Neuausrichtung für die europäische Verteidigungspolitik
Über die europäische Verteidigungspolitik in einem instabilen geopolitischen Umfeld sprach auf Einladung der Reservistenarbeitsgemeinschaft (RAG) Brüssel die Vorsitzende des Ausschusses für Sicherheit und Verteidigung im EU-Parlament, Dr. Marie-Agnes Strack-Zimmermann MdEP. Die Instabilität des geopolitischen Umfelds zeichnet sich neben der akuten Bedrohung durch Russland durch die neuerlichen Unwägbarkeiten im transatlantischen Bündnis aus, was Europa - mit Frankreich und Deutschland im Zentrum - fordert, sich neu zu orientieren.
Umso wichtiger ist es also, dass die Europäische Union in Person von Andrius Kubilius, ehemaliger Premierminister Litauens endlich einen Verteidigungskommissar hat, findet Strack-Zimmermann. „Zum ersten Mal haben wir jemanden, der sich um Verteidigung und Weltraum kümmert. Die USA machen seit 40 Jahren, was wir bis heute nicht wahrgenommen haben.“ Die europäischen Staaten hätten auf diesem Gebiet „alle ein bisschen gemacht, aber eben keiner so richtig“. Kubilius sensibilisiert, vermittelt, bündelt Interessen. „Im EU-Verteidigungsausschuss finden wir uns“, berichtet die Vorsitzende. Was sie aber jetzt schon bemerkt hat, ist, dass „wir über Partei- und Ländergrenzen hinweg einen Konsens finden im Sinne der Sache“.
Beschaffung jetzt angehen
Und das ist auch bitter nötig, die Zeit drängt. NATO-Berechnungen zufolge wäre Putin spätestens 2029 dazu fähig, ein NATO-Land anzugreifen. Dass er kein Interesse an Frieden hat, zeigt allein schon der Blick auf die russische Wirtschaft. Der Rüstungsbereich mache inzwischen neun Prozent des Bruttoinlandsprodukts aus, nimmt man die komplette Kriegswirtschaft, sind es gar 40 Prozent, rechnet Strack-Zimmermann vor. Russland produziere in drei Monaten das, was alle EU-Staaten in einem Jahr herstellen – wenn auch unter anderen Vorzeichen. Einen Mindestlohn gibt es nicht, und auch die Standards sind andere. „Der Schutz der Soldaten zählt dort nichts.“
Die Beschaffung ist eines der dicksten Bretter, die es nun zu bohren gilt – und wo nationale industriepolitisch getriebene Interessen das größte Hemmnis darstellen können. So war beispielsweise der Aufschrei groß, als im vergangenen Jahr die niederländische Werft Damen Shipyards den Auftrag der Deutschen Marine bekam, zwei neue Fregatten der Klasse 126 zu bauen. „Was viele aber nicht bedenken: Deutsche Unternehmen bekamen Zulieferer-Aufträge. Letzten Endes sollte es doch im Interesse der Steuerzahler sein, dass die Qualität stimmt“, sagt Strack-Zimmermann. „Wir sind Europäer, also lassen Sie uns auch europäisch denken. Europa ist nur so stark, wie es bei der Verteidigung ineinandergreift.“
Größte Bedrohung ist die Desinformation
Und da hapert es manchmal noch. Beispiel gefällig? Eine Firma liefert Funkgeräte für die Deutsch-Französische Brigade. Bei den Franzosen ist ein Bauteil jedoch anders als bei den Deutschen – und schon können die Soldaten untereinander nicht kommunizieren. „Die gleiche Firma! Das muss man sich mal vorstellen!“ Und das ist nur ein kleines Beispiel. Flugzeuge, Panzer und weitere Geräte „matchen“ nicht. „Die gemeinsame Beschaffung ist eine große Aufgabe“, unterstreicht Strack-Zimmermann. Als ersten Schritt nannte sie hier einen EU-Fonds über 150 Mrd. Euro, aus dem Länder sich Geld leihen können, um Rüstungsgüter zu beschaffen.

Hintergrund: Um das langfristige Ziel der EU, eine verteidigungsindustrielle Einsatzbereitschaft zu erreichen, brachte die Europäische Kommission im vergangenen März die erste europäische Strategie für die Verteidigungsindustrie (EDIS) auf den Weg. Als zentralen Schritt zur Umsetzung der Strategie legte die Kommission einen Vorschlag für eine Verordnung über ein europäisches Programm für die Verteidigungsindustrie (EDIP) vor. Strack-Zimmermann zeigte sich hier optimistisch. „Aber ich sehe auch keine Alternative dazu.“
Doch Verteidigung beschränkt sich nicht nur auf Panzer, Flugabwehr und Munition. Als größte Bedrohung benennt die Ausschussvorsitzende die Desinformation im Internet. „Wir müssen uns darüber im Klaren sein, dass wir viele Menschen nicht mehr erreichen. Auch das gehört zur Verteidigung dazu: Dass wir das erkennen und dagegenhalten.“ Ein weiterer Baustein der hybriden Bedrohung: die jüngsten Angriffe auf Unterseekabel. „Das betrifft nicht nur die Ostsee, sondern auch die Atlantikküste vor Portugal oder das Mittelmeer“, bezieht Strack-Zimmermann Länder wie Portugal, Spanien oder Italien gleich mit ein. Um zu wissen, wo diese Kabel liegen, reicht schon ein Gang in die Buchhandlung. Auf Seekarten sind solche sensiblen Stellen eingezeichnet – eigentlich um diese vor Schaden zu schützen. Die EU müsse hier im Zusammenspiel mit der NATO die Überwachung sicherstellen.
Trump kein Grund für Schnappatmung
Der Atlantik ist hier ein gutes Stichwort. Dass auf der gegenüberliegenden Seite des großen Teichs die Uhren spätestens seit dem Tag der Amtseinführung Donald Trumps anders ticken, sollte inzwischen jeder bemerkt haben. „Er tritt uns jeden Morgen vors Knie und sagt uns, was für Weicheier wir sind“, stellt Strack-Zimmermann es etwas überspitzt dar. Dennoch müsse man nicht gleich bei allem, was er sagt, sofort Atemnot bekommen.
Grundsätzlich seien seine Friedensbemühungen für die Ukraine gut, die Gespräch mit den Russen jedoch fänden nicht auf Augenhöhe statt – mit reifen, professionellen Diplomaten auf der einen Seite und Verhandlern, die durch die Gunst des US-Präsidenten in ihre Position gekommen sind, auf der anderen. „Ich hoffe, dass Trump bald bemerkt, dass Putin ihn nur hinhält und er dann wieder die Ukraine unterstützt. Insgesamt macht diese Unberechenbarkeit die politische Zusammenarbeit sehr schwer.“
Mehr als 50 Zuhörerinnen und Zuhörer begrüße der Vorsitzende der RAG Brüssel, Michael Gahler MdEP, in der Vertretung des Landes NRW bei der EU. Nach dem Vortrag nahmen sich Strack-Zimmermann und Gahler noch Zeit, die zahlreichen Fragen aus dem Plenum zur europäischen Sicherheitspolitik, zur Bundeswehr und zu ihrer Reserve zu beantworten. „Das große Interesse zeigt, dass auch hier eine Zeitenwende zu erkennen ist“, resümierte Gahler nach der Veranstaltung.