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Die Reserve

Personalgewinnung mal anders im Landeskommando Hessen

Eine Projektgruppe des Landeskommandos Hessen hat herausgefunden, dass die Bereitschaft, aktiv zum Aufbau der Reserve beizutragen, unter Arbeitgebern und Reservisten hoch ist. Ein kurzfristiger und signifikanter Aufwuchs der Reserve ist möglich. Trotzdem reichen diese beiden Voraussetzungen oft nicht aus. Für ein Win-Win-Win-Umfeld zwischen Bundeswehr, Reservistendasein und Arbeitgebern müssen meist noch mehr Faktoren stimmen. Häufig steht sich dabei das System Bundeswehr im administrativen Umgang mit potenziellen Reservistinnen und Reservisten selbst im Weg.

Oberstabsfeldwebel Joachim Göller erstellt eine mögliche Dienstposten-Struktur für das neu aufzustellende Heimatschutzregiment 5 Hessen. Es ist eine Herausforderung, die Reservisten mit ihrem jeweiligen Status entsprechenden Dienstposten zuzuordnen.

Foto: Benjamin Vorhölter

Landeskommando Hessenpersonal

Die ehemalige Vorsitzende des Verteidigungsausschusses, Marie-Agnes Strack-Zimmermann, forderte kurz vor ihrem Wechsel nach Brüssel, diejenigen Reservisten, die der Wehrüberwachung unterliegen, angesichts der Bedrohung aus Russland zu aktivieren. Dies begrüßte der Präsident des Reservistenverbandes. Oberst d.R. Professor Dr. Patrick Sensburg schlug vor, Reservistinnen und Reservisten systematisch zu erfassen, um sie für den Heimatschutz oder für die Aufgaben der Landes- und Bündnisverteidigung gewinnen zu können. Das erfordert einen Wiederaufbau der Strukturen des Wehrersatzes. Seit der Aussetzung der Wehrpflicht wurden diese nahezu komplett abgebaut. Die Adressen von ehemaligen Wehrdienstleistenden oder Zeitsoldaten, die in den Akten oder Datensätzen des Bundesamtes für das Personalmanagement der Bundeswehr (BAPersBw) schlummern, garantieren nicht auf Anhieb Erfolg.

Häufig sind die Daten veraltet. Viele Personen sind längst unbekannt verzogen. Das führt dazu, dass die Bundeswehr nicht weiß, wo sie potenzielle Reservisten erreichen kann. Sie weiß ebenso wenig, welches fachliche Potenzial in diesen Menschen steckt, die sich nach ihrer Bundeswehrzeit zivilberuflich weiterqualifiziert haben. Woher sollen die Reservistinnen und Reservisten für den Heimatschutz kommen? Dazu bräuchte die Bundeswehr ein einheitliches und stringent durchstrukturiertes System für Personalgewinnung, Erfassung und Betreuung– nur für Reservisten. Das gibt es bislang nicht. Wie so etwas aussehen könnte, zeigt das Landeskommando Hessen mit dem Pilotprojekt Kooperation der Bundeswehr mit Wirtschaft und Arbeitgebern.

Erfolg mit außergewöhnlichen Maßnahmen

„Wir machen nichts nach Gefühl, nach einer Ahnung oder Meinung, wie man Reservisten gewinnen kann. Wir sind ausschließlich evidenzbasiert vorgegangen, so wie man auch in militärischen Strukturen eigentlich zu Entscheidung und Maßnahmen kommen sollte“, sagt Oberstleutnant Tilman Engel. Er ist Leiter der Projektgruppe, die der frühere Stellvertreter des Inspekteurs der Streitkräftebasis, Generalleutnant Jürgen Weigt, eingesetzt hatte. Seine und die Arbeit seines Teams lassen sich sehen. Mehr als 2.500 Bewerberinnen und Bewerber hat das Landeskommando Hessen für das neu aufzustellende Heimatschutzregiment 5 gewinnen können. Derzeit besteht die Aufgabe darin, die Frauen und Männer ins System Bundeswehr zu bekommen und sie auf Dienstposten im Heimatschutzregiment 5 zu setzen. Dazu später mehr. Mehr als drei Viertel dieser Bewerberinnen und Bewerber hat das Team um Tilman Engel mit bundeswehrexternen Maßnahmen wie Medienaufrufen, Direktanschreiben und Ansprache über Arbeitgeber für einen Dienst im Heimatschutzregiment überzeugen können. Wie ist der Erfolg zu erklären?

Mit Zahlen und einer Menge an Daten. Diese hat das Team um Oberstleutnant Engel bei 1.300 Arbeitgebern und 56.000 Reservisten in den vergangenen Jahren wissenschaftlich erhoben. Ziel war es, mehr über die betroffenen Zielgruppen herauszufinden. Mit Zielgruppen sind die Arbeitgeber und die Reservisten gemeint. „Wir sind analytisch vorgegangen. Das ist die einzige wissenschaftliche Untersuchung zum Thema Wirtschaft und Reserve“, sagt Engel und fährt fort: „Wir sollten herausfinden, wozu die Arbeitgeber und Reservisten in der Lage sind, was sie motiviert und wozu sie fähig sind. Wenn wir Reservisten für den Heimatschutz gewinnen wollen, müssen wir genau wissen, wo sie zu finden sind und wie man sie ansprechen kann.“ Das systematische und wissenschaftliche Vorgehen hat viele Erkenntnisse hervorgebracht, die für die Kommunikation des komplexen Themas Reserve und Wirtschaft bundesweit hilfreich sind.

Corporate Citizenship ist für Unternehmen ein Faktor

„Wir haben herausgefunden, dass binnen Jahresfrist 40.000 bis 50.000 Reservisten für den Heimatschutz und andere Reserveeinheiten gewonnen werden könnten. Die Potenziale sind vorhanden. Die Bereitschaft der Arbeitgeber ist groß. 60 Prozent der Arbeitgeber wären bereit, Reservisten für zumindest zehn Arbeitstage pro Jahr freizustellen, aus dem mit Wochenenden, bis zu drei Ausbildungswochen werden“, schildert Tilman Engel. Er und sein Team haben seit Beginn des Projekts im Jahr 2019 intensiv den Kontakt mit der Wirtschaft aufgenommen. Bei mehr als 1.300 strukturierten Gesprächen mit Vertretern der Industrie- und Handelskammern, Arbeitgeberverbänden und Unternehmern stellte sich heraus, dass die Bundeswehr bislang nicht mit Arbeitgebern zum Thema Reserve und Verteidigungsauftrag kommuniziert.

Das Projektteam des Landeskommandos Hessen hat eine effiziente Methode entwickelt, um kurzfristig Reservisten für den Heimatschutz gewinnen zu können. (Foto: Lkdo HE)

Möglich wurde die Datenerhebung durch eigene Regionalbeauftragte aus der Reserve, die in klassischer Akquise durch die Landkreise fahren, um mit den Akteuren der Wirtschaft über den Auftrag der Bundeswehr und der Reserve zu reden. Viele Arbeitgeber standen dem Thema Reserve zunächst reserviert gegenüber, weil falsche Vorstellungen in den Köpfen herumspukten. So sei die Sorge, dass Reservisten plötzlich über Nacht für den Dienst an der Waffe aus dem Betrieb gerissen werden könnten, mit am häufigsten zu hören gewesen. Um solchen Ängsten zu begegnen, suchte das Landeskommando Hessen intensiv den Kontakt mit der Wirtschaft. Es stellte sich heraus, dass Faktoren wie die vielzitierte Entlastung von Personalkosten und Weiterbildung der Mitarbeiter durch einen Reservistendienst kaum Gründe sind, die Arbeitgeber dazu zu motivieren, Reservisten freizustellen. Die Umfrage des Landeskommandos Hessen hat jedoch gezeigt, dass nur für gut ein Viertel der befragten Unternehmen der Faktor Personalkosten eine Rolle spielt. Nur für ungefähr ein Drittel ist das Thema Weiterbildung wichtig.

Einzig vom Argument, dass der Reservistendienst die Führungskompetenz der Mitarbeiter erweitern kann, lässt sich fast jeder zweite Arbeitgeber überzeugen. Einen viel größeren Motivationsfaktor bieten jedoch zwei Argumente, die die Bundeswehr in ihrer Kommunikation bisher weitgehend außer Acht gelassen hat: Mitarbeitermotivation und vor allem die Bereitschaft zu Freistellungen aufgrund des unternehmerischen Verständnisses von der eigenen gesamtgesellschaftlichen Mitverantwortung (Corporate Citizenship). Mehr als 80 Prozent der befragten Unternehmen, von kleinen Handwerksbetrieben bis zu großen Börsenkonzernen gaben an, dass sie als Teil ihrer Corporate Citizenship sich ihrer Verantwortung bewusst sind und durch Freistellungen von Reservisten zur gesamtgesellschaftlichen Aufgabe Verteidigung beitragen. Drei Viertel hielten zudem die Steigerung der Mitarbeitermotivation durch die Ermöglichung von Freistellungen für wichtig.

Reservistendienst und Wirtschaft

Die Bereitschaft, Reservisten freizustellen, sei in den Branchen Dienstleistungen, Handel, Logistik, IT, Öffentlicher Dienst und Produktion, verarbeitendes Gewerbe sowie Bau ähnlich hoch, sagt Tilman Engel. Die meisten Arbeitgeber würden ihre Mitarbeiter für querschnittlich elf Arbeitstage der Bundeswehr überlassen. Pauschal lässt sich das nicht für jeden Arbeitgeber sagen. Es kommt auf die Größe des Unternehmens an. Ein Handwerksbetrieb mit wenig Angestellten kann es sich mitunter nicht leisten, zeitweise auf einen Mitarbeiter zu verzichten. „Unsere Studie hat herausgefunden, dass erst bei Unternehmen ab einer Größe von 150 Mitarbeitern eine uneingeschränkte Bereitschaft zur Freistellung herrscht, aber bereits ab 50 Mitarbeitern die Bereitschaft deutlich ansteigt“, erläutert Engel.

Ein Blick in die bundesweite Statistik zu Unternehmensgrößenklassen offenbart, es gibt einen Haken. Von mehr als 3,2 Millionen privatwirtschaftlichen Unternehmen (ohne Öffentlicher Dienst) hat gerade einmal 2,3 Prozent (in Zahlen 73.000) mehr als 50 Mitarbeiter. Mit anderen Worten: So viele aus der Sicht der Bundeswehr ideale Arbeitgeber gibt es statistisch nicht. Wer sind nun die Reservisten, die regelmäßig in der Bundeswehr dienen? Wer sind die bisher Ungedienten, die ihr Interesse für den Heimatschutz bekundet haben, und woher kommen sie? Ein wenig Licht ins Dunkel bringt die Analyse und Befragung von Reservisten durch die Projektgruppe. Je größer die Entfernung, desto geringer die Bereitschaft.

Für 70 Prozent von 3.000 befragten Kameradinnen und Kameraden steht die Erlebniswelt Bundeswehr als Motivationsfaktor für den Reservedienst ganz vorne an. Dazu zählen Werte wie Kameradschafts(erlebnisse), der Ausbau militärischer Fähigkeiten und weitere Erfahrungen, die nur in der Bundeswehr möglich sind. Zu den Gründen, die Reservisten laut der Umfrage davon abhalten, Dienst zu leisten, zählen persönliche und familiäre Gründe (42 Prozent), zu weite Entfernung zum Dienstort – das heißt mehr als 100 Kilometer – (17 Prozent) und die fehlende Akzeptanz, beziehungsweise die Freistellung durch den Arbeitgeber (14 Prozent).

Persönliche Faktoren überwiegen

In der Summe überwiegen Faktoren des persönlichen Umfeldes, die hier ausschlaggebend sind und angegangen werden müssen, zumal noch zu knapp einem Viertel die schwerfällige Bundeswehr-Bürokratie hinzukommt, die es häufig zusätzlich schwierig macht, dienstbereite Reservisten (rechtzeitig) auf Dienstposten oder ins System zu bekommen. Das Potenzial bei ungedienten Interessenten und Reservisten für den Heimatschutz ist am größten, wenn sie heimatnah eingesetzt werden können.

Demotivationsfaktoren für Reservisten.

Die Projektgruppe hat diese Erkenntnis mit der Analyse sozio-ökonomischer Daten ergänzt, wonach die Dienstleistungsbereitschaft mit nahezu 60 Prozent am höchsten ist, wenn Ausbildungen innerhalb von 100 Kilometern um den Wohnort herum stattfinden. Hier gilt: je größer die Entfernung, desto stärker sinkt die Bereitschaft. Hinzu kamen Befragungen im sogenannten R1-Bestand des Bundesamtes für das Personalmanagement der Bundeswehr. Der R1-Bestand beinhaltet bundesweit circa 300.000 Reservisten, die der Wehrüberwachung unterliegen und die sich zu irgendeinem Zeitpunkt, meistens bei Dienstzeitende, grundsätzlich zu einem Reservistendienst bereiterklärt haben. Sie sind ein Teil derjenigen rund 850.000 Reservisten, die formell der Wehrüberwachung unterliegen. Im R1-Bestand befinden sich mehr als 50.000 Reservisten aus Hessen.

Das Stadt-Land-Reserve-Paradox

Von diesen übten bislang 77 Prozent nicht. Dabei macht die Gruppe der Offiziere und Unteroffiziere (mit Portepee) nur- rund ein Viertel des hessischen Datenbestandes aus. Diese sind aber verantwortlich für einen Großteil, drei Viertel, der verzeichneten Übungen. Diejenigen, die am wenigsten üben, sind Mannschaftsdienstgrade und Unteroffiziere ohne Portepee. Diese sind vornehmlich im Norden Hessens anzufinden. Die Region oberhalb des Rhein-Main-Gebietes zeichnet sich durch eine eher ländlich geprägte Struktur aus. Dort befindet sich ein eher höherer Anteil des wertschöpfenden Gewerbes, zum Beispiel kleine Handwerksbetriebe. Reservisten, die beispielsweise in solchen handwerklichen (Klein)betrieben arbeiten, wären zwar durchaus bereit, einen Reservistendienst zu leisten. Die Hürde ist der Arbeitgeber, der seinen Arbeitnehmer schwer entbehren kann.

Offiziere und Stabsoffiziere hingegen sind vergleichsweise eher in metropolnahen beziehungsweise bevölkerungsreichen Regionen anzutreffen. Im Vergleich zu Nordhessen ist das Rhein-Main-Gebiet deutlich wirtschaftsstärker. Dort sind größere Unternehmen angesiedelt. Es gibt in dieser Region zudem proportional mehr Beschäftigte des Dienstleistungssektors sowie des Öffentlichen Dienstes.

Das Stadt-Land-Gefälle fördert ein Reserve-Paradox zutage: Zwar ist die Bundeswehr in ländlichen Regionen stärker vertreten und dort leben proportional zur Bevölkerung auch mehr Reservisten, ein Standortvorteil für Heimatschutz und Reserve ist beides trotzdem nicht. Denn diejenigen Reservisten, die am verlässlichsten und am meisten üben, wohnen im Umkreis der wirtschaftsstarken Metropolregionen. Die Anzahl der Bundeswehr-Standorte dort ist begrenzt. So können für Reservisten aus dem urbanen Raum fehlende Beorderungsdienstposten in unmittelbarer Nähe ein Kriterium sein, was ihren verlässlichen Einsatz in der Reserve eher unwahrscheinlich macht. In den ländlicheren Regionen kann es zudem vorkommen, dass Reservisten auch in Freiwilligen Feuerwehren oder anderen Rettungsorganisationen engagiert sind. Dies ist bei nahezu 25 Prozent der Reservisten der Fall. Die Wahrscheinlichkeit, sich als Reservist aktiv zu engagieren steigt erst, wenn man mit Familie und Beruf auf festen Füßen steht und das ist in der Regel erst fünfzehn oder mehr Jahre nach Ende der Dienstzeit der Fall. Dort, wo die meisten Reservisten tatsächlich leben, nämlich im Einzugsbereich der größeren Städte, hat die Bundeswehr kaum bis wenig öffentliche Wahrnehmung.

Mobile Teams für Ausbildung von Reservisten

Dieses Stadt-Land-Gefälle zwischen Bundeswehr-Standorten und den bevölkerungsreichen Metropolregionen ist nicht neu. Schon in den 1970er und 1980er Jahren stand die Bundeswehr vor der Herausforderung, die damaligen Wehrpflichtigen heimatnah einzuberufen. In diesen Jahren schaffte es die Bundeswehr, circa 60 Prozent der pro Quartal eingezogenen Grundwehrdienstleistenden in einem Radius von bis zu 100 Kilometer Entfernung vom Heimatort unterzubringen – das bedeutete ungefähr 30.000 Wehrdienstleistende, die pro Quartal heimatnah in innerhlalb eines 100-Kilometer-Radius stationiert werden konnten. Die heimatnahe Einberufung kam an seine natürlichen Grenzen, da die Truppenstandorte überwiegend in peripheren Gegenden lagen. Damals erhöhte ein heimatnaher Wehrdienst dessen Akzeptanz. Dasselbe gilt nun für den Heimatschutz. Im Gegensatz zu den Wehrpflichtzeiten, gibt es heute insgesamt nicht mehr so viele Kasernen und Standorte. Die Frage der Ausbildung von Reservisten ist essentiell. Umso wichtiger ist es, Ausbildungen im Umfeld der Metropolregionen anzubieten. Mobile Teams wären eine Lösung.

„Die Befunde unserer Studie und die Bewerbungsmöglichkeiten für die Reserve sind auf alle anderen Regionen in Deutschland in den alten Bundesländern, unmittelbar übertragbar. Die sozio-ökonomische Struktur der Metropolregionen ist überall vergleichbar, ebenso diejenige in stärker ländlichen Regionen“, sagt Tilman Engel. Er ist überzeugt, dass nicht nur die Ergebnisse der Studie für andere Bundesländer relevant sind, sondern auch die Maßnahmen, die daraus abgeleitet worden sind. Das sind die Kommunikation mit Unternehmen, Arbeitgeberverbänden, mit dem kommunalen Öffentlichen Dienst, die öffentlichen Aufrufe an interessierte Ungediente und Reservisten über die regionalen Medien sowie direkte Anschreiben an Arbeitgeber und Reservisten.

Oberfeldwebel Burcin Gömbel nimmt unter anderem Anrufe im Reservisten-Callcenter des Landeskommandos Hessen entgegen. (Foto: Benjamin Vorhölter)

Akquise mit Callcenter

„Wir müssen diese Zielgruppen dort abholen, wo sie sind“, sagt Engel. Kundenfreundlich und verbindlich zu sein, das war der nächste Schritt. Sein Team war darauf vorbereitet. Mehr als 6.000 Anrufe kamen in einem mit Reservisten besetzten Callcenter im Landeskommando Hessen an. Knapp 60 Prozent aller Bewerber nutzen diesen Weg, während zugleich schriftliche und Online-Bewerbungen möglich waren. Die Kameradinnen und Kameraden im Callcenter nahmen jeden Anruf direkt auf und gaben während des Telefonates mit dem Interessenten die Kerndaten in die bundeswehreigene Datenbank BwTable ein. Dieses Programm ist der technische Schlüssel zum Erfolg beim Aufbau der Reserve. Es ermöglicht einem kleinen Projektteam, einen Wust von wichtigen Daten über Reservisten und Ungediente zu generieren, datenrechtskonform und schnell wiederauffindbar zu speichern, unmittelbar auszuwerten und nach einer Vielzahl von Parametern zu evaluieren.

In jedem Datensatz lässt sich vom ersten Telefonat bis zur Beorderung jede Kommunikation, der Versand und Empfang von Dokumenten sowie der aktuelle Stand des Beorderungsprozesses lückenlos und taggenau nachvollziehen. BwTable ist die Grundlage, um die Reservistinnen und Reservisten sowohl durch den Prozess der wehrrechtlichen Verfügbarkeit als auch der militärfachlichen Prüfung zu schleusen. „Wir sind ein kleines, effektives und effizientes Team und sind agil genug, unseren Auftrag umzusetzen, möglichst viele der 2.500 Bewerber in das Bundeswehr-System zu bringen. Jeder von uns bringt dabei seine Stärken ein. In meinem Fall ist das Datenbank-Management“, erläutert der stellvertretende Projektleiter Oberleutnant Sebastian Buchholz. Personaldaten administriert die Bundeswehr zwar mit dem Personalwirtschaftssystem über die Software SASPF. Dieses System sei zwar als Langzeitspeicher eine gute Lösung, sei aber für die Aufnahme und Betreuung der Bewerber nicht konzipiert.

Datenbank-Lösung vereinfacht Bürokratie

Die Software BwTable vereinfacht den Personalern die Arbeit. Müssen anderswo für hunderte E-Mails mit den für die Beorderung notwendigen Formularen an Reservisten jede Anschrift und PK händisch eingefügt werden, erledigt diese zeitraubende Arbeit das Programm automatisiert. Aus dem im Erstkontakt erstellten Datensatz werden für sämtliche Anschreiben, die nun folgen, Informationen wie Name, Adresse und PK automatisch in einem vorgefertigten Brief oder eine vorgefertigte E-Mail eingefügt. Mit einem Klick kann Sebastian Buchholz E-Mails mit Dokumenten wie Einverständniserklärung, Datenschutzerklärung etc. versenden. Er bekommt die unterschriebenen Formulare per E-Mail, eingescannt oder per Post zurück und kann sie gleich in die Datenbank-Maske hochladen.

So füllt sich die Datenbank mit wichtigen Informationen wie dem beruflichen Werdegang, militärische Fähigkeiten, Ausbildungs- und Tätigkeitsnachweise, Dienstgrad und sogar eine Information darüber, ob der betreffende Interessent im Katastrophenschutz tätig ist. „Das ist wichtig für uns, zu wissen. Denn diese Leute stehen uns im Fall der Fälle eher nicht zur Verfügung“, erläutert Buchholz. „BwTable liegt auf Bundeswehr-Servern und ist PersDat2-konform. Das heißt, andere Dienststellen könnten ganz einfach über einen Zugang in den Datensatz schauen, ohne wie üblich, Einzelinformation oder Exceltabellen per Mail hin und her schicken zu müssen“, sagt Buchholz. „Diese Datenbank ist der Beweis dafür, dass unsere nachgelagerten Prozesse funktionieren und sogar einfach skalierbar sind“, betont er.

Schwierige Zuordnung von Dienstposten

Auch Oberstabsfeldwebel Joachim Göller schwärmt von den Möglichkeiten, die BwTable bietet. Der Reservistendienstleistende ist eine der tragenden Säulen des Projekts. Sein Engagement als zehn Monate lang übender Reservist zeigt, die Bundeswehr benötigt sowohl die Kurzzeit- aber genauso dringend die Langzeitdiener, um komplexe Projekte wie dieses stemmen zu können. Seine Aufgabe ist es, sich aus den Eckdaten, die in BwTable über die Bewerberinnen und Bewerber gespeichert sind, die richtigen Leute für die Besetzung der Dienstposten des Heimatschutzregiments herauszusuchen. Dabei helfen ihm die Angaben über die militärischen und zivilberuflichen Hintergründe der Reservisten. Erst mit einem zugeordneten Dienstposten können die Reservisten beordert werden. An dieser Stelle schlägt dann die Bürokratie der Bundeswehr zu. Viele Reservisten verfügen über Ausbildungs- und Tätigkeitsnachweise von mittlerweile abgeschafften Truppengattungen wie Heeresflugabwehr, Panzerjäger oder sie dienten bei der Marine. Andere besitzen nicht den richtigen Dienstgrad für einen Dienstposten, der ihren zivilberuflichen Abschlüssen entspricht.

Motivationsfaktoren für Reservisten.

Göller spricht daher ständig mit Kameraden im BAPersBw, im Ausbildungszentrum CIR, dem Logistikkommando der Bundeswehr, der Schule für Feldjäger und Stabsdienst der Bundeswehr, oder mit dem Amt für Heeresentwicklung. Dabei geht es zum Beispiel um Spezialfragen, ob und wie eine zivilberufliche Qualifikation für die Bundeswehranforderungen anerkannt werden können und welche notwendigen Lehrgänge der Bewerber absolvieren müsste. Oft sind die Bewerber nach ihrer Wehrdienstzeit als Mannschaftssoldaten aus dem Dienst ausgeschieden, aber inzwischen auf Meister- oder Ingenieurebene ausgebildet. „Auf der Arbeitsebene suchen die Dienststellen nach pragmatischen Lösungen. Die Zusammenarbeit läuft sehr gut“, sagt Göller.

Was oft fehlt, sind einheitliche Standards auf Fragen wie diese: Für einen adäquaten Dienstposten entsprechend der zivilen Qualifikation ist ein Laufbahnwechsel mit den hierfür erforderlichen Lehrgängen und Prüfungen notwendig. Wo kann ein Reservist entsprechende Lehrgänge absolvieren? Wie lange dauern diese, denn es gilt die Freistellungsbereitschaft durch den Arbeitgeber zu berücksichtigen? Wie ist damit umzugehen, wenn Lehrgänge limitiert oder für Reservisten nicht zugänglich sind? Welche zivilberuflichen Qualifikationen werden benötigt und wie bekommt man diese ins System? „Ich habe hier jemanden, der früher Tastfunker oder Panzerfahrer war. Wie kriege ich den nun auf einen IT-Dienstposten, wenn er zivilberuflich die notwendigen Kenntnisse mitbringt?“, nennt Göller ein Beispiel. Zu diesen Fragen steht das Projektteam im dauerhaften Austausch mit dem Kompetenzzentrum für Reservistenangelegenheiten der Bundeswehr, das hierzu übergreifende Lösungen erarbeitet, da diese Schwierigkeiten überall bei einem tatsächlichen Gesamtaufwuchs der Reserve zutage treten werden.

Projekt auf andere Bundesländer übertragbar

Der Eintritt in das System Bundeswehr beginnt für die Reservisten mit einem Flaschenhals. Das Projektteam versucht, mit seiner Kommunikation diesen Flaschenhals so breit und so kurz wie möglich zu halten. Das Callcenter ist für die Bewerber jederzeit ansprechbar, wenn es um Fragen zur Gesundheitsuntersuchung im Karrierecenter oder der obligatorischen Sicherheitsüberprüfung geht. „Die Leute schätzen den persönlichen Kontakt. Das ist deutlich besser als ein anonymer Kontakt in Telefonschleifen, oder gar reine Onlineauftritte. So zeigt die Bundeswehr ihre Wertschätzung für das hohe Maß an Engagement dieser Kameraden und Kameradinnen“, meint Joachim Göller.

Dieser Dienstleistungsgedanke ist es, der wesentlich zum Erfolg des Projekts beiträgt. Dreiviertel aller Werbemaßnahmen (Medienaufrufe, Direktansprache und Werbung über Arbeitgeber) haben eine Zielgruppe angesprochen, die die Bundeswehr sonst nicht erreicht hätte. Die 2.500 Bewerberinnen und Bewerber sind durchschnittlich bei den Ungedienten 40 Jahre und den Reservisten 44 Jahre alt. Bei den Ungedienten liegt der Frauenanteil bei 15 Prozent unter den Reservisten bei nur einem Prozent. Eine beträchtliche Anzahl an Mannschaftsdienstgraden ist älter als 45 Jahre. Damit würden sie bei der Aktivierung der Wehrpflicht eigentlich nicht mehr der Wehrüberwachung unterliegen. „Es sollte jedem sehr klar sein, dass dies und nur dies die Reserve ist, die wir kriegen können. Wir müssen uns bei Anforderungen und Ausbildung darauf einstellen und eben nicht auf eine Wunschreserve“, sagt Oberstleutnant Tilman Engel und fügt hinzu: „Die Potenziale und die Bereitschaft sind offenkundig vorhanden. Wir brauchen jedoch dringend ein deutlich besseres auf die Möglichkeiten und Bedürfnisse abgestimmtes System zur Gewinnung, Erfassung und Umsetzung der Reserve in die Bundeswehr.“ Engel ist sich sicher, die Arbeit seines Teams ist auf andere Bundesländer übertragbar. Das wäre jedoch auch nur der erste Schritt.


Die Wichtigsten Erkenntnisse aus der Studie des Landeskommandos Hessen über die Wirtschaft und Reserve:

  • Fast 70 Prozent der Bevölkerung lebt in Metropolregionen. Bundeswehrstandorte sind hingegen eher in ländlichen und wirtschaftsschwächeren Regionen
  • Reservisten, die aktuell am meisten und am längsten üben, sind Offiziere und Unteroffiziere mit Portepee. Sie kommen tendenziell eher aus wirtschaftsstarken und bevölkerungsreichen Regionen
  • Unternehmen ab 150 Mitarbeiter wären ideal für die Bundeswehr, weil ab dieser Größe die Wahrscheinlichkeit für Freistellungen für einen Reservistendienst am größten ist. Leider gibt es in Deutschland nicht viele Unternehmen in dieser Größenordnung
  • Kommunikation mit den Arbeitgebern verbessern: Kontakte zu Industrie- und Handelskammern, Wirtschaftsverbänden, Öffentlicher Dienst und Ministerien intensivieren. Für diese Aufgabe hat das Landeskommando Hessen Regionalbeauftragte eingerichtet
  • Eine bundesweite Kommunikation zur Reserve außerhalb der Bundeswehr-Community ist notwendig
  • Dienstleistungsgedanke und Verbindlichkeit gegenüber den Reservisten und Bewerbern
  • Einheitliches Datenmanagement (BwTable)
  • Strategische Kommunikation: Heimatschutz im Koalitionsvertrag der Landesregierung verankern, zum Beispiel wie mit dem Hessenvertrag 2024 bis 2029
  • Bundeswehrintern: Modularisierung der Ausbildung und Lehrgänge vor allem in Online-Formaten. Umsetzerlehrgänge für Anpassung ehemaliger ATNs und ziviler Expertise. Das betrifft auch die Bereitstellung von Material und Infrastruktur
  • Wer nicht im Heimatschutz dienen kann, ist vielleicht für den Zivilschutz interessant
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