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Somalia: Problem-Champion am Horn von Afrika

Seit Jahrzehnten herrscht in Somalia am Horn von Afrika Bürgerkrieg. Nach dem Sturz des Diktators Siad Barre vor knapp 30 Jahren konnte im Land keine funktionierende Staatlichkeit mehr etabliert werden. Damit gehört Somalia zu den so genannten failed states. Das sind Länder, die ihre grundlegenden staatlichen Funktionen nicht mehr erfüllen können, weil sie das Gewaltmonopol verloren haben und dadurch den Schutz der Bürger nicht gewährleisten können. Die Folgen sind Gewalt, Armut und Hunger. Verschärft wird dies von der Klimakrise, islamistischem Terror und lokalen Rivalitäten. Neuerdings verschlimmert der russische An-griffskrieg in der Ukraine die bereits prekäre Versorgungslage in Ostafrika weiter. Wie konnte Somalia so zerfallen und was unternimmt die internationale Gemeinschaft dagegen? Ein Überblick.

(Foto: Abdulhafid Hassan via pexels.com)

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Eigentlich sollte im Februar 2021 sowohl ein neues Parlament als auch ein neuer Präsident in Somalia gewählt werden – die ersten demokratischen Wahlen seit einem halben Jahrhundert. Doch die Wahl wurde kurzfristig abgesagt: Offiziell fehlt es an Geld für die Organisation sowie an benötigten Daten der Wahlberechtigten. Tatsächlich wird jedoch auch der seit Jahren andauernde Machtkampf zwischen Präsident und Ministerpräsident eine Rolle bei der Wahlverschiebung gespielt haben. Zumindest aber ist die Sicherheitslage zu prekär, um die Wahl durchzuführen. Die islamistische Terrormiliz Harakat as-Shabaab al-Mujahidin (arab. „Bewegung der Mudjahidin-Jugend“), kurz as-Shabaab (arab. „die Jugendlichen“), hatte zuvor angekündigt, die Wahl durch Anschläge verhindern zu wollen.

Gewaltbereite Gruppierungen und Nahrungsmittelknappheit bedrohen das Land

Laut dem UN-Sonderbeauftragten für Somalia, James Swan, bleibt as-Shabaab deshalb weiter die größte Bedrohung für die Sicherheit des Landes. Fast wöchentlich kommt es zu Anschlägen mit vielen Toten und Verletzten, auch im Nachbarland Kenia. Die durch die politischen Spannungen und die Wahlverschiebung erodierte Macht der politischen Führung ermöglicht der islamistischen Miliz zudem ihren Einfluss weiter auszubauen. Sie beherrscht vor allem die ländlichen Gebiete in der Mitte und im Süden des Landes und hat sich nahezu überall, außer in der nördlichen Region Puntland, als zweitstärkste Kraft etabliert. Sie treibt Steuern ein, bietet teils verlässlichere Dienstleistungen als die Regierung an und ist fest in der Gesellschaft verwurzelt. Allerdings wird die Organisation auch für den schlagkräftigsten al-Qaida-Ableger weltweit gehalten. Ihr Ziel: Die Gründung eines wahhabitischen islamischen Staates in Somalia.

Neben gewaltbereiten Islamisten sieht sich die Zentralregierung auch mit sezessionistischen Milizen konfrontiert. Im Süden des Landes, in der Provinz Jubaland, kämpfen diese für mehr Unabhängigkeit. Unterstützt werden sie von Kenia, das so die eigenen Grenzen gegen Islamisten schützen will – ein Dorn im Auge der somalischen Zentralregierung. Im Norden des Landes dagegen ist Somaliland mit seinen 4,5 Millionen Einwohnern als autonome Region bereits heute de facto unabhängig. Die von der internationalen Staatengemeinschaft nicht anerkannte Region gilt mit ihrer demokratisch gewählten Regierung sogar als politisch stabil und als Vorbild am Horn von Afrika.

Doch nicht nur gewaltbereite Gruppierungen destabilisieren das Land. Mehrere Regenzeiten sind in Ostafrika – eine Region, in der es schon immer Kämpfe um Wasser gab – ausgefallen. Die Ernten sind auf den Feldern verdorrt und es kam in den letzten Jahren zu mehreren Heuschreckenplagen. Folglich sind Hungersnöte und Nahrungsmittelknappheit allgegenwärtig. Entsprechend liegt die Lebenserwartung in dem ostafrikanischen Land bei rund 52 Jahren, bei einem Durchschnittsalter von gerade einmal 19 Jahren. Dabei weiß die Hälfte von ihnen nicht, wann sie das nächste Mal wieder etwas zu essen bekommen wird. Insgesamt ist Somalia vollständig von Importen abhängig. Die Hauptlieferanten für Grundnahrungsmittel sind Russland und die Ukraine. Bereits jetzt haben sich die Preise wegen des Krieges in der Ukraine verdoppelt. Aushelfen könnte in dieser Situation China, auch mit Krediten, und sich so geopolitischen Einfluss sichern.

Dürren, Nahrungsmittelknappheit und islamistische Gruppierungen treiben die Bevölkerung in zunehmend überfüllte Lager. (Foto: AMISOM Photo/Tobin Jones)

Es sind also nicht nur Krieg und Gewalt, die die Menschen zur Migration zwingen. Dürren und Nahrungsmittelknappheit treibt die Landbevölkerung in die Städte, wo ein Großteil der knapp drei Millionen Binnenvertriebenen in überfüllten Slums lebt. Dazu kommen Hunderttausende außerhalb des Landes, die zumeist in überfüllten Lagern in den Nachbarländern Kenia, Äthiopien und Jemen ausharren. Obwohl diese Staaten selbst mit Krisen zu kämpfen haben, gibt es hier eine lange Tradition der Aufnahme somalischer Flüchtender. Ein Hinweis darauf, wie lange der Krieg am Horn von Afrika schon währt, aber gleichzeitig auch ein Spannungsfaktor in der Region.

Von der Kolonisation über die Diktatur in den Bürgerkrieg

Ein Großteil der politischen Probleme des heutigen Somalias lassen sich, wie in so vielen anderen afrikanischen Staaten auch, auf die willkürliche Grenzziehung europäischer Kolonialherren Ende des 19. Jahrhunderts zurückführen. Damals teilten Briten, Italiener und Franzosen das Stammesgebiet der Somali weitestgehend unter sich auf. Erst im Zuge der Dekolonisation entstand 1960 das heutige Somalia durch Zusammenschluss der britischen und italienischen Kolonialgebiete. Das französische Gebiet wurde zu Djibouti, weitere von den Somali bewohnte Gebiete wurden Äthiopien und Kenia zugeschlagen. Ethnische Spannungen befeuern seitdem immer wieder gewaltsame Konflikte am Horn von Afrika.

Das in die Unabhängigkeit entlassene Somalia war eine parlamentarische Demokratie, doch bereits nach wenigen Jahre putschte sich das Militär an die Macht. Nachdem der Diktator Siad Barre in den ersten Jahren populäre wirtschaftliche und soziale Reformen durchgeführte, ließen Korruption und Repressalien die Autorität des Regimes nach und nach schwinden und führten schließlich zu seinem Sturz 1991. Doch die Befreiung von der Diktatur brachte keinen neuen Aufschwung für die Somalier. Im Gegenteil: Der nun zwischen verschiedenen Warlords, Clans und islamistischen Gruppierungen entbrannte Kampf um die Füllung des Machtvakuums stürzte das Land in der Folgezeit immer tiefer in einen Bürgerkrieg. Dazu kam eine extreme Dürre, die sich durch das Fehlen jedweder staatlichen Ordnung zu einer der größten humanitären Katastrophen der 1990er Jahre ausweitete. Hunderttausende verhungerten, Millionen flohen in die Nachbarländer Äthiopien und Kenia. Unter der Führung der USA intervenierten die Vereinten Nationen. Doch auch mit Waffengewalt gelang es ihnen nicht, Schutz und Versorgung der Bevölkerung wieder herzustellen. Nach drei Jahren gestand sich die internationale Gemeinschaft ihr Scheitern ein und zog wieder ab.

Karte Somalias, mit den Regionen Somaliland und Puntland im Norden und der Hauptstadt Mogadischu im Süden. (Bild: CIA World Factbook)

Von nun an konzentrierte sie sich darauf Friedensgespräche zu führen. Eine geschaffene Zentralregierung konnte sich jedoch nicht durchsetzen, entsprechend wurde keine effektive Staatlichkeit aufgebaut. So gewann der dritte einflussreiche Akteur in Somalia, die islamistischen Gruppierungen, Mitte der 2000er Jahre immer mehr an Einfluss. Unter der Führung der Union Islamistischer Gerichte (UIG), ein politischer und militärischer Zusammenschluss unabhängiger islamischer Gerichte, gelang es ihnen, die unbeliebten Warlords zu vertreiben und die Zentralregierung zurückzudrängen. Auf lokaler Ebene konnten so grundlegende juristische und administrative Strukturen geschaffen werden. Nach mehr als einem Jahrzehnt herrschte in weiten Teilen Somalias wieder Ordnung und Sicherheit.

Internationale Interventionen in Somalia

Die radikalen Kräfte innerhalb der Bewegung gewannen in den folgenden Jahren jedoch immer mehr an Einfluss und die Jugendorganisation der Union entwickelte sich hin zu einer international agierenden Terrormiliz: as-Shabaab. Diese Entwicklung wurde weltweit, vor allem von den USA und Äthiopien, mit großer Sorge beobachtet. Die USA hatten jahrelang unter dem Stichwort „War on Terror eine zweifelhafte Partnerschaft mit den Warlords gepflegt und betrachteten Somalia nun sowohl als möglichen Rückzugs- als auch Ursprungsort des internationalen Terrorismus. Äthiopien fürchtete ein Übergreifen des Islamismus auf die eigene Bevölkerung und eine Annexion seiner mehrheitlich von Somali bewohnten Region Ogaden.

Beide Staaten entschieden sich daher militärisch zu intervenieren. Während die USA im Schwerpunkt Luftschläge gegen as-shabaab durchführten – und dies bis heute tun -, marschierte Äthiopien 2006 in Somalia ein. Den, offiziell zur Unterstützung der Zentralregierung agierenden, äthiopischen Truppen gelang es zwar die UIG zu vertreiben, ihr Vorgehen erzeugte jedoch auch Ressentiments bei den Somaliern und führte zu einer weiteren Radikalisierung der Islamisten. Das Land war erneut destabilisiert. Nach einem Jahr wurde der umstrittene äthiopische Einsatz durch die African Union Mission to Somalia (AMISOM) abgelöst, die bis heute andauert.

Ursprünglich lediglich zur Unterstützung der somalischen Sicherheitskräfte gedacht, trägt AMISOM nun seit über einem Jahrzehnt mit ca. 20.000 Soldatinnen und Soldaten die Hauptlast bei der Bekämpfung as-Shabaabs und dem Schutz der Bevölkerung. Im vergangenen Jahr sollte die Mission zurückgefahren werden, doch es kam zur erwähnten Verschiebung der Wahl und ohne geordnete politische Verhältnisse und schlagkräftige somalische Sicherheitskräfte ist ein Abzug unmöglich. Darüber, wie es nun mit der Mission weitergehen soll, berät derzeit der UN-Sicherheitsrat. Doch die europäischen Geldgeber sind über den Verlauf der Mission frustriert und Truppensteller ziehen ihre Soldatinnen und Soldaten bereits zu anderen Einsätzen ab.

Die somalische Bevölkerung ist, wie hier in Beledweyne, auf internationale Nahrungsmittellieferungen angewiesen. (Foto: AMISOM Photo/Tobin Jones)

Neben der Mission der Afrikanischen Union gibt es weitere, europäische Missionen im Land. Die prominenteste, die EU-Mission Atalanta, wurde 2008 als erster maritimer Einsatz der EU ins Leben gerufen. An ihm beteiligte sich in der Vergangenheit auch die Bundeswehr mit bis zu 300 Soldatinnen und Soldaten. Ziel dieser Mission ist es, sowohl die Seegebiete rund um das Horn von Afrika als Haupthandelsroute zwischen Europa, der Arabischen Halbinsel und Asien zu sichern als auch Piraterie und Schmuggel zu unterbinden. Sie ist aber auch entscheidend für die humanitäre Hilfe in der Region.

Somalia braucht weitere internationale Hilfe und endlich eine tatkräftige Regierung

Die durch die angesetzten Wahlen erzeugte Aufbruchstimmung in Somalia kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass sich die Situation am Horn von Afrika stetig verschlechtert. Nicht zuletzt tragen dazu auch der Bürgerkrieg in der Region Tigray im benachbarten Äthiopien und der fortwährende Streit mit dem südlichen Nachbarn Kenia bei. Die dauerhafte internationale (militärische) Hilfe konnte nicht zu einem Staatsaufbau beitragen. Von dieser instabilen Lage profitiert in erster Linie die islamistische Miliz as-Shabaab, die versuchen wird ihren Einfluss weiter auszubauen. Gleichzeitig verschiebt sich die Aufmerksamkeit der internationalen Gemeinschaft aber auf andere Krisenherde in der Welt.

Darunter leidet insbesondere die weitestgehend mittellose Bevölkerung. Bereits vor der Covid-19-Pandemie und dem russischen Angriffskrieg in der Ukraine gab es Versorgungsengpässe in dem ostafrikanischen Staat. Nun ist davon auszugehen, dass die Lebensmittelpreise weiter steigen werden, und durch den Klimawandel werden Hungerursachen wie Überschwemmungen, Dürren oder Insektenplagen zukünftig immer häufiger und plötzlicher eintreten und sich nicht mehr langsam anbahnen. Für Risikomanagement und Notfallvorsorge bräuchte es aber eine funktionierende Regierung, die die Probleme der Bevölkerung bewusst angeht und nicht nur im eigenen oder im Interesse des Clans handelt. Die Chance zur Bildung einer solchen Regierung haben die politischen Eliten im vergangenen Jahr mit der Verschiebung der Wahl jedoch erstmal verstreichen lassen. Es ist also anzunehmen, dass sich weder im gewaltsamen Konflikt noch in der humanitären Notlage zeitnah eine Besserung zeigen wird. Im Gegenteil: Ganz Ostafrika und insbesondere Somalia stehen aufgrund des Konfliktes in der Ukraine vor einer großen humanitären Katastrophe und entsprechend weiter vor gewaltigen Herausforderungen. Entsprechend muss die internationale Gemeinschaft handeln.

 

Autoren:

Emma Nentwig (23) studiert Politikwissenschaft und Arabistik an der Friedrich-Schiller-Universität Jena, wo sie seit zwei Jahren im Vorstand der Hochschulgruppe des BSH tätig ist.

Philipp Rieth (24) studierte Wirtschaft und Recht an der Westfälischen Wilhelms-Universität in Münster, wo er im BSH aktiv war. Derzeit befindet er sich in der Ausbildung zum Reserveoffizier.

 

Literaturtipps: 


Dieser Text stammt aus dem Sicherheitspolitischen Newsletter des Sachgebietes Sicherheitspolitische Arbeit. Diesen können Sie hier abonnieren.

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