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Pulverfass Balkan – Zwischen europäischer Integration und brüchigen Frieden

Die Mitgliedschaft in der Europäischen Union (EU) ist das angestrebte oder bereits erreichte Ziel der Staaten des Balkans. Dennoch gilt die Halbinsel als die Konfliktregion Europas. Viele Gesellschaften sind multiethnisch und multikonfessionell geprägt, was bis heute zu Spannungen führt. Aktuell sorgt die angekündigte Abspaltung des serbischen Landesteils vom bosnischen Zentralstaat für Aufregung. Der langjährige Frieden in Bosnien-Herzegowina steht auf der Kippe. Auch die Kosovo-Frage bleibt ein politisches Streitthema. Ob der Angriff Russlands auf die Ukraine die Spannungen auf dem Balkan anheizt oder aber die EU-Beitrittsverhandlungen fördert, bleibt abzuwarten. Ein Blick auf die aktuelle soziale und politische Lage in den Ländern.

(Foto: U.S. Army Maj. Kurt M. Rauschenberg)

balkaneurussland

Eine allgemeingültige Definition des Balkans existiert nicht. Abgeleitet vom gleichnamigen Gebirge werden aus politischer Sicht Albanien, Bosnien-Herzegowina, Bulgarien, Kosovo, Kroatien, Montenegro, Nordmazedonien, Serbien und Slowenien hinzugezählt. Geografisch betrachtet liegen auch Griechenland sowie Teile Rumäniens und der Türkei auf dem Balkan. Für europäische Verhältnisse einzigartig ist die neben dem katholischen und orthodoxen Christentum jahrhundertelange Präsenz des Islams. Dies ist auf die Vorherrschaft des Osmanischen Reiches zurückzuführen, das die Gebiete als Rumelien bezeichnete. Heute wird meist Südosteuropa als Synonym für den Balkan verwendet. Die politische Definition ist die geläufigste und beinhaltet die Länder des ehemaligen Jugoslawiens sowie Albanien und Bulgarien.

Politisch und wirtschaftlich stabil: Slowenien und Kroatien

Aus politischer und wirtschaftlicher Sicht haben Slowenien und Kroatien die erfolgreichste Entwicklung absolviert. Als erster Balkanstaat trat Slowenien 2004 der EU bei und führte drei Jahre später den Euro als Währung ein. Im gleichen Jahr erfolgte auch die Aufnahme in die NATO. Die Bevölkerung von 2,1 Millionen besteht fast ausschließlich aus katholischen Slowenen. Die Wirtschaft ist stark entwickelt und der Lebensstandard hoch. Das Pro-Kopf-Einkommen liegt mit über 28.000 Euro fast auf dem Niveau Spaniens. Zudem hat das Land eine der weltweit niedrigsten Raten der sozialen Ungleichheit. Politisch betrachtet handelt es sich um eine stabile parlamentarische Demokratie. Slowenien gilt in Bezug auf Freiheits- und Bürgerrechte auch innerhalb Europas als vorbildlich. Seit 2022 regiert der grün-liberale Premierminister Robert Golob. Er löste den Rechtspopulisten Janez Janša ab, gegen dessen Minderheitsregierung jahrelang Proteste stattfanden.

Kroatien ist seit 2013 EU-Mitglied und weist eine Bevölkerung von 3,9 Millionen auf. Die Gesellschaft setzt sich aus 90 Prozent katholischen Kroaten und 5 Prozent orthodoxen Serben zusammen. Die soziale, wirtschaftliche und demokratische Entwicklung gilt als hoch, erreicht aber nicht das Niveau des nördlichen Nachbarlandes. Das Durchschnittseinkommen beläuft sich auf etwa 16.000 Euro und entspricht dem von Polen. Ökonomisch bedeutsam ist der Tourismus, der 20 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) ausmacht. Premierminister der parlamentarischen Republik ist seit 2016 der Konservative Andrej Plenković. Seine pro-europäische Mitte-Rechts-Koalition will 2023 der Eurozone beitreten. Kroatien ist seit 2009 Mitglied der NATO.

Korruption und soziale Krise in Bulgarien

Bulgarien trat 2007 der EU bei und stellt die schwächste Ökonomie innerhalb des Staatenverbunds dar. Das Pro-Kopf-Einkommen ist mit 11.000 Euro das niedrigste aller Mitgliedstaaten, während die Korruptionsrate die höchste darstellt. Auch bei der Einkommensverteilung und dem Lebensstandard ist das Land Schlusslicht der EU. Des Weiteren befindet sich Bulgarien in einer demografischen Krise. In den letzten zehn Jahren hat sich die Bevölkerung um eine halbe Million verringert. Von den aktuell nur noch 6,9 Millionen Einwohnern sind offiziell 85 Prozent orthodoxe Bulgaren. Bedeutsame Minderheiten stellen muslimische Türken mit 9 Prozent und Roma mit 5 Prozent dar. Die Europäische Kommission schätzt den Anteil der Roma sogar auf 10 Prozent.

Die parlamentarische Demokratie gilt als stabil, obwohl provisorische Regierungen keine Seltenheit sind. Korruptionsfälle und Einschränkungen der Pressefreiheit unter dem konservativen Ex-Premierminister Bojko Borissow hatten bis 2021 eine Protestwelle ausgelöst. Die Bevölkerung musste im letzten Jahr dreimal zu Parlamentswahlen aufgerufen werden. Seit Dezember 2021 stellt eine Mitte-Links-Koalition unter Kiril Petkow die Regierung, die jedoch nach einem halben Jahr durch ein Misstrauensvotum gestürzt wurde. Die meisten Parteien sind pro-europäisch ausgerichtet und befürworten die 2004 vollzogene NATO-Mitgliedschaft. Parallel existieren in Teilen der Bevölkerung und Parteien eine große Verbundenheit zu Russland.

Ein Überblick über die Länder des Balkans. Als Synonym für die Region wird gerne Südosteuropa gebraucht. (Bild: TUBS via Wikimedia Commons)

Montenegro, Nordmazedonien und Albanien: Ab in die EU?

Das seit 2006 unabhängige Montenegro hat hinsichtlich eines EU-Beitritts die größten Verhandlungsfortschritte zu verzeichnen. Trotz einer Bevölkerung von nur 622.000 Einwohner*innen handelt es sich um einen Vielvölkerstaat. Die größten Gruppen sind orthodoxe Montenegriner mit 45 Prozent und Serben mit 29 Prozent. 11 Prozent bezeichnen sich als Bosniaken oder slawische Muslime und 5 Prozent als muslimische Albaner. Das Durchschnittseinkommen beträgt 9.000 Euro. Auch die politische Stabilität und Freiheitsrechte liegen unter dem Niveau Bulgariens. Im Gegensatz dazu entsprechen der Wohlstand und die Einkommensverteilung den Werten Kroatiens. Die kleine parlamentarische Republik ist seit 2017 NATO-Mitglied und die Parteien überwiegend pro-europäisch eingestellt. 2020 endete die langjährige Regierungszeit der nationalistischen Sozialdemokraten. Aktueller Premierminister ist Zdravko Krivokapić, der als konservativ und Freund Serbiens gilt. Die nationale Identität Montenegros, insbesondere die Beziehung zu Serbien, bleibt ein kontroverses Thema.

Nordmazedonien hat eine Bevölkerung von 2,1 Millionen und ist ebenfalls ein Vielvölkerstaat. Neben 64 Prozent orthodoxen Mazedoniern existiert eine große albanische Minderheit islamischen Glaubens von 25 Prozent. Weitere Volksgruppen sind Türken mit 5 Prozent und Roma mit 3 Prozent. Insbesondere Albaner fühlen sich diskriminiert und es kommt zu immer wieder zu ethnischen Spannungen. Der Lebensstandard ist für europäische Verhältnisse niedrig. Das Jahres-Pro-Kopf-Einkommen liegt bei 6.700 Euro und die Löhne sind relativ ungleich verteilt. Ein großes Problem stellt die weitverbreitete Korruption in Politik und Wirtschaft dar. Anderseits wurde in den letzten Jahren eine Verbesserung des Schutzes von Bürger- und Freiheitsrechten festgestellt. Regierungschef der parlamentarischen Demokratie ist der Sozialdemokraten Zoran Zaev. Nach einer Einigung mit Griechenland über den Staatsnamen konnte Nordmazedonien 2020 der NATO beitreten. Das Ende des Namenstreits ermöglichte die EU-Beitrittsgespräche, die wegen Bulgarien stocken. Streitpunkt ist die nordmazedonische Identität, die sich erst im 20. Jahrhundert von der bulgarischen emanzipierte.

Einen der ethnisch homogensten Staaten des Balkans stellt Albanien dar. Die parlamentarische Republik hat eine Bevölkerung von 2,8 Millionen. Ein wichtiges politisches Ziel ist der Schutz der Rechte albanischer Minderheiten im Ausland. Seit 2009 ist das Land Mitglied der NATO. Die Verhandlungen mit der EU starteten 2020. Wie Nordmazedonien weist das Land einen für Europa niedrigen Lebensstandard und hohe Korruptionsrate auf. Das durchschnittliche Einkommen beträgt 6.000 Euro pro Jahr. Das staatliche System ist ähnlich stabil wie das von Montenegro. Seit 2013 ist der Sozialdemokrat Edi Rama Premierminister, dessen Partei pro-europäisch eingestellt ist.

Kosovo und Serbien: Zwischen Spannungen und Dialog

Der zweite Balkanstaat mit albanischer Bevölkerungsmehrheit ist der Kosovo. Nach der Auflösung Jugoslawiens kämpften separatistische Milizen für die Unabhängigkeit von Serbien. Die Spannungen mündeten Ende der 1990er Jahre in einen Krieg. Vor dem Hintergrund der ethnischen Säuberungen gegen die albanische Bevölkerung griff die NATO in den Konflikt ein. Hierbei handelte es sich um den ersten Militäreinsatz außerhalb des Bündnisfalles. Nach dem Krieg folgte die NATO-Friedensmission „Kosovo Force“ (KFOR), an der sich auch die Bundeswehr beteiligte. Die 2008 proklamierte parlamentarische Republik wird von fast allen EU-Staaten und NATO-Mitgliedern anerkannt. Ausnahmen auf dem Balkan sind Serbien und Bosnien-Herzegowina. Die Bevölkerung von 1,9 Millionen Einwohner*innen setzt sich aus 92 Prozent Albanern und 5 Prozent Serben zusammen. Vor allem im von der serbischen Minderheit bewohnten Norden kommt es immer wieder zu Spannungen. Der Wohlstand ist äußerst gering und das Pro-Kopf-Einkommen liegt bei 4.800 Euro. Des Weiteren hat der Kosovo eine der höchsten Korruptionsrate und niedrigsten Freiheitswerte in Europa. Bei den Parlamentswahlen 2021 gingen die Sozialdemokraten unter Albin Kurti als Sieger hervor.

Die ökonomischen Abkommen zwischen dem Kosovo und Serbien 2020 stellen einen wichtigen Schritt zur Normalisierung dar. Da die serbische Regierung keine Kontrolle über das Kosovo hat, wird dieser demografisch nicht zu Serbien gezählt. Das Land hat somit eine Bevölkerung von rund 6 Millionen. Trotz einer serbischen Mehrheit von 83 Prozent gilt Serbien als Vielvölkerstaat. Bedeutsame Minderheiten stellen Ungarn und Kroaten im Norden, Bosniaken im Südwesten und landesweit Roma dar.

Serbien ist eine parlamentarische Republik, deren Politik von der nationalkonservativen Fortschrittspartei unter Aleksandar Vučić dominiert wird. Zunächst Premierminister, gewann Vučić 2017 die Präsidentschaftswahl. Seitdem führt er de facto ein autokratisches Präsidialregime, dass die Presse- und Meinungsfreiheit stark einschränkt. In Europa zählt Serbien zu den fragileren Staaten. Korruption ist weit verbreitet und das Durchschnittseinkommen beläuft sich auf 8.700 Euro. Das Land gilt als russlandfreundlich und beteiligte sich nicht an den EU-Sanktionen gegen Russland nach der Invasion der Ukraine 2022. Trotz der Demokratiedefizite und Russlandnähe finden seit 2014 EU-Beitrittsverhandlungen statt.

Brüchiger Frieden in Bosnien-Herzegowina

Kein Staat auf dem Balkan ist ethnisch-konfessionell und politisch so stark gespalten wie Bosnien-Herzegowina. Die Hälfte der Bevölkerung sind muslimische Bosniaken, 31 Prozent orthodoxe Serben und 15 Prozent katholische Kroaten. Alle drei Völker sprechen serbokroatische Dialekte, die gegenseitig verständlich sind. Das Pro-Kopf-Einkommen ist mit 6.700 Euro niedrig. Bosnien-Herzegowina war Hauptschauplatz des Jugoslawienkriegs der 1990er Jahre. In der Stadt Srebrenica fand der erste Völkermord in Europa seit dem Zweiten Weltkrieg statt. Das Massaker an mehr als 8.000 Bosniaken führten serbische Nationalisten durch.

Nach dem Krieg wurde 1995 eine föderale parlamentarische Republik geschaffen. Das Land besteht aus zwei Gliedstaaten: Der serbischen „Republika Srpska“ und der bosniakisch-kroatischen „Föderation Bosnien und Herzegowina“. Ein kleiner Distrikt im Norden wird von beiden Landesteilen verwaltet. Das kollektive Staatsoberhaupt setzt sich aus je einem Vertreter der drei Volksgruppen zusammen. Die höchste politische Autorität ist der Hohe Repräsentant für Bosnien-Herzegowina, der die Umsetzung des Friedensabkommens überwacht. Aktueller Amtsinhaber ist Christian Schmidt von der CSU. Bosnien-Herzegowina zählt zu den politisch fragilsten, unfreisten und korruptesten Staaten Europas. Diese Defizite bemängelt auch die EU, deren Mitgliedschaft das Land 2016 beantragte.

Milorad Dodik, Anführer der bosnischen Serben, treibt die Spaltung Bosnien-Herzegowinas voran. (Foto: Demokratska Stranka DS via Wikimedia Commons)

Die Abspaltung der „Republika Srpska“ ist seit Jahren das Ziel bosnischer Serben, die von Milorad Dodik angeführt werden. Seit Ende 2021 droht die Lage zu eskalieren. So beschloss das Regionalparlament im Oktober die Trennung von der Arzneimittelbehörde. Im Dezember verkündete Dodik die Loslösung des Gliedstaates von der bosnischen Justiz, Finanzverwaltung und Armee. Unterstützt wird dieses Vorgehen nicht nur von Serbien, sondern auch von Russland. Insbesondere seit der russischen Invasion der Ukraine wächst die Sorge vor einem neuen Bosnien-Krieg. Um einen Konflikt und Flächenbrand zu verhindern, will sich die EU wieder verstärkt auf die Beitrittsperspektive der Balkanstaaten fokussieren.

Ausblick: Potenziale und Gefahren

Die Situation der Länder auf dem Balkan ist höchst unterschiedlich. Slowenien, Kroatien und Bulgarien haben den Weg in die EU gefunden. Während die ersten beiden wirtschaftlich und politisch stabil sind, hat Bulgarien mit Korruption und einem Bevölkerungsrückgang zu kämpfen. Ein EU-Beitritt wird auch von Montenegro, Nordmazedonien und Albanien angestrebt. Trotz wirtschaftlichen Fortschritten stellt vor allem die Korruption ein großes Problem dar. EU-Beitrittsgespräche führt auch Serbien, das sich aber zu einem autokratischen Regime entwickelt. Zudem lehnt Serbien bis heute die Unabhängigkeit des Kosovos ab. Der junge Staat ist für europäische Verhältnisse von hoher Armut und Instabilität geprägt.

Das größte Konfliktpotenzial weist Bosnien-Herzegowina auf. Kein Staat in der Region ist so multiethnisch geprägt und politisch fragil. Eine Abspaltung des serbischen Landesteils wäre nicht nur das Ende der Republik, sondern auch das Ende des langjährigen Friedens. Zudem könnte dies die ethnischen Spannungen in anderen Vielvölkerstaaten wie Nordmazedonien, Montenegro oder Serbien verschärfen. Nach dem Angriff Russlands auf die Ukraine 2022 engagiert sich die EU wieder verstärkt auf dem Balkan. Mit Beitrittsperspektiven und neuem Tempo in den Verhandlungen soll dem russischen Einfluss entgegengetreten und der 27-jährige Frieden in der Region gewahrt werden.

 

Literaturtipps:

 


Dieser Text stammt aus dem Sicherheitspolitischen Newsletter des Sachgebietes Sicherheitspolitische Arbeit. Diesen können Sie hier abonnieren.

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