Rückkehr zur Wehrpflicht
von Kevin Rodgers
Kaffee von Königin Máxima, Briefings über tödliche Skorpione – das Leben eines deutschen Soldaten in Mali kann Facetten haben, die daheim etwas skurril wirken. Das zeigte die Rekrutierungsserie "Mali", die im vergangenen Jahr auf Youtube lief. Doch die Videos verschwiegen auch die anderen Seiten des Einsatzes nicht: Soldaten suchen Straßen nach Sprengfallen ab oder trauern um zwei bei einem Hubschrauber-Absturz gefallene Kameraden. Die 40 Folgen der "Mali"-Serie wurden hunderttausendfach angeklickt, ebenso ihr Vorgänger, die Serie "Die Rekruten".
Beide Kampagnen sind nur deshalb entstanden, weil die Bundeswehr seit dem Ende der Wehrpflicht den Nachwuchs nicht mehr automatisch auf den Kasernenhof gestellt bekommt. Sie muss ihn nun aktiv rekrutieren. Spätestens seit die alte und neue Bundesverteidigungsministerin Ursula von der Leyen im Februar 2017 angekündigt hat, die Bundeswehr bis zum Jahr 2024 auf 198.000 aktive Soldaten aufstocken zu wollen, ist der Personalmangel der Streitkräfte einer breiten Öffentlichkeit bekannt. In den nächsten sechs Jahren müssten 18.700 neue Soldaten angeworben werden, um von der Leyens Ziel zu erreichen. Ob das allerdings in dem vergleichsweise kurzen Zeitraum gelingt, ist fraglich.
Außendarstellung nicht authentisch genug?
Denn seitdem die Wehrpflicht vor sieben Jahren ausgesetzt wurde, konkurrieren die Streitkräfte mehr denn je mit anderen öffentlichen Arbeitgebern wie der Polizei und mit der freien Wirtschaft. Dabei gibt es durch den demografischen Wandel immer weniger junge Menschen. Die ersten Versuche zur Nachwuchswerbung verliefen noch eher unglücklich. "Mach, was wirklich zählt", eine Plakat- und Posterkampagne, floppte. Die Slogans begeisterten die jungen Menschen nicht, die Jugend spottete darüber. "Das Grundproblem ist, dass die Außendarstellung der Bundeswehr nicht authentisch genug war", erklärt ein Insider aus dem Bundesamt für das Personalmanagement. Es sei viel zu sehr darauf geachtet worden, die Truppe zivil zu zeigen. So waren auf den Plakaten etwa Modells und keine echten Soldaten zu sehen. Das sei unglaubwürdig gewesen, sagt der Insider. Das dabei erzeugte Bild der brunnenbauenden Soldaten habe nicht überzeugt. "Jeder weiß, dass die Praxis anders aussieht." Deshalb seien die Serien "Mali" und "Die Rekruten" ein Schritt in die richtige Richtung gewesen.
"Nicht absehbar, ob die Kampagnen neuen Stils wirklich wirken"
Das sehen nicht alle so im Bundesamt für das Personalmanagement der Bundeswehr. Intern gab es erheblichen Widerstand gegen die neue Strategie. Die Befürchtung der Bedenkenträger war, dass das Image der Bundeswehr leiden könnte, wenn die Realität zu ungefiltert und schonungslos aufgezeigt wird. Diese Angst sei auch nicht ganz unbegründet, sagt ein Mitarbeiter des Bundesamtes. Die deutsche Gesellschaft sei pazifistisch eingestellt, vielen Bürgern fehle das Bewusstsein, was die Bundeswehr eigentlich für das Land leiste. Daher sei nicht absehbar, ob die Kampagnen neuen Stils wirklich wirken. "In Bundeswehr und Politik setzt sich zunehmend die Einsicht durch, dass die Aussetzung der Wehrpflicht ein Fehler war", sagt der Mitarbeiter. Die Debatte um die Wiedereinführung werde in den nächsten Jahren Fahrt aufnehmen, lautet daher seine Prognose.
"Freiwillige Wehrpflicht" in Schweden
Zurück zur Wehrpflicht? Deutschland wäre damit zumindest nicht allein. Gerade hat Schweden den Pflichtdienst wieder eingeführt. Die schwedische Regierung begründet den Schritt mit der veränderten Sicherheitslage durch eine aggressivere russische Außenpolitik. Vor acht Jahren hatte die Regierung in Stockholm die Berufsarmee eingeführt. Doch es meldeten sich zu wenige Freiwillige. Daher sollen nun wieder Männer und Frauen zur Musterung herangezogen werden. Das betrifft jährlich etwa 12.000 junge Menschen. Doch weil die schwedischen Streitkräfte nur 4.000 Rekruten jährlich brauchen, sollen laut schwedischem Verteidigungsministerium nur diejenigen dienen, die sich "körperlich und geistig eignen und motiviert" sind. Von allgemeiner Wehrpflicht kann somit keine Rede sein. Vielmehr ist es so: Alle werden gemustert und gefragt, ob sie dienen wollen. Bisher mussten sich die jungen Freiwilligen selbst bei der Armee melden. Die ersten dieser neuen "freiwilligen Wehrpflichtigen" traten am 1. Januar dieses Jahres ihren Dienst an.
Hoffnung auf mehr Rückhalt in der Gesellschaft
Dass ihre Regierung die Wehrpflicht wieder eingeführt hat, finden viele Soldaten der schwedischen Streitkräfte gut. Wie zum Beispiel Jonas Persson. Er ist Leutnant der Svenska Flygvapnet, der schwedischen Luftwaffe, und leistet seinen Dienst beim Luftwaffengeschwader F17. "Wir hatten zuletzt das Problem, nicht genügend Personal zu haben", erklärt Persson. Das habe dazu geführt, dass die Arbeitsbelastung spürbar gestiegen sei und die Soldaten zu oft mit zeitraubenden, aber nebensächlichen Dingen beschäftigt gewesen seien. Diese könnten künftig wieder Wehrpflichtige übernehmen, so seine Hoffnung. Außerdem erwartet er durch die Rückkehr zum Pflichtdienst, dass der Rückhalt der Streitkräfte in der Gesellschaft wieder wächst. Schweden, erklärt er, sei ein pazifistisches Land, in dem es dem Militär schwerfalle, sich mit seinen Anliegen Gehör zu verschaffen.
Persson begrüßt, dass die Regierung auf die veränderten Gegebenheiten reagiert. Das Land müsse auf alles vorbereitet sein und könne es nicht tolerieren, wenn der Luftraum von russischen Jets verletzt wird. Schweden müsse mehr Stärke demonstrieren, sagt er.
Russland eher eine "abstrakte Gefahr"
Diese Position teilen trotz Krim-Annexion jedoch nicht viele junge Schweden. Eine Militärlaufbahn ist für sie weder interessant noch attraktiv. Die meisten wollen nach der Schule studieren und einen gut bezahlten Job. "Da können wir vom Militär nicht konkurrieren", sagt Leutnant Persson. Vielen Schweden fehle zudem das Bewusstsein, welche Rolle die Streitkräfte für die Sicherheit des Landes spielten. "Wir hatten seit mehr als 200 Jahren keinen Krieg auf schwedischem Boden. Das ist tief im Bewusstsein der Menschen hier verankert." Die Menschen lebten in Wohlstand, Russland werde eher als abstrakte Gefahr wahrgenommen. Da sei es schwer zu vermitteln, warum die Streitkräfte wichtig seien.
Im benachbarten Finnland sehen das die Menschen offensichtlich anders. Dort wird das Soldatsein als attraktiver Beruf empfunden. Die Zahl der Bewerber bei den Streitkräften übersteigt regelmäßig die der offenen Stellen. Das liegt nicht nur am finnischen Nationalstolz, sondern auch an einer Reihe handfester Gründe in Aufbau und Struktur der Streitkräfte. Seit 2002 setzt das Militär das Konzept der "transformationalen Führung" um. Dieses Konzept zielt auf einen Mentalitätswandel beim Führungspersonal ab. Den Mitarbeitern soll vermittelt werden, den Weg dorthin offen zu kommunizieren, als Vorbild aufzutreten und die individuelle Entwicklung der Untergebenen zu unterstützen.
Führung soll nicht nur von oben nach unten gelebt werden
Die finnischen Streitkräfte verstehen moderne Führung hauptsächlich als ausgedehntes Qualitätsmanagement. Die militärische Führung nimmt regelmäßig Umfragen zur Qualität von Unterkünften und Ausrüstung vor. Auch Fragen zu Führung und Verhalten von Vorgesetzten, Stressmanagement und zum Zusammenhalt der eigenen Gruppe werden gestellt. Diese Umfragen werden auf jeder Hierarchieebene durchgeführt. Die militärische Führung kümmert sich dann um die Umsetzung der Ergebnisse. Das Ziel: Führung soll nicht nur von oben nach unten gelebt werden, sondern auch gegenseitige Kommunikation auf Augenhöhe beinhalten, ohne dabei die Autorität der Führungspersönlichkeiten zu untergraben.
Gute Stimmung in Finnland
Die Resultate dieses Kulturwandels sind messbar. Seit 2002 wird der Wehrdienst von den Soldaten immer positiver bewertet. Die Berufszufriedenheit lag zuletzt bei mehr als 80 Prozent. Die gute Stimmung in der Truppe schlägt bis in die Gesellschaft durch. Dreiviertel aller Finnen wollen die Wehrpflicht beibehalten, 95 Prozent vertrauen ihrer Armee. Ein Wert, von dem die Bundeswehr nur träumen kann. Im vergangenen Jahr sprachen laut einer Umfrage des Zentrums für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr nur zwei Drittel der deutschen Gesellschaft den Streitkräften ihr Vertrauen aus.
Dieser im Vergleich zu Finnland schlechte Wert könnte auch mit der Abschaffung der Wehrpflicht zu tun haben. Gesellschaft und Streitkräfte in Deutschland entfernen sich zunehmend voneinander. Öffentliche Respektsbekundungen für Soldaten, die aus gefährlichen Einsätzen zurückkommen, gibt es kaum. In den USA beispielsweise ist das anders. Dort ist das Ansehen von Militär, Polizei, Feuerwehr und zivilen Leistungsträgern ein unumstößlicher gesellschaftlicher Konsens, der bereits Grundschulkindern vermittelt wird.
Bundeswehr kann Bedarf gerade so eben decken
In Deutschland melden sich sechs Jahre nach Aussetzung der Wehrpflicht immer weniger Männer und Frauen zum freiwilligen Dienst an der Waffe. Im vergangenen Jahr bewarben sich nach Angaben des Verteidigungsministeriums bis Ende August insgesamt 10.105 Männer und Frauen für den freiwilligen Wehrdienst (FWD). Er wurde im Jahr 2012 als Ersatz für die Wehrpflicht eingeführt. Das ist ein Rückgang von mehr als 15 Prozent im Vergleich zum Vorjahreszeitraum. Aktuellere Zahlen gibt es nicht. Mehr als jeder vierte FWDler bricht den Dienst während der Probezeit ab. Damit kann die Bundeswehr ihren jährlichen Bedarf von 8.500 freiwillig Wehrdienstleistenden gerade so decken. Noch.
Symbolfoto – Schwedische Soldatin.
(Foto: Bazev Mahmod / Försversmakten)
Grafik: loyal