Finnlands Reserve: Ein Vorbild für Deutschland?
Während des Ersten Weltkriegs war das Deutsche Heer Vorbild für die finnischen Streitkräfte. Mehr als 100 Jahre später gehört der Mythos der in Deutschland ausgebildeten finnischen Jäger genauso zur finnischen Armee wie das Festhalten an starken Reservistenstrukturen. Von letzteren kann Deutschland heute lernen.
Anders als viele seiner osteuropäischen Schicksalsgenossen sagte sich Finnland bereits um 1917 dauerhaft von seinem russischen Nachbarn los. Das Rückgrat der um 1918 gegründeten finnischen Streitkräfte, die für die junge Republik Unabhängigkeit und Sicherheit garantierten, bildeten Veteranen eines in Deutschland ausgebildeten, finnischen Jägerbataillons. Dieses hatte während des Ersten Weltkrieges die Unabhängigkeit Finnlands vom Zarenreich verfolgt und sich aus diesem Grund auf deutscher Seite an den Kämpfen im Osten beteiligt. Ihre deutsche Ausbildung und Einsatzerfahrung machte sie zu wertvollen Beratern und Ausbildern für die finnische Armee. Im Winterkrieg von 1939/40 dominierten vornehmlich in Deutschland ausgebildete Jäger die finnischen Offiziersränge. Das deutsche Erbe gilt in den finnischen Streitkräften bis heute als fester und traditionsfähiger Bestandteil der Truppenkultur. So hat sich unter anderem das finnisierte Wort „Jääkäri“ (von dt.: Jäger) als Standardbezeichnung für Infanterieeinheiten im finnischen Wortschatz verankert.
Orientierten sich frühe finnische Militärs noch am deutschen Vorbild, so lohnt sich mit Hinblick auf den derzeitigen Zustand der Reserve der Bundeswehr ein Blick über die Ostsee. Aus einer geostrategisch bedingten und anhaltenden Bedrohung erfuhren die Finnen eine frühzeitige Sensibilisierung für Wehrfähigkeit und Resilienz. Diese bildete eine feste und historisch legitimierte Konstante in der modernen finnischen Geschichte und bekräftigte das Festhalten an einem simplen wie effektiven Wehrpflicht- und Territorialverteidigungssystem, das die Jahrzehnte überdauerte und nur vereinzelt Anpassungen erfuhr. Somit steht jenes in einem starken Kontrast zu den deutschen Streitkräften, die seit 1918 nicht nur mehrere Systemwechsel und eine historische Zäsur mitbegleiteten, sondern auch zahlreiche interne Reformen und Umstrukturierungen durchlebten.
Die Reserve bildet den Kern der finnischen Streitkräfte und steht somit im Fokus der nationalen Wehrfähigkeit. Im Verteidigungsfall stehen dem 5,5-Millionen-Einwohnerland 900.000 trainierte Reservisten zur Verfügung. Sie würden somit 97 Prozent der personellen Gesamtstärke der Streitkräfte ausmachen. Die angestrebte Stärke im Kriegsfall liegt bei 280.000 Soldaten. Solche Größenordnungen (auf die Gesamtbevölkerung betrachtet) sind im Gegensatz zur Bundesrepublik keineswegs unrealistisch. Jährlich durchlaufen mehr als 45.000 finnische Reservisten militärisches Training, um eine kontinuierliche Einsatzfähigkeit gewährleisten zu können. Dabei kommt den Reservistenverbänden eine besondere Rolle zu. Der Kernauftrag des finnischen Reservistenverbands – als eine von vielen finnischen Reserve- und Verteidigungsorganisationen – besteht in der Aufrechterhaltung des nationales Verteidigungswillens, der nationalen Resilienz sowie in der militärischen Aus- und Weiterbildung der Reserve.
So üben die Finnen
Die Nationale Verteidigungsausbildungsorganisation (MPK) fungiert als Dachverband für die verschiedenen finnischen Reserveorganisationen und ist zugleich strategischer und operativer Partner der finnischen Streitkräfte in Fragen der Ausbildung der Reserve sowie der freiwilligen Landesverteidigung. Die MPK und ihre Mitgliedsverbände bieten ihren Mitgliedern militärisches Training auf persönlicher- sowie auf Zug- und Kompanieebene. Dazu stellen sie 2.000 freiwillige durch die finnische Armee zertifizierte Ausbilder zur Verfügung, die jedes Jahr um die 25.000 Reservisten in diversen Disziplinen des Soldatenhandwerks, allen voran dem Schießen, weiterbilden. Allein der finnische Reservistenverband, als größter Bereitsteller von Kapazitäten, führt jährlich 20.000 Veranstaltungen durch und wendet hierfür fünf bis sechs Millionen Schuss Munition auf.
Gleichermaßen beliebt wie militärisch sinnvoll, ist das sogenannte Applied Reservists’ Shooting. Dabei handelt es sich um wöchentliches und regional organisiertes Schieß- und Einsatztraining in einem realistischen Szenario, zum Beispiel im bewaldeten Gelände oder urbanen Terrain mit landesweit circa 10.000 Teilnehmern. Das regelmäßige Schießtraining in einem realitätsnahen Kontext bietet nicht nur eine gute Gelegenheit zur Beibehaltung und Verbesserung angewandter militärischer Fähigkeiten, sondern spricht zudem insbesondere jüngere Reservisten an, die sich sportlich betätigen und geistig wie auch körperlich weiterentwickeln wollen. Somit adressiert dieses Angebot auch das Problem der Überalterung in der freiwilligen Reservistenarbeit, das insbesondere auch in Deutschland eine Herausforderung darstellt.
Aufbau einer breiten gesellschaftlichen Resilienz
Die finnische Wehrfähigkeit in Kombination mit einer breiten gesellschaftlichen Resilienz und einem darauf beruhenden Verständnis für die Bedürfnisse und Anforderungen der eigenen Streitkräfte trifft europaweit nur selten ihresgleichen. Hierbei dürfen die geschichtlich-geographischen Rahmenbedingungen als Katalysator solch historisch gewachsener Gegebenheiten nicht vernachlässigt werden. Weder teilt die Bundesrepublik eine Grenze mit einem geopolitischen Aggressor wie Russland, noch verfügt die Bundeswehr über eine ungebrochene militärische Tradition und ein vergleichbares Verhältnis zu Zivilgesellschaft und Politik, wie dies in Finnland der Fall ist. Dennoch ergibt es im Rahmen der Zeitenwende durchaus Sinn, sich auf deutscher Seite bei jenem Land Inspiration zu suchen, dessen Fokus nie von der Kernkompetenz der Landesverteidigung abwich und das wie kaum ein anderes verteidigungspolitische Themen wie Wehrpflicht und Dienst an der Waffe in Einklang mit einer demokratischen und individualistischen Zivilgesellschaft zu bringen vermag.
Insbesondere das Verständnis von Landes- und Bündnisverteidigung als gesamtgesellschaftliche Aufgabe und im Zuge dessen, der Aufbau einer breiten gesellschaftlichen Resilienz, muss prioritär behandelt werden, um die Grundlage für eine wehrfähige Bevölkerung zu schaffen, die sich gerne und aus Überzeugung in der Reserve der Bundeswehr und anderen essentiellen Institutionen engagiert. Hierzu muss Deutschland strategiefähig werden und in der Lage sein, seine Interessen und seine Position in einer Welt im Wandel zu kommunizieren. Anders als in 20 Jahren Afghanistan muss die deutsche Politik in der Lage sein, ihren Bürgern schlüssig zu erklären, weshalb und mit welchem Ziel sie ihre Soldaten in den Einsatz entsendet oder weshalb man auch ohne eine direkte Grenze zu Russland eine funktionale Territorialverteidigung braucht.
Reservistenverband stärker einbeziehen
So wie man eine hohe gesellschaftliche Resilienz nicht über Nacht herbeiführen kann, so wenig lässt sich in kurzer Zeit ein effektives Reserve- und Territorialverteidigungssystem wie in Finnland etablieren. Die Gewinnung neuer Wehrdienstleistender für die Bundeswehr, egal ob in Form eines Gesellschaftsjahres oder eines vergleichbaren Modells, wird seine Zeit brauchen. Hierfür müssen zunächst seit 2011 abgebaute Strukturen und Kapazitäten wieder neu geschaffen werden. Wo man jedoch bereits heute ansetzten kann, ist die regelmäßige Aus- und Weiterbildung sowie Motivation bereits ausgebildeter Reservisten. Hierzu ist zunächst eine verlässliche wehrdienstliche Erfassung aller Reservisten in der Grundbeorderung und idealerweise auch darüber hinaus notwendig, um das bereits vorhandene Potential der Reserve ausschöpfen zu können. Zusätzlich muss das Training von Reservisten in regelmäßigen Intervallen erfolgen, praxisorientiert sein und vom Arbeitgeber unterstützt werden. Dies würde vor allem junge Reservisten motivieren, öfter an Übungen teilzunehmen.
Um regelmäßige militärische Trainings gewährleisten zu können, könnte die Bundeswehr mit Hinblick auf Ausbilder, Unterstützungskräfte und Teilnehmer auf das Mitgliedernetzwerk des Reservistenverbandes zurückgreifen, so wie es in Finnland üblich ist. Darüber hinaus wäre zu überdenken, ob nicht auch der Reservistenverband selbst dazu befähigt werden könnte, bis zu einem gewissen Grad, verstärkt lokal organisiertes und praxisnahes Training (zum Beispiel mit Blueguns) anzubieten. Mit der Durchführung von Reservistentrainings als Verbandsveranstaltung könnte das regionale Angebot für Reservisten deutlich erhöht werden, bei gleichzeitiger Entlastung der entsprechenden Bundeswehrbehörden.
Dass eine solche Miteinbeziehung des Reservistenverbandes beim Aufbau einer starken und einsatzbereiten Reserve kein reiner Wunschtraum ist, wird durch Finnland eindrucksvoll vorgelebt. Die finnischen Reserveorganisationen sind fester Bestandteil der nationalen Verteidigungsfähigkeit und enger Partner der Streitkräfte. Auch der deutsche Reservistenverband könnte mit Hinblick auf die Zeitenwende aktiver bei der Bildung und Förderung einer starken Reserve miteingebunden werden, um die Bundeswehr durch sein Netzwerk und dadurch wertvolles Kapital an Personen und Fähigkeiten unterstützen zu können. Denn es mangelt der Bundeswehr hinsichtlich ihrer Reserve nicht ausschließlich an motiviertem Nachwuchs, sondern vor allem an attraktiven Angeboten und Möglichkeiten, Reservisten zielgerichtet zu kontaktieren.