Libanons neue Regierung – Ein reformistischer Balanceakt
Nach zwei Jahren der politischen Paralyse des Libanons wurde im Januar 2025 mit der Wahl von Joseph Aoun zum Präsidenten ein neues Kapitel libanesischer Politik aufgeschlagen. Der ehemalige Oberbefehlshaber der libanesischen Streitkräfte konnte sich mit einer starken Mehrheit als 14. Präsident durchsetzen und ist sowohl im Land als auch international Hoffnungsträger für einen politischen Kurswechsel in der anhaltenden Krise.
Die Koalition aus der Amal-Partei und Hisbollah musste infolge der schweren Verluste im jüngsten Krieg mit Israel, die insbesondere ihre schiitische Anhängerschaft getroffen haben, ihre Blockade der libanesischen Regierung aufgeben. Dadurch hat sie den Weg für Aouns Einzug in den Präsidentenpalast freigemacht. Zudem kommt, dass internationale Akteure wie die USA, Frankreich, Saudi-Arabien und Katar eine neue Regierung zur Voraussetzung für ihre Unterstützung beim Wiederaufbau des Libanons gemacht und so den notwendigen politischen Druck erzeugt haben, um die Regierungsbildung zu beginnen.
Nawaf Salam wurde als neuer sunnitischer Premierminister des Libanons mit dieser Aufgabe betraut. Bereits kurz nach seiner Ernennung konnte er zusammen mit dem christlichen Präsidenten Aoun am 8. Februar 2025 ein neues Kabinett bekannt geben. Salam gilt als Reformist und kluger politischer Stratege. Insbesondere sein letztes Amt als Präsident am Internationalen Gerichtshof weckt im Libanon die Hoffnung, er könnte den Staat aus der Krise führen. Das geschickte politische Handwerk des Sprösslings einer einflussreichen Familie spiegelt sich auch in seinem klassischen auf dem Taif-Abkommen basierenden 24-Minister-Kabinett wider. Das konkordanzdemokratische System des Libanons sieht dabei ein konfessionelles Gleichgewicht zwischen den dominanten Konfessionen in der Regierung vor. Diese Voraussetzung haben die Kabinette in der Vergangenheit häufig handlungsunfähig gemacht. Es birgt aber auch das Potenzial durch strategische Ernennung der Ministerämter die im Libanon notwendige konfessionelle Legitimation und damit den Rückhalt der verschiedenen Bevölkerungsgruppen und Eliten zu sichern.
Mächtebalance im libanesischen Kabinett
Anders als in vorherigen libanesischen Kabinetten setzen Aoun und Salam weniger auf konfessionelle Zugehörigkeiten als auf technokratische Kompetenz. Beide haben die verfassungsrechtlich festgelegte konfessionelle Balance geschickt genutzt, um Blockierungen des politischen Betriebs zu vermeiden und gleichzeitig Kabinettsmehrheiten für ihre Agenda zu sichern. Alle neuen Minister mit Ausnahme von Noura Bairakdarian von der armenischen Tashnag-Partei haben selbst keine direkte Affiliation mit einer Partei. Ein Umstand, der es erschwert ihre politische Strategie in der nächsten Zeit vorherzusehen. Unter den Ministern sind viele bekannte Figuren der libanesischen Öffentlichkeit, einige mit angesehenen akademischen Abschlüssen und fünf Frauen, was einen deutlichen Fortschritt in der Repräsentation gegenüber der vorangegangenen Regierung darstellt.
In der Regierung zeigt sich deutlich die Allianz von Präsident Aoun und Premierminister Salam, die gemeinsam zehn Ministerposten besetzt haben und dabei zentrale Ministerien im Machtkampf mit der Hisbollah sichern konnten. Ein Schachzug, der die Regierungsfähigkeit deutlich stärken könnte, war die Ernennung des Schiiten Fadi Makki als Minister für Verwaltungsreform. Dank der Nominierung eines Schiiten durch das christliche und sunnitische Lager konnte dieser Posten nicht durch eine Person aus den Reihen der schiitischen Amal-Partei oder Hisbollah besetzt werden. Diese politische Teilung der schiitischen Kabinettsmitglieder schwächt deren Einfluss auf die Funktionalität der Regierung, da sie nicht als konfessioneller Block agieren können. Gleichzeitig hat Salam verhindert, dass es bei seinem eigenen sunnitischen Block zu einer ähnlichen Zersplitterung kommt. Die sunnitischen Mitglieder der Regierung kommen aus Salams eigenen Umfeld und lassen einen starken Rückhalt für den Premierminister erwarten. Andere sunnitische Gruppen wie die Parteien „National Moderation“, die im Gebiet um Akkar im Nordlibanon stark ist, oder „National Accord“, die in der Vergangenheit eng mit der Hisbollah zusammengearbeitet hat, wurden bei der Regierungsbildung nicht berücksichtigt.

Mit dieser Sicherung der sunnitischen Unterstützung in der Regierung geht Salam aber auch das Risiko ein, wichtigen Rückhalt in der sunnitischen Bevölkerung zu verlieren und die im Libanon sehr ausgeprägten Dezentralisierungstendenzen weiter zu verstärken. Durch die starke konfessionelle und politische Segregation im Libanon sind die kommunalen Verwaltungen vergleichsweise autonom. Sie unterhalten teilweise eigene Sicherheitskräfte, Sozialsysteme und unterscheiden sich regional stark in ihrer Struktur. Diese herausgehobene Position der von politischen Eliten dominierten lokalen Verwaltungen schwächt die Zentralregierung in Beirut und ist ein entscheidender Faktor bei der Wiederherstellung der uneingeschränkten Autorität der libanesischen Regierung nach der langen Paralyse. Präsident Aoun konnte die christliche Repräsentation im Kabinett auf ähnliche Weise unter Kontrolle bringen wie Salam. Insbesondere der Ausschluss des maronitisch geprägten „Freie Patriotische Bewegung“, der zuvor größten Regierungsfraktion, ist eine klare Kampfansage an die Vorgängerregierung, die einen starken pro-iranischen Kurs verfolgte. Dem fielen auch alle anderen Minister des vorherigen Kabinetts zum Opfer sowie die christliche Marada-Partei, die mit der Hisbollah verbündet ist.
Repräsentation der Konfessionen
Mit der Kontrolle über das Innen- und Verteidigungsministerium, aber auch wichtige soziale und kulturelle Ressorts sichert sich die Allianz des Präsidenten und Premierministers eine regierungsfähige Mehrheit im eigenen Kabinett. Damit ist sie in der Lage, sich gegenüber den anderen Blöcken zu behaupten. Neben diesem Hauptblock haben die anderen Regierungsparteien weitere 12 Ämter nominiert. Das darunter kaum Parteimitglieder sind, ist auch auf den Einfluss der USA zurückzuführen. Washington hat bei der Regierungsbildung eine klare Haltung gegen die Besetzung von Hisbollah-Mitgliedern gezeigt und konnte seinen Einfluss geltend machen. Nichtsdestotrotz wurden die Ämter durch die Parteien nominiert, was auf klare Präferenzen der einzelnen Minister zu bestimmten Lagern hindeutet.
Die „Libanesische Kräfte“ von Samir Geagea sind mit fünf Ministern in der Regierung, darunter das Außen- und das Energieministerium. Damit bildet die aus einer christlichen Miliz entstandene Partei den zweitgrößten Block des neuen Kabinetts. Die drusische „Progressive Sozialistische Partei“ besetzt die Ressorts für Landwirtschaft und öffentliche Arbeit und die maronitische Kataeb-Partei konnte sich das wichtige Justizministerium sichern. Wie auch die Regierung war die Justiz im Libanon in den letzten Jahren blockiert. Große Prozesse wie zum Beispiel zur Explosion im Beiruter Hafen oder zum Betrugsverfahren rund um den ehemaligen Chef der libanesischen Zentralbank, Riad Salameh, sind noch nicht abgeschlossen. Auch die armenische Tashnag-Partei, die in der Vergangenheit immer wieder mit der Hisbollah zusammengearbeitet hat, ist mit dem Jugend- und Sportministerium vertreten.

Einen zwar geschwächten, aber dennoch signifikanten Block bildet die Allianz aus der Amal-Partei und der Hisbollah, die sich vier zentrale Ressorts sichern konnten. Mit den Ministerien für Finanzen, Umwelt, Arbeit und Gesundheit sitzt sie an Schlüsselpositionen beim Wiederaufbau der schwer angeschlagenen libanesischen Wirtschaft. Insbesondere die Ernennung von Yassin Jaber als Finanzminister sorgte für Aufsehen. Jaber, selbst kein Mitglied von Amal oder Hisbollah, wurde auf Drängen des schiitischen Parlamentspräsidenten Nabih Berri hin ernannt und stellte bereits kurz nach der Ernennung klar, er würde das Kabinett nicht blockieren. Das Finanzministerium hat im Libanon eine besonders herausgehobene Position, da es bei nahezu allen Regierungsentscheidungen zeichnungsberechtigt ist. Dadurch kann es in vielen Fällen Prozesse verlangsamen oder sogar blockieren. Durch die bewusste Ernennung eines parteiungebundenen Schiiten gibt es im Libanon Hoffnung, dass das Amal-Hisbollah-Bündnis diese Sperrfunktion tatsächlich nicht missbrauchen wird, um die eigene politische Agenda aus der geschwächten Position im Kabinett heraus durchsetzen zu können. Das Kabinett wird im Parlament von einer umfangreichen Mehrheit gestützt. Die Oppositionsparteien werden daher wohl ein geringeres Problem für die Regierung darstellen als die Machtkämpfe in den eigenen Reihen.
Reformen für den Libanon? Eine Einschätzung
Das neue Kabinett zeigt deutlich den reformistischen Kurs der neuen libanesischen Führung. Der weitestgehende Verzicht auf politische Eliten, der Fokus auf Kompetenz und das klare Ziel, die Hisbollah zu schwächen spricht eine Sprache des Aufbruchs und der Erneuerung festgefahrener Strukturen, die das Land in den letzten Jahren gelähmt haben. Aber kann die Erneuerung gelingen?
Die Zeit der neuen Regierung ist knapp bemessen und die Aufgaben sind groß. Bereits im Mai 2026 sind die nächsten regulären Wahlen angesetzt. Sowohl Salam als auch Aoun können sich nicht darauf verlassen, dass der internationale Druck und die geschwächte Hisbollah ihnen auch im kommenden Jahr eine strategische Regierungsbildung ermöglichen werden. Bis dahin die großen Aufgaben der Restoration der Wirtschaft, der Verhandlungslösung mit Israel und der Frage der syrischen Geflüchteten im Libanon zu bewältigen scheint kaum möglich. Schon jetzt melden die politischen Eliten im Land ihre Machtansprüche an. Bereits auf der Beisetzung von Hassan Nasrallah, dem ehemaligen Generalsekretär der Hisbollah, am 23. Februar 2025 betonte sein Nachfolger Naim Qassem die politische Rolle, die er in Zukunft zu übernehmen gedenkt. Er unterstrich das Selbstverständnis der Hisbollah als integraler Bestandteil der politischen Macht im Libanon. Dabei streckte er der neuen Regierung die Hand aus, um das Land gemeinsam wieder aufzubauen. Gleichzeitig betonte Qassem den Antagonismus zu Israel und verlangte eine klare und konfrontative Sprache der Regierung gegenüber dem südlichen Nachbarstaat.
Ob das neue Kabinett seinen Kurs unabhängig von der Hisbollah durchsetzen kann, bleibt abzuwarten und ist sicherlich auch vom Maß der internationalen Unterstützung abhängig. Im Libanon wird es nicht mehr lange dauern, bis sich die bisher dominierenden Machtsysteme aus Klientelismus und konfessioneller Kontrolle erholt haben und die alten politischen Eliten versuchen werden, Einfluss auf die neue Regierung zu nehmen. Erfolgsaussichten werden auch an der Entschlossenheit und Unbestechlichkeit der neuen politischen Führung hängen, zwei Fähigkeiten, die Aoun und Salam zumindest bei der Regierungsbildung bereits unter Beweis stellen konnten.
Autor:
Paul Behne studierte Sozial- und Kulturanthropologie, Politikwissenschaften und War and Conflict Studies an der Freien Universität Berlin und der Universität Potsdam mit Forschungsaufenthalten in Südamerika, dem Center of Excellence: Law, Identity and the European Narratives in Helsinki sowie der Heinrich-Böll-Stiftung im Libanon. Seine akademischen Schwerpunkte liegen in der angewandten Friedensforschung und kritischen Staatstheorie im Nahen und Mittleren Osten und dem Osten Europas. Er ist Gründer und Vorsitzender des Global Perspectives Forum, Senior Research Fellow beim EPIS Think Tank und arbeitet in der sicherheitspolitischen Strategieberatung.
Literaturtipps:
- Bauer, Anne (2025): Kriege und Konflikte – Libanon, Bundeszentrale für politische Bildung.
- Bauer, Miachel (2025): Ein neuer Präsident für den krisengebeutelten Libanon, Konrad-Adenauer-Stiftung.
- Deutsche Welle (2025): Ende der Politblockade: Der Libanon hat eine neue Regierung.
- Hijazi, Salah (2025): Political anatomy of the Salam government, L’Orient Today.
- Petermann, Jan-Henrik (2022): Libanon: Wie funktioniert der komplexe Schmelztiegel der Religionen und Kulturen?, RedaktionsNetzwerk Deutschland.