Der ehemalige niedersächsische Ministerpräsident David McAllister ist Mitglied des Europäischen Parlaments (MdEP) und dort unter anderem Vorsitzender des Ausschusses für auswärtige Angelegenheiten. Wo die EU auf dem Weg zu einer Europäischen Verteidigungsunion steht, darüber sprach er mit uns im Interview.
Herr McAllister, während des Kalten Krieges war Sicherheit und Verteidigung ganz oben auf der politischen Agenda. Wie hat diese Zeit Sie geprägt?
Die ersten elf Jahre meines Lebens habe ich bis 1982 in West-Berlin verbracht, weil mein Vater dort bei den britischen Streitkräften stationiert war. Diese Kindheit hat mich sehr geprägt, auch politisch. Denn West-Berlin war eine Insel der Freiheit und der Demokratie, umzingelt vom Kommunismus. Ich habe die Grundschule für die britischen Militärangehörigen in Charlottenburg besucht. Insofern waren mir schon als Kind Soldaten in Uniform sehr vertraut.
Wenn Sie sich zurückerinnern an diese Zeit, was ist heute anders? Anders gefragt: Vor welchen sicherheitspolitischen Herausforderungen steht die EU heute?
Im Vergleich zu den 1970er und 1980er Jahren, als die USA, das Vereinigte Königreich und Frankreich bereit waren, die Freiheit West-Berlins und der ganzen Bundesrepublik gegen den Kommunismus zu verteidigen, hat sich die politische Struktur in Europa und weltweit grundlegend verändert. Die jahrzehntelang gefestigte bipolare globale Ordnung hat sich mit dem Zerfall der Sowjetunion und des Warschauer Paktes aufgelöst. Die NATO und die Europäische Union haben sich nach Osten erweitert. Gleichzeitig sind wir in der EU wirtschaftlich und politisch viel stärker integriert als noch vor 40 Jahren.
Covid-19 hat zusätzlich vieles durcheinandergebracht und bewährte Thesen in Frage gestellt. Die geopolitische Gemengelage verschiebt sich. Die USA ziehen sich allmählich als internationale Weltmacht und als Sicherheitsgarant für Europa zurück. Auf der anderen Seite beansprucht China eine globale Führungsrolle. Das Rennen um die Technologie-Vorherrschaft prägt diesen neuen globalen Wettstreit. Russland versucht gezielt, seinen Einfluss in unserer unmittelbaren Nachbarschaft auszuüben. Auch neue regionale Mächte betreten die Bühne. Umso wichtiger ist es, dass wir als EU auch außen- und sicherheitspolitisch enger zusammenrücken.
Was zeichnet die internationale Ordnung heute aus?
Unsere Welt ist unübersichtlicher geworden. Es gibt Mächte, die andere Wertvorstellungen, die ein grundlegend anderes Verständnis von Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechten haben als wir. Die EU-Mitgliedstaaten stehen für Multilateralismus und für eine regelbasierte Kooperation in der Welt. Wir wollen die internationalen Organisationen, wie zum Beispiel die Vereinten Nationen, die Welthandelsorganisation oder die Weltgesundheitsorganisation stärken. Daher suchen wir auch die enge Abstimmung mit Staaten, die ähnlich denken wie wir, Kanada, Japan, Australien oder Südkorea, um nur vier Partner zu nennen.
Clément Beaune, Europa-Staatssekretär Frankreichs und ehemaliger Europa-Berater des französischen Präsidenten Emmanuel Macron hat einen bemerkenswerten Aufsatz mit dem Titel „Europe after Covid“ geschrieben. Darin spricht er davon, dass die Europäische Union eine eigene strategische Souveränität entwickeln muss. Stimmen Sie dem zu?
Die Zeiten, in denen wir uns uneingeschränkt auf andere verlassen konnten, sind vorbei. Europa muss in der Außen- und Sicherheitspolitik dringend handlungsfähiger werden. Nur wer souverän ist, kann sein Schicksal selbst bestimmen. Souveränität wird in Europa gewonnen, wenn wir sie mit anderen teilen. Das geht nur über europäische Integration. Dazu gehört auch, die gemeinsame, europäische Verteidigungspolitik effizienter und effektiver zu gestalten. Ursula von der Leyen hat den Anspruch formuliert, die von ihr geleitete Kommission als „geopolitische“ zu betrachten. Das ist ein ambitionierter Schritt in die richtige Richtung. Um wirklich als glaubwürdiger Akteur wahrgenommen zu werden, müssen wir in Europa eine gemeinsame strategische Kultur aufbauen und stärker als bislang außenpolitisch mit einer Stimme sprechen. Wir müssen unser Schicksal mehr in die eigene Hand nehmen. Daher ist europäische Souveränität das Gebot der Stunde.
Wie kann die Europäische Union dem Anspruch einer eigenen strategischen Kultur gerecht werden?
Im Jahr 2016 hat die Europäische Kommission von Jean-Claude Juncker die „EU Global Strategy“ vorgestellt. Zum ersten Mal wurden die grundlegenden Interessen der EU-Außenpolitik dargelegt und übergeordnete Prioritäten definiert. An der Umsetzung der „EU Global Strategy“ muss weiterhin intensiv gearbeitet werden. Zugleich muss sie mit Blick auf die Covid-19-Pandemie in einigen Feldern angepasst werden. Wenn wir handlungsfähiger werden wollen, gehört dazu, schneller und kohärenter Entscheidungen zu treffen. Das heißt auch, verstärkt zu qualifizierten Mehrheiten bei außenpolitischen Entscheidungen zu kommen. Den von der Bundesregierung vorgeschlagenen Europäische Sicherheitsrat mit wechselnden und rotierenden Besetzungen der Mitgliedstaaten halte ich ebenfalls für ein sinnvolles Instrument, um Entscheidungsprozesse effizienter zu gestalten.
Welche Lehren ziehen die EU-Mitgliedstaaten aus den Ereignissen der Pandemie?
Die Covid-19-Pandemie hat gezeigt, wie fragil Schlüsselinfrastrukturen der EU sind. Sie müssen vor physischen und digitalen Bedrohungen geschützt werden. Auch das gehört zur strategischen Autonomie. Wir müssen in unseren Versorgungsketten mit Blick auf Dienstleistungen, Infrastruktur und Technologie unabhängiger werden. Es geht um das Vorhalten gemeinsamer europäischer Kapazitäten im Gesundheitssektor, um besser auf künftige Pandemien vorbereitet zu sein. Die Mitgliedstaaten der EU sollten stets analysieren: Was ist für uns strategisch relevant? Deshalb muss es ein strategisches Screening geben mit Blick auf Unternehmensübernahmen aus dem Ausland. Diese Krise hat unsere Vorstellungen von Sicherheit und Bedrohungen neu geprägt. Mancherorts wird sie leider auch zu einer Verschärfung bestehender Konflikte führen und ist damit auch eine zusätzliche Belastungsprobe für unsere außen- und sicherheitspolitische Handlungsfähigkeit.
Sie haben vorhin die mögliche Einführung qualifizierter Mehrheitsbeschlüsse anstelle eines einstimmigen Verfahrens bei außen- und sicherheitspolitischen Entscheidungen eingebracht. Heißt das, dass die EU-Mitgliedsstaaten bereit sein müssen, außenpolitische Souveränität abzugeben?
Handelspolitisch ist die EU eine Weltmacht. Wir haben absolute Augenhöhe mit jedem anderen Land auf der Welt. Warum? Weil wir dieses Politikfeld vollständig vergemeinschaftet haben und geschlossen auftreten. Außen- und sicherheitspolitisch boxen wir Europäer weit unter unserer Gewichtsklasse. Wir stehen erst am Anfang einer gemeinsamen europäischen Außen- und Sicherheitspolitik. Die Argumentation, dass man Souveränität aufgibt, wenn man im Rahmen der Europäischen Union Verantwortung teilt, stammt aus vergangenen Zeiten. In der Welt des 21. Jahrhunderts sind alle europäischen Länder vergleichsweise klein. Nur gemeinsam haben wir eine Chance, unsere Werte zu verteidigen und unsere Interessen durchzusetzen. Insofern ist stärkere europäische Zusammenarbeit eine Grundvoraussetzung, um Souveränität, und zwar in Gestalt europäischer Souveränität, bewahren und ausbauen zu können.
Welchen Vorteil hätten qualifizierte Mehrheitsentscheidungen in der europäischen Außen- und Sicherheitspolitik?
Die Einstimmigkeitsregel führt zum niedrigen Niveau des kleinsten gemeinsamen Nenners. Die Einführung qualifizierter Mehrheitsentscheidungen, die es ja in vielen Politikfeldern bereits gibt, setzt zunächst eine einstimmige Entscheidung der Mitgliedstaaten voraus. Man könnte aber in einem ersten Schritt, die bereits bestehenden rechtlichen Möglichkeiten nutzen, zu qualifizierten Mehrheitsentscheidungen zu kommen, beispielsweise bei der Frage der Sanktionen oder der Menschenrechte.
Die Debatte um Belarus hat doch gezeigt: Obwohl man sich in der EU grundsätzlich einig war, Sanktionen gegen das Lukaschenko-Regime zu verhängen, konnte zunächst kein einstimmiger Beschluss aufgrund des Vetos von Zypern erzielt werden. Das ist ein weiterer Beleg dafür, warum wir wenigstens bei den Reaktionen auf Menschenrechtsverletzungen zu qualifizierten Mehrheitsentscheidungen übergehen sollten. Leider wurde die Frage nach Sanktionen gegen das Lukaschenko-Regime mit der Frage vermischt, wie man mit der Türkei umgeht. Das ist ein typisches Beispiel, wie am Ende Einstimmigkeit dazu führt, dass die EU eben nicht so handlungsfähig ist wie das geboten wäre.
Ein Instrument zu mehr strategischer Souveränität der EU ist der Strategische Kompass. Was steckt dahinter?
Die von der Bundesregierung maßgeblich angestoßene Initiative des Strategischen Kompasses ist sinnvoll. Was steckt dahinter? Letztlich soll der Sicherheits- und Verteidigungspolitik der EU eine gemeinsame strategische Richtung gegeben werden. Drei wesentliche Ziele sind im Rahmen der „EU Global Strategy“ identifiziert worden. Erstens brauchen wir eine bessere Reaktionsfähigkeit auf externe Konflikte und Krisen. Zweitens müssen wir effektiver Fähigkeiten und Partnerschaften entwickeln. Und drittens geht es um den Schutz der EU, ihrer Mitgliedstaaten und ihrer Bürger. Mit dem Strategischen Kompass wird ein Prozess initiiert, der das Ambitionsniveau definieren soll: Was können wir leisten und was wollen wir leisten? Es geht darum, der gemeinsamen Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik eine gemeinsame strategische Ausrichtung zu geben. Konkret sollen in einem ersten Schritt die größten Bedrohungen der EU identifiziert werden. Diese gemeinsame Analyse soll bis Ende des Jahres abgeschlossen sein. Darauf aufbauend soll der Rat innerhalb von zwei Jahren ein Dokument annehmen, das als politisch-strategische Orientierung dienen soll.
Gäbe es schon ein Instrument wie den Strategischen Kompass, würde das helfen, dass die EU-Mitgliedsstaaten schneller Einigkeit über Fragen wie Sanktionen für das Lukaschenko-Regime zu beschließen?
Nein. Die Frage nach Sanktionen hat ja weniger eine sicherheitspolitische Bedeutung. Hier geht es um ein deutliches Zeichen der Solidarität mit den Menschen, die friedlich für unsere gemeinsamen Werte demonstrieren, nämlich Demokratie, Rechtsstaatlichkeit sowie Meinungs- und Medienfreiheit. Zudem müssen diejenigen getroffen werden, die in Minsk für maßlose Polizeigewalt und staatliche Brutalität sowie für die offenkundige Manipulation der Präsidentschaftswahlen im August verantwortlich sind.
Bei dem Strategischen Kompass geht es um etwas Anderes. Es soll eine gemeinsame strategische Kultur entwickelt werden. Bisher ist es schwierig, einen gemeinsamen Nenner in der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik zu finden. Denn die nationalen Verteidigungsstrategien der Mitgliedstaaten bieten ein diverses Bild. Ein Land wie Portugal bewertet die Bedrohungslage durch Russland naturgemäß anders als die baltischen Staaten. Auf der anderen Seite gibt es Sicherheitsbedrohungen, die alle EU-Mitgliedstaaten betreffen: Terrorismus, Cyberbedrohungen und organisierte Kriminalität. Dazu zählt auch, wie man mit einer Pandemie sicherheitspolitisch umgehen muss. Der Strategische Kompass soll eine Antwort darauf geben, welche strategischen und militärischen Fähigkeiten wir in Europa in Zukunft brauchen, um konkrete Bedrohungen besser abwenden zu können.
Wie wichtig ist es in diesem Zusammenhang, die europäischen Strukturen der NATO zu stärken?
Als überzeugter Transatlantiker bin ich mir sicher, dass die NATO auch in Zukunft der Eckpfeiler unserer gemeinsamen Verteidigung sein wird. Wenn wir über die Zukunft der Gemeinsamen Verteidigung in Europa sprechen, geht es nicht um Aktivitäten, die im Wettbewerb zur NATO stehen oder gegen sie gerichtet sind. Es geht vielmehr darum, die europäische Säule innerhalb der NATO zu stärken. Eine gegenseitig sich verstärkende und nutzbringende Partnerschaft zwischen NATO und der EU ist von entscheidender Bedeutung. Deshalb habe ich auch die konkreten Fortschritte begrüßt, die sich im Verhältnis beider Organisationen seit der Unterzeichnung der Erklärung von Warschau 2016 und Brüssel 2018 entwickelt haben.
Ist das Framework-Nations-Konzept hier ein gutes Beispiel?
Auch das Framework-Nations-Konzept trägt dazu bei, dass die europäische Säule der NATO gestärkt wird. Die europäischen Mitglieder müssen sich insgesamt bei der Verteidigungszusammenarbeit besser koordinieren. Für uns in Deutschland und für unsere europäischen Bündnispartner heißt das, auch mehr in Verteidigung zu investieren. Es gilt, mehr eigene militärische Fähigkeiten aufzubauen und die Kooperation der Streitkräfte energisch und kreativ voranzutreiben. Wie es die Bundesverteidigungsministerin formuliert: Wir bleiben transatlantisch und müssen gleichzeitig europäischer werden! Diese Entwicklung wird unabhängig vom Ausgang der US-Präsidentschaftswahlen weitergehen.
Streitkräfte müssen im Ernstfall innerhalb kurzer Zeit von Westeuropa beispielsweise ins Baltikum oder nach Polen verlegt werden können. Military Mobility ist daher auch ein Teilprojekt der Ständigen Strukturierten Zusammenarbeit (PESCO). Wie sinnvoll ist dieses Projekt?
Endlich gehen wir seit 2017 mit PESCO, mit dem europäischen Verteidigungsfonds (EDF) und der Coordinated Annual Review on Defence (CARD) effektive Schritte in der gemeinsamen europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik. Das sind Bausteine auf dem Weg zu einer europäischen Verteidigungsunion. An PESCO beteiligen sich 25 von 27 Mitgliedstaaten. Es gilt, die PESCO-Vorhaben mutig weiterzuentwickeln. Hierfür sollten die wirklich strategisch wichtigen Projekte mit einem echten Mehrwert gefördert werden. Dazu gehören beispielsweise die „European Forces Crisis Response Operation Core“ und „European Medical Command“ (EMC), die beide von Deutschland koordiniert werden.
Ersteres dient der Verbesserung der Krisenreaktionsfähigkeit der EU und ihrer Mitgliedstaaten, um im Bedarfsfall militärische Kräfte schnell bereitzustellen. Mit der EMC soll ein gemeinsames und effizientes Management für sanitätsdienstliche Leistungen aufgebaut werden. Ein weiteres wichtiges Element ist das PESCO-Projekt zur militärischen Mobilität, koordiniert mit dem gleichnamigen Aktionsplan der Europäischen Kommission. Military Mobility dient grundsätzlich dazu, die Bewegung von Streitkräften und militärischem Gerät zu erleichtern, indem operationelle und rechtliche Verfahren vereinfacht werden. Zwei wesentliche Schwachstellen sind identifiziert worden, die es zu beheben gilt. Erstens ist die in Europa bestehende Infrastruktur teilweise nicht geeignet für das Gewicht oder die Größe militärischer Güter. Das betrifft vor allem die Tragfähigkeit von Brücken und Schienen. Zum zweiten existieren langwierige und komplizierte rechtliche Verfahren bei der grenzüberschreitenden Verlegung von militärischem Material. Es ist also nicht so einfach, schweres militärisches Gerät von einem niederländischen oder belgischen Nordseehafen nach Polen oder ins Baltikum zu verlegen. Hier macht eine enge Zusammenarbeit zwischen EU und NATO Sinn.
Der Anspruch einer verstärkten europäischen Zusammenarbeit in der Sicherheits- und Verteidigungspolitik ist groß. Schlägt sich das auch bei der Bewilligung finanzieller Mittel nieder?
Bedauerlicherweise wurden die Mittel für dieses wichtige Projekt bei den laufenden Verhandlungen zum mehrjährigen Finanzrahmen der EU für die Jahre 2021 bis 2027 im Vergleich zum ursprünglichen Kommissionsvorschlag gekürzt. Es sollen jetzt, so nach der Verständigung des Europäischen Rates im Juli, nur noch 1,5 Milliarden Euro zur Verfügung stehen. Das sind fast 75 Prozent gegenüber dem ersten Vorschlag. Das halte ich für problematisch, ebenso die Kürzungen beim European Defence Fund.
Lässt sich daran noch etwas ändern?
Der mehrjährige Finanzrahmen wird jetzt verhandelt zwischen den Mitgliedstaaten und dem Europäischen Parlament. Das Europäische Parlament kann nicht, anders als ein nationaler Haushaltsgesetzgeber, einzelne Etatstellen ändern, sondern kann dem mehrjährigen Finanzrahmen nur insgesamt zustimmen oder ablehnen. Mein Eindruck ist, dass die Außen- und Verteidigungspolitiker das Thema ähnlich kritisch sehen. Der jetzige Vorschlag sorgt deshalb für Unverständnis, weil es ja die Mitgliedstaaten selber waren, die den Anspruch formuliert haben, zielgerichtet auf Bedrohungslagen in unserer näheren Umgebung reagieren zu können. Dazu braucht es eine engere militärische Kooperation.
Haben Sie den Eindruck, dass man hier Chancen verpasst?
Wir haben in den vergangenen drei Jahren mehr in der europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik erreicht als in den fast 50 Jahren zuvor. Mit PESCO, mit dem Europäischen Verteidigungsfonds und mit CARD sind sinnvolle Strukturen geschaffen worden. Der Aufbau von gemeinsamen militärischen Fähigkeiten benötigt Zeit. Gerade deshalb müssen wir ambitioniert bleiben. Wer sich für mehr europäische Kooperation stark macht, spricht sich ja nicht nur für ein höheres Maß an Sicherheit aus, sondern auch dafür, Steuergelder effizienter auszugeben. Ein wesentlicher Punkt der europäischen Zusammenarbeit ist es, die Zahl der unterschiedlichen Waffensysteme zu reduzieren und die Entwicklung gemeinsamer militärischer Fähigkeiten und Technologien voranzutreiben.
Wir haben in den vergangenen Jahren bemerkenswertes erreicht, aber dürfen jetzt nicht stehen bleiben. Wenn wir wollen, dass Europa verstärkt sein eigenes Schicksal in die Hände nimmt – und das wird angesichts der geopolitischen Herausforderungen notwendig bleiben – müssen wir die militärische Zusammenarbeit der europäischen Streitkräfte erheblich verbessern und stärker vernetzen auf dem Weg hin zu einer Armee der Europäer.
Wo stehen wir den gerade auf dem Weg zu einer europäischen Verteidigungsunion?
Die EU ist ein „global payer“. Wir sind der größte Geber der internationalen Zusammenarbeit und stemmen mehr als die Hälfte der öffentlichen Entwicklungsfinanzierung weltweit. Darauf sind wir stolz. Wir müssen jetzt aber auch ein „global player“ werden. Die EU muss die Sprache der Macht erlernen, um es in den Worten des Hohen Vertreter der EU für Außen- und Sicherheitspolitik, Josep Borell, zu sagen. Das bedeutet eben auch, dass man über mehr militärische Kapazitäten verfügen muss, um glaubhaft auftreten zu können.
Mehr hard power für die EU, was heißt das?
Europa hat sich den Ruf eines verlässlichen Partners erworben, sei es als vertrauenswürdiger Gesprächspartner in internationalen Foren oder zum Beispiel im Umgang mit dem Iran, bei zivilen Missionen in der Ukraine oder bei Trainingsmissionen in Afrika. Die verstärkte Außen- und Sicherheitspolitik sollte aber nicht nur „soft power“ umfassen, sondern muss auch eine stärkere „hard power“-Komponente haben. Die EU ist ein Projekt des Friedens und hat 2012 den Friedensnobelpreis erhalten. Die EU ist ein Binnenmarkt. Die EU ist eine Wertegemeinschaft und eine Rechtsgemeinschaft geworden. Und nun entwickeln wir uns zu einer Außen-, Sicherheits- und Verteidigungsgemeinschaft. Dazu braucht es eigene europäische Fähigkeiten. Für uns werden immer Diplomatie, Konfliktbeseitigung, Konfliktbewältigung, Prävention und humanitäre Hilfe Vorrang haben. Aber wenn unsere Sicherheit tatsächlich bedroht ist, muss die EU bereit sein, militärische Operationen der Gemeinamen Außen- und Sicherheitspolitik schnell und effektiv durchzuführen. Deshalb bin ich auch dafür, dass diejenigen europäischen Partner, die dazu bereit und fähig sind, eine europäische Eingreiftruppe aufbauen.
Welche Verbindung haben Sie zur Bundeswehr und zum Reservistenverband?
Von 1989 bis 1991 habe ich in der Panzertruppe gedient und fühle mich der Bundeswehr sehr verbunden. Als Niedersächsischer Ministerpräsident früher und jetzt als Abgeordneter des Europäischen Parlaments habe ich oft Bundeswehreinheiten besucht. Größten Respekt habe ich vor den Leistungen unserer Soldatinnen und Soldaten. Den Reservisten kommt eine besondere Rolle zu. Sie sind ein wichtiges Bindeglied zwischen den Streitkräften und der zivilen Gesellschaft. Die Arbeit des Reservistenverbandes schätze ich sehr. Sie prägt die verteidigungs- und sicherheitspolitische Debatte in Deutschland. Auch deshalb bin ich Mitglied im Reservistenverband.
Herr McAllister, vielen Dank für das Gespräch!