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Saudi-Arabien: Transformation zur Regionalmacht am Golf

„Vision 2030“ nennt der saudische Kronprinz Mohammed bin Salman – kurz MbS – seine Ambitionen, mit denen er das konservative, wahhabistische Königreich bis 2030 fit für die Zukunft machen will. Das primäre Ziel: Unabhängigkeit vom Öl durch wirtschaftliche Diversifizierung. Doch neben offensichtlichen Maßnahmen wie einer verstärkten Zusammenarbeit mit China folgen daraus auch Annäherungen an den Iran und Israel sowie eine gesellschaftliche Transformation. Saudi-Arabien drängt – wie auch die anderen Golfstaaten – mit hohen Ambitionen auf die weltpolitische Bühne. Dafür muss es aber weg vom religiös-fundamentalistischen Image, hin zu einem modernen, weltoffenen Staat. Doch wo steht das Land zwischen Ölreichtum, der Ermordung von Jamal Khashoggi, einer linienförmigen Millionenstadt mitten in der Wüste und dem Weltfußballer und Publikumsliebling Christiano Ronaldo?

(Bild: Lara Jameson via pexels.com)

Naher OstenSaudi-Arabien

Um die gewollte gesellschaftliche Transformation in Saudi-Arabien nachvollziehen zu können, muss ein Blick in die Geschichte des Königreichs geworfen werden. 1938 wurde in Saudi-Arabien erstmals Öl gefunden, was dem Staat bis heute einen enormen Reichtum bescherte. Damit gehört Saudi-Arabien zu den sogenannten Rentierstaaten oder auch Rentenstaaten. Als Rente wird ein Einkommen bezeichnet, das nicht direkt im Zusammenhang mit geleisteter Arbeit, sondern mit Besitz von Ressourcen oder Kapital verbunden ist. Der Großteil dieses Renteneinkommens fließt direkt in die Staatskassen, da dem Staat die Ressourcen gehören bzw. er die Nutzungsrechte vergibt. Dieser Staatsreichtum bringt aber nicht nur Vorteile mit sich: Das saudische Königreich hat es trotz vergeblicher Versuche nicht geschafft vom Öl unabhängig zu werden. Vor der Covid-19-Pandemie speiste sich der Staatshaushalt zu 87 Prozent aus dem Ölsektor. Gleichzeitig sind aber nur etwa ein Viertel der Beschäftigten des Landes in der Industrie beschäftigt, während der Großteil der Bevölkerung mit Staatsleistungen und Scheinbeschäftigungen versorgt wird. Im Gegenzug zu dieser großzügigen staatlichen Unterstützung, die Subventionen für Wasser, Lebensmittel, Strom, Treibstoff und Bildung enthält, verzichten die saudischen Bürgerinnen und Bürger auf politisches Mitspracherecht. Das alles hat zur Folge, dass das System extrem anfällig ist und der hohe Lebensstandard auf wackeligen Beinen steht, sollte es zu einem langfristigen Fall des Ölpreises kommen. Dazu ist verschiedenen Schätzungen zufolge das leicht zugängliche Öl bereits etwa um das Jahr 2040 in Saudi-Arabien aufgebraucht. Das Königreich muss langfristig zum einen also unabhängig von Erdöl werden und gleichzeitig seine Bevölkerung anders als nur durch Alimentierung an sich binden.

Wirtschaftliche und gesellschaftliche Transformation

Deshalb geht es in der „Vision 2030“ nicht nur um Wirtschaft, sondern eben auch um eine gesellschaftliche Transformation. Zum einen soll die junge Generation von Saudis über Entertainment und Sport wie eben der Kauf des Fußballclubs Newcastle United, die Verpflichtung von Stars oder die Austragung von Großereignissen zufrieden gestellt werden. Eine ähnliche Funktion haben auch Megaprojekte wie „NEOM“, eine linienförmige, komplett klimaneutrale Stadt, die 170 Kilometer durch die Wüste verlaufen und mit 9 Millionen Einwohnern die größte Stadt des Landes werden soll. Solche Investitionen strahlen aber auch nach außen. So soll der Staat auf Außenstehende modern und hoch technologisiert wirken, um – verstärkt durch eine blühende Kultur- und Unterhaltungsbranche – den Tourismus in Saudi-Arabien anzukurbeln.

Des Weiteren forciert MbS die Umbildung der Gesellschaft durch eine Identitätspolitik, die gesellschaftliche Strukturen und Hierarchien umbildet und traditionelle Lebensweisen adaptiert, was alles in einem neuen nationalen Selbstbewusstsein münden soll. Dafür wurden traditionelle, religiöse Eliten schrittweise entmündigt und die Geschlechtergleichheit vorangetrieben. MbS inszenierte sich selbst als Symbol für den gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Aufschwung des Königreichs und duldet neben seiner keine anderen Stimmen oder Narrative. Kritiker und Oppositionelle werden repressiv unterdrückt, dabei ist das prominenteste Beispiel der Mord an dem Reporter Jamal Khashoggi. Während die Gesellschaft schrittweise liberalisiert und modernisiert wird, werden individuelle Freiheiten eingeschränkt und unterdrückt.

Die Wolkenkratzer Abraj Al Bait in der saudischen Stadt Mekka, der heiligen Stadt des Islams. (Foto: Haydan As-soendawy via pexels.com)

China als neuer Partner

Mit der Abwendung von den USA und dem Westen sowie der Hinwendung Saudi-Arabiens zu neuen Partnern, proklamiert das Königreich nicht nur sicherheitspolitische und wirtschaftliche Unabhängigkeit, sondern auch seine Eigenständigkeit in einer multipolaren Welt. Die Bevölkerung unterstützt diese neue außenpolitische Ausrichtung zur Stärkung der Position als Regionalmacht als wiedererstarkendes, saudisches Selbstbewusstsein.

Zum wichtigsten Partner Saudi-Arabiens hat sich in den letzten Jahren China entwickelt. Die Volkrepublik ist bereits der größte Handelspartner des Königreichs und Saudi-Arabien im Gegenzug der bedeutendste Öllieferant für das Reich der Mitte. Gerade in Zeiten von globalen Energiekrisen ist die Anbindung Saudi-Arabiens elementar für Pekings immer größeren Bedarf an billiger Energie, entsprechend hoch ist die Wertschätzung des Königreichs in China. Gleichzeitig sind große chinesische Firmen wie PetroChina und Huawei bereits in Saudi-Arabien vertreten, doch die Volksrepublik engagiert sich nicht nur auf der Golfhalbinsel, sondern in der gesamten Region im Rahmen der „Belt and Road Initiative“ (neue Seidenstraße). China strebt dabei eine neue, multipolare Weltordnung an, die konträr zur unipolaren Macht der USA stehen soll. Dabei kümmert sich Peking wenig um die innere Verfasstheit eines Staates, solange er als Handelspartner taugt, denn das chinesische Narrativ ist eindeutig: Modernisierung ist nicht mit Verwestlichung gleichzusetzen, sondern auf verschiedene Weisen zu erreichen. Dabei ist Demokratie keine Voraussetzung, denn verglichen mit den USA oder anderen westlichen Partnern bietet China den Autokratien im Nahen Osten eine vielversprechende Alternative: wirtschaftliche Entwicklung, ohne dabei politische Kontrolle aufgeben zu müssen.

Die Ergebnisse des chinesischen diplomatischen Engagements in der Region können sich auch jenseits der wirtschaftlichen Bilanz sehen lassen: Seit Beginn des Jahres 2023 ist Saudi-Arabien Dialogpartner der „Shanghai Cooperation Organization“ (SCO). Diese 2001 von China, Russland und der GUS gegründete Organisation dient als ein politisches, wirtschaftliches und militärisches Gegengewicht zu den westlichen Institutionen. Daneben feierte Peking im März 2023 einen diplomatischen Erfolg, als sich die Außenminister des Irans und Saudi-Arabiens unter chinesischer Vermittlung erstmals die Hände reichten und wieder Botschafter austauschten – ein Affront gegen den einst engen Verbündeten USA.

Beziehungen zum Iran und zu Israel

Denn die saudisch-iranischen Beziehungen waren nicht erst seit dem Abbruch der diplomatischen Beziehungen im Jahr 2016 angespannt. Die saudische Bedrohungsperzeption wird seit Jahrzehnten grundlegend vom Iran und seinen Akteuren im Jemen, Libanon, Irak, Syrien und auch in Form der eigenen schiitischen Minderheiten im Land dominiert. Dabei spielt insbesondere der Krieg im Jemen eine große Rolle, denn durch phasenweise Eskalationen stieg auch die Zahl der Raketen- und Drohnenangriffe auf saudisches Territorium durch die Huthis, die in der saudischen Öffentlichkeit als „5. Kolonne der Islamischen Republik“ bezeichnet werden. Anti-iranische Rhetorik, in welcher der Kronprinz den iranischen Revolutionsführer durchaus auch schon als „neuen Hitler“ bezeichnet hatte, dient nicht nur als einendes Element in der Bevölkerung, sondern auch dazu die saudische Führung zu stärken und sich gegen externe Bedrohung abzugrenzen.

Doch in Saudi-Arabien hat sich die Erkenntnis durchgesetzt, dass die Feindschaft zum Iran kontraproduktiv ist. Für die gesellschaftliche und wirtschaftliche Umwälzung braucht es ausländische Investoren und entsprechend ein Image jenseits von einem unmenschlichen Stellvertreterkrieg, Marschflugkörpern und Drohnenangriffen. Und so reiste im Juni 2023 erstmals seit 2006 wieder ein saudischer Außenminister in den Iran und seit September gibt es wieder diplomatische Vertretungen der jeweiligen Staaten in Riad und Teheran. Die Annäherung glich einem Erdbeben, dennoch haben beide Staaten sehr unterschiedliche Positionen in regionalen Fragen – so ist auch der Konflikt im Jemen noch lange nicht gelöst – und das Abkommen bleibt auf wackeligen Beinen.

Mindestens genauso viele ungelöste Probleme, wenn nicht gar noch mehr, bestehen zwischen Israel und Saudi-Arabien. Seit vor gut drei Jahren die „Abraham Accords“ abgeschlossen wurden, die eine Zusammenarbeit und Dialog zwischen Israel und einer Reihe von arabischen Staaten beinhalten, wurde immer wieder spekuliert, ob Saudi-Arabien den Vereinigten Arabischen Emiraten (VAE), Bahrain, Marokko und dem Sudan folgen würde. Doch wenngleich dies bisher nicht geschah, hatte sich seit einigen Jahren eine mehr oder weniger geheime Zusammenarbeit der beiden Staaten entwickelt. Mit der aktuellen israelischen Regierungskoalition und der Annäherung zwischen Saudi-Arabien und dem Iran schien die Normalisierung aber wieder ins Leere zu verlaufen.

Unter US-amerikanischer Federführung laufen die Verhandlungen zwar weiter, doch die Anforderungen Riads sind hoch: Das Königreich möchte moderne Waffensysteme, die Sicherheitsgarantie der USA und die zivile Nutzung von Atomkraft. Diese könnte aber, so befürchtet Israel, in ein militärisches Atomprogramm führen und Saudi-Arabien so eine Gegenmacht zum iranisches Atomprogramm aufbauen. Israel, das wenngleich nicht offiziell, selbst Atomwaffen besitzt, hingegen fürchtet sein eigenes Abschreckungspotential zu verlieren. Zumal eine solche Situation zu einem Wettrüsten in der Region führen könnte, was sich auch auf Ägypten und die Türkei übertragen könnte. Daneben stehen die saudischen Forderungen nach Zugeständnissen an die Palästinenser, diese lehnen die rechtsextremen Koalitionspartner Netanyahus aber strikt ab.

Mohammad bin Salman (rechts) im Gespräch mit US-Außenminister Antony J. Blinken im saudischen Jeddah. (Foto: U.S. Department of State via flickr.com)

Saudi-Arabien und der Westen – wo stehen wir?

Die aktuelle Außenpolitik Saudi-Arabiens zeigt also eine große Diversität. Während China zwischen Iran und dem Königreich verhandelt, sind es zwischen den Saudis und Israelis die USA. Die Golfstaaten, allen voran das wahhabitische Königreich wollen ihre Position auf der weltpolitischen Bühne verstärken und ausbauen. Dabei wollen sie schon lange nicht mehr nur als der Juniorpartner der USA, sondern als eigenständige Regionalmacht wahrgenommen werden, was sich nicht nur im vergangenen Winter mit der Energieunsicherheit als Folge des russischen Angriffskriegs in der Ukraine gezeigt hat. Durch die gesellschaftliche Öffnung und die gleichzeitige politische Unterdrückung bleibt das Königreich innenpolitisch unberechenbar und auch außenpolitisch steht fest, dass Deutschland nur einer von vielen Partner ist. Deutschland hat aber ein realpolitisches Interesse an einer langfristigen Partnerschaft mit den Golfmonarchien und ihren Ressourcen. Das westliche Dilemma zwischen den Interessen und Werten wie zuletzt während der Männerfußball-WM in Katar, das auch in der Öffentlichkeit diskutiert wird, braucht also umso mehr ein konsequentes Konzept mit klaren roten Linien. Dabei sollte ganz oben stets die Bewahrung der Menschenrechte als unumgängliches Prinzip stehen.

 

Autorin:

Emma Nentwig studierte Politikwissenschaft und Arabistik in Jena, Madaba (Jordanien) und Lille mit dem Schwerpunkt auf islamische Ideengeschichte. Daneben liegen ihre Forschungsinteressen in der Außen- und Sicherheitspolitik des Nahen und Mittleren Ostens. Sie ist stellvertretende Bundesvorsitzende des Bundesverbandes für Sicherheitspolitik an Hochschulen (BSH).

 

Literaturtipps:

 


Dieser Text stammt aus dem Sicherheitspolitischen Newsletter des Sachgebietes Sicherheitspolitische Arbeit. Diesen können Sie hier abonnieren.
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