Rätsel um den Tod des Al-Qaida-Führers Abdelmalek Drudkal: Droht eine Intifada in Frankreich und in der EU?
Am 3. Juni 2020 kam Abdelmalek Drudkal, der Emir von Al-Qaida im Islamischen Maghreb (AQIM), über die Grenze nach Nord-Mali, um dort eine Beratung seines Führungsstabes (Shura) zu leiten. Im südlichen Algerien hatte er seit Jahren ein sicheres Versteck, welches er nur äußerst selten verließ. Diesmal hatte ein US-Geheimdienst eine Nachricht über die Zusammenkunft der AQIM-Führer abfangen können und Frankreich darüber informiert. Möglicherweise kam der Tipp aber auch vom Islamic State in Greater Sahara (ISGS), der mit AQIM in harter Konkurrenz steht. Französische Soldaten der Operation „Barkhane“ konnten Drudkal bei Talhandak stellen und in einem Feuergefecht töten. Am 19. Juni 2020 bestätigte AQIM den Tod von Drudkal. Die arabische Presse spekulierte darüber, dass Mokhtar Belmokhtar, ein brutaler Hardliner aus Algerien, oder Iyad Ag Ghaly, einer der Führer der Ifoghas-Tuareg in Mali, seine Nachfolge antreten könnten. Vermutlich bereitet AQIM einen Racheanschlag gegen Frankreich vor.
Etwa sechs Millionen Muslime leben in Frankreich, zumeist in Ghettos, die Banlieus genannt werden. Viele französische Muslime haben einen nordafrikanischen Migrationshintergrund. Wirtschaftliche und politische Aufstiegsmöglichkeiten haben sie selten. Sie leben in Parallelgesellschaften. Dies macht sie empfänglich für islamistische Propaganda. Der namhafte US-Sicherheitsexperte Yossef Bodansky warnte bereits im Juni 2016 vor einer drohenden Intifada enttäuschter muslimischer Jugendlicher in Frankreich, einer gewalttätigen Revolte, die auch auf andere EU-Staaten übergreifen könnte.
AQIM wurde 2007 als Al-Qaida-Regionalorganisation für den Maghreb und die Sahel-Region gegründet. Das Operationsgebiet ist größer als die EU und ist in fünf Operationszonen unterteilt, die von je einem Emir kommandiert werden: Emirat Zentral (algerische Küste mit der Hauptstadt Algier), Emirat Ost (der östliche Teil Algeriens und Tunesien), Emirat West (westliches Algerien, Marokko und West-Sahara), Emirat Süd (Sahara-Emirat, Mali, Mauretanien, Tschad, Niger, Burkina Faso, Nigeria, westafrikanische Staaten und Angola) und die Operationszone Al-Andalus (Spanien). In Tunesien sind die Nachschublager, die von einer Logistik-Brigade betrieben und bewacht werden. Als sogenannter „Ruheraum“ gilt Deutschland.
Die Brigaden werden in salafistische und Miliz-Brigaden unterschieden. Salafistische Kämpfer schwören einen Treueeid auf Lebenszeit, erhalten keinen Sold, dürfen nicht heiraten, ausgenommen die höheren Führer, und unterliegen einer strengen Sicherheitsüberwachung durch den Al-Qaida-Geheimdienst. Jede Brigade umfasst etwa 150 Kämpfer. Insgesamt hat AQIM etwa 15 salafistische Brigaden, sie sind die schlagkräftigsten Einheiten.
Dazu kommen viele Miliz-Brigaden, deren Kämpfer einen Zeitvertrag haben, einen Sold erhalten und natürlich auch heiraten dürfen. Sie sind nicht Teil der internen Geheimnisse von AQIM und können deshalb nach Auslaufen ihrer Verträge auch ins Zivilleben zurückkehren. Diese Söldner stellen den größeren Teil der AQIM-Kämpfer. Sie sind oft sehr landeskundig, aber ihre Kampfkraft und Zuverlässigkeit sind erheblich geringer als bei den salafistischen Brigaden.
Mit Ansar al-Sharia Tunesien verfügt AQIM auch über eine Rekrutierungs- und Unterstützerorganisation, die nur teilweise bewaffnet ist. Insgesamt hat AQIM mit seinen zahlreichen Unterorganisationen und Ansar al-Sharia Tunesien etwa 50.000 Mitglieder, Unterstützer und Kämpfer. AQIM wird als eine Organized-Crime-Terrorist Organization charakterisiert, die keine rein terroristische Organisation mehr ist. Zur Hälfte wird sie auch der wirtschaftlichen Kriminalität zugerechnet.
Der Hintergrund ist die vertraglich vereinbarte strategische Partnerschaft mit dem Sinaloa-Kartell aus Mexiko aus dem Jahr 2007. Das Sinaloa-Kartell ist das erste global agierende Kokain-Kartell. Es kontrolliert den Rauschgiftvertrieb in 76 Großstädten der USA und hat sein regionales Hauptquartier in Chicago. Insgesamt hat das Sinaloa-Kartell etwa 100.000 Mitglieder und kann bis zu 1.000 eigene Hubschrauber und Flugzeuge einsetzen. Auch eigene Kampfdrohnen sind im Inventar.
Das Kokain wird in den Herrschaftsgebieten der kommunistischen Guerillaorganisation FARC in Kolumbien produziert, dann vom Sinaloa-Kartell nach Westafrika geschmuggelt und dort von den salafistischen AQIM-Brigaden übernommen und auf dem Landweg an die Küste des Mittelmeeres transportiert. Von Marokko, Algerien oder Tunesien aus bringt AQIM das Rauschgift mit eigenen Booten zumeist nach Spanien oder Italien. Nachts laufen die Boote vor die Küste und AQIM-Kampfschwimmer bringen das Kokain an den Strand, wo sie es an die Familie di Lauro der Camorra aus Neapel übergeben. Deren Kokain-Logistikzentrale für den Kokain-Schmuggel in der gesamten EU ist in Madrid.
Für jedes in Spanien oder in Italien an die Camorra übergebene Kilogramm Kokain erhält AQIM 2.000 US-Dollar. Das Combating Terrorism Center in West Point schätzt die jährlichen Einnahmen von AQIM aus dem Kokain-Schmuggel auf 800 Millionen US-Dollar. Dazu kommen die erpressten Lösegelder von Geiselnahmen im Sahel, die insgesamt etwa 200 Millionen US-Dollar betragen. In Westafrika ist AQIM auch der größte Waffenhändler auf dem Schwarzmarkt. Zudem ist AQIM Teilhaber der illegalen Flüchtlingsschmugglerfirmen in Kidal (Mali) und Agadez (Niger). Die Gewinne werden in Algerien und in der EU gewaschen, wo sich AQIM verdeckt in zahlreiche Firmen einkaufte.
Die Miliz-Brigaden von AQIM (u.a. Nusrat al-Islam, Mourabitoune) destabilisieren zunehmend Mali, Burkina Faso und Niger. MINUSMA und die Ausbildungsmission EUTM sind die gefährlichsten Auslands-Missionen weltweit. Es wird deutlich, wie eng der Einsatz deutscher Soldaten im Sahel mit der Sicherheitslage in der EU und in Deutschland verbunden ist.
Autor
Dr. Hans Krech, Hauptmann d.R., Autor, Bürgerrechtler und Fußballer, Stammreferent Sicherheitspolitik AKRO-Hamburg, www.Hans-Krech.de
Literaturhinweise
- Hans Krech: Die Entwicklung und Weiterentwicklung von komplexen und konventionellen Angriffs- und Anschlagstaktiken von „Al-Qaida“ und dem „Islamischen Staat“. Eine Analyse unter besonderer Beachtung ihrer möglichen Anwendung in der EU im Zeitraum 2009-2017. In: Jahrbuch für Extremismus- und Terrorismusforschung 2017/18 (II). Im Auftrag der Hochschule des Bundes für öffentliche Verwaltung hrsg. von Armin Pfahl-Traughber, Brühl 2018, S. 203-236. (= Schriften zur Extremismus- und Terrorismusforschung, Bd. 14). Download
- Wegweiser zur Geschichte: Mali. Im Auftrag des ZMSBw hrsg.von Martin Hofbauer und Philipp Münch, 2., aktualisierte Aufl. bearb. von Torsten Konopka, Paderborn 2016. Download
Dieser Text stammt aus dem Sicherheitspolitischen Newsletter des Sachgebietes Sicherheitspolitische Arbeit. Diesen können Sie hier abonnieren.