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Schwieriger Partner, notwendiger Partner? Der außenpolitische Spagat der Türkei

Seit Beginn der russischen Invasion auf die Ukraine im Februar 2022 bietet sich die Türkei als Vermittler im Konflikt an. Neben der geografischen Lage am Schwarzen Meer spielen auch die diplomatischen Beziehungen zu den Kriegsparteien eine wichtige Rolle. Doch nicht nur im Hinblick auf das Verhältnis zum Kreml geht das NATO-Mitglied Türkei seinen eigenen außenpolitischen Weg. In Syrien kämpft das Land gegen Kurdenmilizen, die von den USA unterstützt werden. Des Weiteren blockiert die Türkei den NATO-Beitritt Schwedens und heizt die Spannungen mit Griechenland um Inseln in Mittelmeer stetig an. Wohin steuert die Türkei außenpolitisch?

(Foto: The White House via Wikimedia Commons)

natorusslandtürkei

Den russischen Militäreinsatz hat die Türkei umgehend verurteilt. Das Land pflegt enge Beziehungen zur Ukraine, die türkische Kampfdrohnen erhielt – sehr zum Ärger des Kremls. Mit der Sperrung der Bosporus-Straße für Kriegsschiffe griff Ankara früh und zum Nachteil Russlands in den Krieg ein. Gleichzeitig haben die beiden autokratischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan und Wladimir Putin die Wirtschafts- und Verteidigungsbeziehungen in den letzten Jahren ausgebaut. So bestellte die Türkei 2017 das russische Flugabwehrraketensystem S-400. Diese Aktion wurde nicht nur von der Ukraine kritisiert, sondern stieß vor allem bei NATO-Partnern auf Unverständnis und Unmut.

Militäreinsatz in Syrien

Der außenpolitische Sonderweg der Türkei gegenüber NATO-Partnern zeigte sich bereits im Bürgerkrieg in Syrien. Zu Kriegsbeginn 2011 unterstützte Erdogan wie die Vereinigten Staaten die oppositionelle „Freie Syrische Armee“ (FSA). Die Verbindungen zu islamistischen Gruppen sowie die temporäre Ablehnung der Verwendung des Luftwaffenstützpunktes Incirlik für die US-Luftwaffe ließen jedoch aufhorchen. Statt den Kampf des Westens gegen die Terrororganisation „Islamischer Staat“ zu unterstützen, galten für Erdogan die von den USA unterstützten Kurdenmilizen als Hauptfeind. Mithilfe der Türkei spaltete sich zudem 2017 die „Syrische Nationale Armee“ von der FSA ab.

Nach kleineren Militäroperationen in den vorangegangenen Jahren erfolgte 2019 eine großangelegte Offensive in Nordsyrien. Ziel war die Zurückdrängung der von Erdogan als kurdische Terrororganisation bezeichneten „Demokratischen Kräfte Syriens“. Ankara rechtfertigte den Militäreinsatz und die anschließende Besetzung nordsyrischer Gebiete als Selbstverteidigung. Dagegen verurteilten die Vereinigten Staaten und ihre europäischen Verbündeten die Operation als völkerrechtswidrig.

Aufgrund der NATO-Mitgliedschaft der Türkei war Washington faktisch gezwungen seine Streitkräfte zur Ausbildung der Kurdenmilizen abzuziehen. Die Vereinigten Staaten hatten kein Interesse Teil des türkisch-kurdischen Konflikts zu werden, der bis in den Irak reicht. Zudem war aus Sicht amerikanischer Militärs und Diplomaten die geografische Position der Türkei strategisch zu wichtig. Jedoch führten die USA Sanktionen gegen das türkische Vereidigungs-, Innen- und Energieministerium ein. Des Weiteren wurden die Verhandlungen mit Ankara zu einem lukrativen Handelsabkommen vorerst eingestellt.

Wirtschaftskrise und Rolle im Ukrainekrieg

Die Türkei befindet sich seit Jahren in einer prekären wirtschaftlichen Lage. Dies ist vor allem auf die Sanktionen der Vereinigten Staaten ab 2017 zurückzuführen. Anlass waren neben der Inhaftierung amerikanischer Zivilisten nach dem Putschversuch in der Türkei 2016 der Erwerb russischer Rüstungsgüter. Finanzpolitische Fehlentscheidungen der Regierung befeuerten die Wirtschaftskrise. Der Wert der Währung Lira fiel in den Keller. Folglich nahmen die Inflation und Lebensmittelpreise stetig zu. Im Oktober 2022 erreichte die Inflationsrate mit über 85 Prozent ihren Höhepunkt, im März 2023 betrug sie 55 Prozent.

Erdogan ist innenpolitisch angeschlagen und mit seinem militärischen Sonderweg innerhalb der NATO isoliert. Er benötigt daher dringend Erfolge in der Außenpolitik, um die Präsidentschaftswahl im Mai 2023 nicht zu verlieren. Mit dem Ukrainekrieg nahm die geostrategische Bedeutung der Türkei wieder zu. Hintergrund waren die Blockade ukrainischer Häfen durch die russische Marine. Da die Ukraine eine der größten Produzenten und Exporteure darstellt, kam es weltweit zu Lebensmittelengpässen. Die daraus entstandene Verteuerung von Getreide traf nicht nur Entwicklungsländer hart, sondern auch die wirtschaftlich angeschlagene Türkei.

Unter Vermittlung Ankaras einigten sich Vertreter Russlands und der Ukraine im Juli 2022 auf einen Getreide-Deal. Seitdem können Schiffe wieder ungefährdet durch das Schwarze Meer fahren. Während das Interesse Kiews die Auslieferung der Lebensmittel war, zielte Moskau auf eine Lockerung der Sanktionen ab. Putin zeigte sich bereits wenige Monate später unzufrieden mit der Vereinbarung und drohte sie aufzulösen. Dennoch wurde das Abkommen mehrfach verlängert, so zuletzt im März 2023. Ob Erdogan über den Getreide-Deal hinaus vermitteln kann, ist fraglich. Zum einen, da die von der Inflation geplagte Türkei seit Kriegsbeginn von einer Verdopplung an russischen Ölimporten profitiert. Zum anderen, weil eine diplomatische Lösung aufgrund der Militäroffensiven der Ukraine seit September 2022 in weite Ferne gerückt ist.

Erdogan (rechts am Tisch sitzend) bei der feierlichen Unterzeichnung des russisch-ukrainischen Getreideabkommens. (Foto: Umut Colak/Voice of America via Wikimedia Commons)

Blockade der NATO-Norderweiterung

Nach dem Überfall Russlands auf die Ukraine folgte bei Schweden und Finnland eine Kehrtwende der Sicherheitspolitik. Beide nordeuropäischen und bündnisfreien Staaten beantragten im Mai 2022 den Beitritt zur NATO. Das Vorgehen wurde von allen Mitgliedern des Verteidigungsbündnisses begrüßt – bis auf Ungarn und der Türkei. Im Gegensatz zur Türkei drohte Ungarn jedoch (noch) nicht mit der Blockade der Aufnahmeverfahren.

Erdogan nannte als Grund für die Blockade die angeblichen Sympathien Schwedens und Finnlands für die kurdische Arbeiterpartei PKK und die Gülen-Bewegung. Die Türkei stuft beide Gruppen als Terrororganisationen ein. Fachleute hingegen mutmaßen, dass das Interesse an US-Rüstungsgütern der tatsächliche Grund sei. Prominentes Beispiel ist das Kampfflugzeug F-35. Die Vereinigten Staaten setzten die geplanten Auslieferungen 2018 aus, da Ankara das russische Flugabwehrraketensystem S-400 einkaufte. Auch der Streit um die amerikanische Unterstützung von Kurdenmilizen in Syrien könnte eine Rolle spielen.

Da alle NATO-Mitglieder Beitrittsanträgen zustimmen müssen, waren Gespräche zwischen der Türkei und beiden skandinavischen Staaten notwendig. Bei einem gemeinsamen Treffen im Juni 2022 kam es zu einer Einigung. So stimmte Schweden der Auslieferung von Personen zu, die auf der Terroristenliste der türkischen Regierung standen. Der Weg zur NATO-Norderweiterung schien voranzuschreiten. Doch im Oktober 2022 drohte Erdogan mit der Aufkündigung der Vereinbarung, da sich Schweden nicht an die Absprachen gehalten habe. Nach einer Koranverbrennung durch einen schwedischen Rechtsextremisten im Januar 2023 verschob die Türkei ein geplantes Treffen mit beiden Ländern. Im März 2023 traf sich Erdogan mit dem finnischen Präsidenten Sauli Niinistö und gab grünes Licht für den NATO-Beitritt Finnlands. Kurze Zeit später stimmte das türkische Parlament dem offiziell zu. Gegenüber Schweden bleibt die Türkei bei ihrer Blockadehaltung.

Krieg unter NATO-Mitgliedern?

Nahezu zeitgleich mit den erfolgreichen Operationen der ukrainischen Armee spitzt sich die Lage im türkisch-griechischen Streit im Ägäischen Meer zu. So drohte Erdogan im September 2022 offen mit der Invasion griechischer Inseln, die er als „besetzt“ betrachtet. Griechenland stellte klar, dass es sein – international anerkanntes – Hoheitsgebiet verteidigen werde. Parallel setzt Athen auf Deeskalation und Verhandlungen. Im Inselstreit wird Griechenland sowohl von der Europäischen Union als auch von den Vereinigten Staaten unterstützt.

Inmitten der Spannungen stationierten die USA im Oktober 2022 den Flugzeugträger „USS George H. W. Bush“ auf der griechischen Insel Kreta. Der Marinestützpunkt im Souda-Hafen hat aufgrund seiner geografischen Position eine hohe Bedeutung für die USA. Er gilt als größter Seestützpunkt für NATO-Streitkräfte. Ankara betrachtete die Stationierung als weiteren Ausdruck der amerikanisch-griechischen Annäherung. Des Weiteren wurde die Aktion als erneute Provokation Griechenlands bezeichnet. Auch wenn die öffentlichen Drohungen seitens der Türkei abgenommen haben, bleibt die Lage angespannt.

Die Stationierung der „USS George H.W. Bush“ auf Kreta hat die Türkei erzürnt. (Foto: U.S. Navy photo by Mass Communication Specialist 3rd Class Nicholas Hall via Wikimedia Commons)

Internationale Medien werteten Erdogans scharfe Rhetorik als Vorbereitung auf den Wahlkampf und als Ablenkung von der Wirtschaftskrise. Der türkische Präsident benötige dringend außenpolitische Erfolge, um seine Wiederwahl zu sichern. Fachleute weisen jedoch darauf hin, dass sich das Land keinen weiteren Militäreinsatz neben Nordsyrien leisten könne. Zudem ist ein Vorgehen gegen ein von den USA unterstütztes Griechenland aussichtslos und würde das Verhältnis der Türkei zur NATO dauerhaft schädigen. Dieses Risiko könne Ankara nicht eingehen.

Der türkische Sonderweg

Der außenpolitische Spagat der Türkei nimmt immer drastischere Züge an: Der Militäreinsatz gegen syrische Kurdenmilizen, der Erwerb russischer Waffensysteme, die Blockade der NATO-Norderweiterung und die Provokationen im Inselstreit mit Griechenland. Erdogan reizt die strategisch wichtige Position seines Landes gegenüber den westlichen Partnern immer mehr aus. Da er innenpolitisch unter Druck steht, versucht er außenpolitisch Fakten zu schaffen. In Nordsyrien hat er das bereits militärisch unter Beweis gestellt, während er sich im russisch-ukrainischen Konflikt als Vermittler anbietet.

Dem westlichen Verteidigungsbündnis sind die Alleingänge Ankaras seit Jahren ein Dorn im Auge. So haben die USA mit Wirtschaftssanktionen, der Stornierung eines Waffendeals und einem Flugzeugträger auf Kreta scharf reagiert. Das Problem bei der Sache: Die NATO braucht die Türkei. Zum einen ist ihre geografische Lage für die Kriege in der Ukraine und in Syrien von hoher strategischer Bedeutung. Des Weiteren wird die Zustimmung der türkischen Regierung für die Aufnahme von Schweden und Finnland in die NATO benötigt. Somit wird bei einer möglichen Wiederwahl Erdogans die Türkei ein schwieriger, aber auch ein notwendiger Partner des Westens bleiben.

 

Literaturtipps:

 


Dieser Text stammt aus dem Sicherheitspolitischen Newsletter des Sachgebietes Sicherheitspolitische Arbeit. Diesen können Sie hier abonnieren.

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