Neuer Krieg im Nahen Osten? Israel, der Libanon und die deutsche Außenpolitik
Seit dem 07. Oktober 2023 verschärft sich Lage an der libanesisch-israelischen Grenze. Auf beiden Seiten warnen offizielle Stimmen vor einem erneuten Ausbruch eines heißen Krieges zwischen der israelischen Armee und der Hisbollah. Zwischen den Fronten steht seit 1978 die United Nations Interim Force in Lebanon (UNIFIL), eine Peacekeeping-Mission der Vereinten Nationen, welche die Rückzugslinie der Israelis, die sogenannte Blue Line, kontrolliert. Doch welche Handlungsoptionen hat UNIFIL im Konflikt zwischen Israel und der Hisbollah und wie wirkungsvoll ist die Mission, in der auch Deutschland eine Führungsrolle einnimmt?
Der Konflikt zwischen Israel und dem Libanon hat eine lange Geschichte. Als Israels Nachbarland war der Libanon immer Teil des Nahostkonflikts und vor allem das Gebiet südlich des Litani-Flusses Schauplatz der Auseinandersetzung verschiedener Staaten, Milizen und anderen Gruppierungen mit den Israelischen Verteidigungsstreitkräften (IDF). Als die Auseinandersetzung 1978 drohte die Camp-David-Verhandlungen zwischen Israel und Ägypten zu torpedieren, die versprachen zu mehr Stabilität im Nahen Osten beizutragen, wurde die UNIFIL-Mission basierend auf den Resolutionen 425 und 426 des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen (VN) erlassen.
Ziel der UNIFIL-Mission
Ziel der Mission war der Abzug der IDF aus dem Südlibanon und die Wiederherstellung von Stabilität und staatlicher Souveränität im gesamten Staatsgebiet. Obwohl es gelang, die IDF zum Rückzug zu bewegen, sorgte die erste UNIFIL-Mission nicht für dauerhafte Stabilität in der Region und schon 1982 wurde der Libanon erneut Schauplatz eines Krieges. Im sogenannten Libanonkrieg – oder dem israelischen Namen nach Operation „Frieden für Galiläa“ – drangen die IDF als Reaktion auf den Anschlag auf den israelischen Botschafter in London im Kampf gegen die palästinensische Befreiungsorganisation (PLO) und ihre Verbündeten bis in das libanesische Kernland nach Beirut vor.
Als Reaktion auf die israelische Invasion gründete sich die Hisbollah-Miliz, die heute die größte nicht-staatliche Armee der Welt ist und regelmäßig Angriffe auf Israel durchführt – mit Unterstützung des Irans. Nach dem Libanonkrieg hielt Israel eine Schutzzone im Südlibanon besetzt, um Terrorangriffen vorbeugen zu können. Erst im Jahr 2000 zogen die meisten Truppen mit wenigen Ausnahmen aus dem Libanon ab. Sechs Jahre später, im Juli-Krieg 2006 beziehungsweise dem zweiten Libanonkrieg, kam es erneut zu Kampfhandlungen zwischen der Hisbollah und den IDF. Infolge von Auseinandersetzungen der Hamas und Israel in Gaza nahmen die ohnehin schon bestehenden Spannungen an der Blue Line weiter zu. Als Akt der Solidarität mit der Hamas und als Faustpfand für einen Gefangenenaustausch nahm die Hisbollah im Juli 2006 zwei israelische Soldaten gefangen und löste damit den Beginn der Kampfhandlungen aus. Der mit massivem Beschuss einhergehende Folgeangriff auf den Libanon forderte tausende Tote und Verletzte. Als Reaktion auf die enormen zivilen Opferzahlen wurden die VN erneut aktiv.
Unter der Initiative der Vereinigten Staaten und Frankreichs wurde die Resolution 1701 im VN-Sicherheitsrat verabschiedet, die bis heute die Grundlage der zweiten UNIFIL-Mission darstellt. Das ursprünglich robuste Mandat unter Kapitel VII der VN-Charta, welches die Resolution beinhalten und sie mit umfassenden Rechten zur Erfüllung ihrer Ziele ausstatten sollte, wurde von der libanesischen Regierung abgelehnt, sodass UNIFIL bis heute eine Mischform von Missionstypen darstellt, und zwar einerseits robust ausgestattet ist, jedoch trotzdem nur begrenzt unabhängig handlungsfähig. Nichtsdestotrotz gelang es dadurch einen Waffenstillstand herzustellen, wenngleich der Krieg offiziell bis heute immer noch nicht beendet ist.
UNIFIL zwischen Mandat und Staat
Das Trauma der Kriege mit Israel, der Besatzung und der vielen zivilen Opfer sitzt immer noch tief in den Köpfen der Menschen im Libanon. Die schwere Wirtschaftskrise, die politische Sackgasse, in der es unmöglich scheint, eine Regierung zu bilden und zuletzt der Krieg in Gaza stärken die Hisbollah zusehends. Des Weiteren setzen die zunehmenden Spannungen und regelmäßigen Schlagabtäusche an der Blue Line vor allem auch die UNIFIL-Mission unter Druck, deren Ziele erneut in unerreichbare Ferne gerückt zu sein scheinen.
UNIFIL besteht heute aus rund 11.000 Personen, davon circa 10.000 Soldatinnen und Soldaten, die für die Stabilität im Südlibanon arbeiten. Die Truppenstärke liegt in der Resolution 1701 begründet, die nach dem Krieg 2006 die Anzahl an Personal von zum Schluss 2.000 auf bis zu 15.000 anhob. Die Mission führt täglich rund 450 Operationen durch. Die Soldatinnen und Soldaten patrouillieren und oberservieren häufig in Kooperation mit den Lebanese Armed Forces (LAF) den Südlibanon und bilden so gleichzeitig das libanesische Militär aus. Der Südlibanon ist dabei in Sektoren aufgeteilt, die jeweils einem truppenstellenden Land unterstellt sind. Insgesamt sind zurzeit 48 Länder an der Mission beteiligt. Das größte Personalaufgebot stellen Indonesien, Italien und Malaysia. Deutschland entsendet zurzeit 197 Soldatinnen und Soldaten. UNIFIL scheint sowohl personell als auch technisch dazu ausgestattet zu sein, das Gebiet südlich des Litani-Flusses zu stabilisieren. Warum aber wird das Gebiet immer noch von der Hisbollah kontrolliert? Kommt es zu regelmäßigen Scharmützeln an der Blue Line? Gibt es immer wieder Vorfälle, in denen die UNIFIL Einheiten sich der Hisbollah ausgeliefert sehen?
Der Libanon ist eine sogenannte Konkordanzdemokratie, also eine Demokratie, in der der Proporz bestimmter Bevölkerungsgruppen in der Regierung festgelegt ist. Diese Bevölkerungsgruppen sind anhand der Konfession definiert. So muss der Ministerpräsident immer sunnitischer Muslim, der Sprecher der Nationalversammlung ein Schiite und der Präsident ein maronitischer Christ sein. Durch die Notwendigkeit der gegenseitigen Zustimmung für die Besetzung der Ämter ist seit dem Rücktritt des letzten Präsidenten Michel Aoun im Oktober 2022 die Neuwahl eines Präsidenten von der Hisbollah und der verbündeten Amal-Partei verhindert worden und der Libanon ohne handlungsfähige Regierung. Es ist im Libanon schon lange kein Geheimnis mehr, dass die Hisbollah bis tief in die staatlichen Strukturen des Landes vorgedrungen, ja eine politische Partei geworden ist, und kaum etwas geschieht, ohne das Hassan Nasrallah, ihr Generalsekretär, dies billigt. Das aktuelle Vakuum verstärkt diesen Einfluss zusätzlich.
Vereinfacht gesprochen liegt die Antwort auf die Frage nach der Wirkung von UNIFIL in dem Zusammenhang der Natur des Mandates unter Kapitel VI der VN-Charter und der Staatlichkeit im Libanon begründet. Zwar verfügt die Mission über die Fähigkeiten auf eine effektive Stabilisierung des Südlibanons hinzuarbeiten, schlicht die Zustimmung der libanesischen Regierung für einen konstruktiven Einsatz der Fähigkeiten fehlt. So steckt die UNIFIL-Mission in einer misslichen Lage. Die handlungsunfähige und zudem von der Hisbollah unterwanderte Regierung des Libanons hat das letzte Wort, wenn es um die Durchführung von Operationen der VN geht. Es ist also undenkbar, dass die UNIFIL-Mission die Entwaffnung der Hisbollah herbeiführen wird oder mehr noch – dass UNIFIL noch im Libanon wäre, wenn die Hisbollah dies nicht billigen würde. Das bestätigen sowohl libanesische Quellen als auch Stimmen aus der Mission selbst. Die UNIFIL-Mission erscheint wie ein zahnloser Tiger, der nicht aus seinem Mandatskäfig heraus kann, um für anhaltende Stabilität in der Region zu sorgen.
Der passive Wirkungsnexus von UNIFIL
Aber worin besteht dann der Sinn der Mission? Neben den Operationen, welche auf den ersten Blick die Wirkung der Mission bestimmen, ergeben sich unter der Oberfläche weitaus mehr, wenngleich passive Effekte. Diese wirken – und das ohne, dass die libanesische Regierung besonderen Einfluss darauf nehmen kann – tief in das Land hinein und kreieren subtil Stabilität. Der wirtschaftliche Einfluss der Mission ist für den Libanon, insbesondere im Süden, enorm. Die Logistik der Mission von Ernährung über verschiedene Dienstleistungen oder auch Immobilien hat ganze Wirtschaftszweige erschaffen. So ist die UNIFIL-Mission insbesondere auch in der aktuellen Hyperinflation der libanesischen Lira ein Garant für einen stetigen Zufluss von Dollar.
Eine weitere Komponente ist die Kommunikation. Als weitgehend neutraler Akteur agiert UNIFIL im Konflikt zwischen Israel und dem Libanon als einziger Kontaktpunkt zwischen den beiden Streitkräften. Im sogenannten Tripartite-Mechanismus wird über das Hauptquartier von UNIFIL in Naquora ein Kommunikationskanal geschaffen, der schon mehrmals zur Beilegung von akuten Konfliktsituationen führen konnte. Dazu kommt, dass bei den regelmäßig vorkommenden Überschreitungen der Blue Line durch die Zivilbevölkerung, wie zum Beispiel durch libanesische Hirten, UNIFIL die Lage aufklären kann, bevor der Übertritt als möglicher Angriff auf eine der beiden Konfliktparteien gewertet wird.
Die dritte und vielleicht wichtigste passive Wirkung liegt in der Sicherheitsperzeption der Bevölkerung begründet. Die allgemeine Wahrnehmung der UNIFIL-Mission im Südlibanon ist sehr positiv. Durch die Erfahrungen des Juli-Kriegs 2006, bei dem UNIFIL intensiv an der Evakuierung der libanesischen Bevölkerung beteiligt war und dabei auch selbst Verluste zu verzeichnen hatte, prägen bis heute die Sicherheitswahrnehmung der südlibanesischen Bevölkerung. Die Präsenz der Truppen, die Sichtbarkeit der verschiedenen Stützpunkte und die regelmäßigen Unterstützungsleistungen an die Menschen tragen erheblich zur Normalisierung der Stimmung im Südlibanon bei, wenngleich diese seit dem 07. Oktober 2023 zu kippen droht.
Maritime Task Force und Bundeswehr
Eine besondere Rolle kommt dabei auch der Maritime Task Force (MTF) zu, die unter deutschem Kommando steht. Mit ihren Aktivitäten in Jounieh, nur wenige Fahrminuten nördlich von Beirut, und den regelmäßigen Patrouillen vor der libanesischen Küste ist sie wohl der präsenteste Truppenteil von UNIFIL außerhalb vom Südlibanon. Basierend auf einer Ertüchtigungsinitiative des Bundesministeriums für Verteidigung ist Deutschland hier zudem auch über das unmittelbare Engagement in der Mission hinaus darin tätig, Radarstationen für die libanesische Marine entlang der Küste aufzubauen und so eine umfassende Überwachung des Seeraums zu gewährleisten. Die MTF ist damit ein überregionales Aushängeschild der UNIFIL-Mission und demonstriert sichtbar die Kräfte, die dieser zur Verfügung stehen.
Trotzdem wird auch hier wieder das Mandatsproblem in erschreckender Weise deutlich. Die MTF, die damit beauftragt ist Waffenschmuggel im Libanon zu unterbinden, muss verdächtige Schiffe direkt an die libanesische Marine melden, denn nur diese ist befugt, Kontrollen durchzuführen. In den tausenden durchgeführten Kontrollen wurde seit 2006 laut der libanesischen Marine keine einzige Waffe sichergestellt. Ob dies auf die vollständige Unterbindung des Waffenschmuggels in den Gewässern entlang der levantinischen Küste zurückzuführen ist oder ob die MTF und damit die Bundesregierung unfreiwillig zu höchst effizienter Waffenakquise mächtiger Gruppen im Libanon beiträgt, bleibt dabei Produkt der eigenen Fantasie.
Wirken ohne Gewalt
Schlussendlich kann gesagt werden, dass die UNIFIL-Mission vor allem als politische Mission zu werten ist. Ihr Fortbestehen scheint alternativlos, nachdem sie nach mittlerweile über 45 Jahren nicht nur im Libanon etabliert, sondern ein Teil der Machtstrukturen des Landes geworden ist. Ihre Entfernung könnte das labile Gleichgewicht in der Region noch weiter zum Kippen bringen. In der aktuellen Zuspitzung der Ereignisse bleibt UNIFIL der zahnlose Tiger, der ohne ein neues Mandat nicht in der Lage sein wird, etwaige Kampfhandlungen zwischen Israel und der Hisbollah zu unterbinden. Das muss aber auch gar nicht die Erwartungshaltung sein. Sollte es zum Ausbruch eines heißen Krieges an der Blue Line kommen, wird die UNIFIL-Mission wie auch schon 2006 zur Stelle sein, um die Zivilbevölkerung zu schützen und stabilisierend in die Region zu wirken, ohne dabei einen einzigen Schuss abgegeben zu müssen.
Autor:
Paul Behne studierte Sozial- und Kulturanthropologie, Politikwissenschaften und War and Conflict Studies an der Freien Universität Berlin und der Universität Potsdam mit Forschungsaufenthalten in Südamerika, dem Center of Excellence: Law, Identity and the European Narratives in Helsinki sowie der Heinrich-Böll-Stiftung im Libanon. Seine akademischen Schwerpunkte liegen in der angewandten Friedensforschung und kritischen Staatstheorie im Nahen und Mittleren Osten und dem Osten Europas. Er ist Research Assistent beim Beirat der Bundesregierung für Zivile Krisenprävention und Friedensförderung, Wissenschaftler der Denkfabrik Translating EVROPA und Co-Vorsitzender der Potsdamer Arbeitsgruppe für Sicherheitspolitik.
Literaturtipps:
- CRISIS (2023): Lohnt sich der Einsatz im Libanon? Admiral im Interview, YouTube.
- Männer, Stella (2024): Libanon: Das war nicht die letzte Eskalation, ZEIT Online.
- von Finckenstein, Valentina (2021): Kriege und Konflikte: Libanon, Bundeszentrale für politische Bildung.
- Weber, Anne Françoise (2022): Israel und Libanon: Vergiftete Nachbarschaft, Deutschlandfunk Kultur.