jüngst unterzeichneten Trinity House Agreements, das die bilaterale Zusammenarbeit zwischen Deutschland und dem Vereinigten Königreich festigt und erweitert. Jonathan Weiss, Managing Director im Amazon Development Center Germany ermöglichte den Teilnehmerinnen und Teilnehmern einen Einblick aus der Wirtschaft. Das Unternehmen war in diesem Jahr als „Partner der Reserve“ ausgezeichnet worden.
Nach dem großen sicherheitspolitischen Rahmen heute geht es morgen weiter mit Detailfragen der Reservistenarbeit. Dann geht es unter anderem um aktuelle Entwicklungen zum Personalmanagement der Reserve und zum personellen Wehrersatz und um den Übergang der Heimatschutzkräfte zum Heer.
[Edit 09.11.: Hier entlang geht es zum Tag 2 der Jahrestagung Reserve]