Strategische Selbstfindung
Die aktuellen Ereignisse in unserer unmittelbaren Nachbarschaft und darüber hinaus zeigen, dass mehr gemeinsames auswärtiges Handeln der Europäischen Union geboten ist. In diesem Jahr müssen wegweisende Fortschritte gemacht werden, um in europäischen Sicherheits- und Verteidigungsfragen voranzukommen – ein Gastbeitrag von David McAllister.
Die Machtübernahme der Taliban in Afghanistan im Sommer 2021 hat die Defizite der EU in der Verteidigungs- und Sicherheitspolitik schmerzlich offenbart. Die anhaltenden Instabilitäten in unserer unmittelbaren Nachbarschaft in Belarus und in der Ukraine zeigen, dass unsere Staatengemeinschaft gegen militärische Aggressionen, Desinformationen, Cyberangriffe und illegalen Menschenhandel besser gerüstet sein muss. Die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts erfordern ein effizienteres und effektiveres außen- und sicherheitspolitischen Engagement. Nur so kann die EU ein effektiver geopolitischer Akteur in einer durch Konkurrenz geprägten Welt werden.
Ein weiterer Schritt hin zu diesem Ziel ist der neue Strategische Kompass der Europäischen Union. Während der deutschen Ratspräsidentschaft 2020 ins Leben gerufen, soll er die sicherheits- und verteidigungspolitische Richtung der EU in den nächsten fünf bis zehn Jahren vorgeben. Im November 2021 hat der Europäische Auswärtige Dienst (EAD) einen ersten 28-seitigen Entwurf des Strategischen Kompasses vorgestellt. Es ist das Zwischener-gebnis eines mehrstufigen Prozesses. Dieser begann mit einer gemeinsamen Bedrohungsanalyse aller 27 EU-Mitgliedstaaten. Zum ersten Mal hat die EU eine allumfassende 360-Grad-Bestandsaufnahme von Risiken unter Einbindung der nationalen Nachrichtendienste gegeben. Die Bedrohungsanalyse greift ein breites Spektrum politischer und wirtschaftlicher sowie militärischer, als auch hybrider Risiken auf, mit denen sich die EU und ihre Mitgliedstaaten in den nächsten zehn Jahren konfrontiert sehen. Es ist der grundlegende Baustein, um ein gemeinsames europäisches Verständnis für die aktuelle Bedrohungslage zu entwickeln. Auf dieser Basis hat der EAD im ersten Halbjahr 2021 einen Dialogprozess initiiert, an dem sich alle 27 Mitgliedstaaten beteiligen konnten. Ziel ist, dass zunächst der Rat und schließlich die Staats- und Regierungschefs den Strategischen Kompass auf ihrer Tagung am 24. und 25. März 2022 annehmen.
Konsens finden zur strategischen Kultur
Mit dem Strategischen Kompass geht es im Kern darum, auf Basis einer gemeinsamen Vision über Bedrohungen, Risiken und eigene Fähigkeiten das Ambitionsniveau der EU in der Sicherheits- und Verteidigungspolitik — einschließlich des zivilen Schutzes — zu präzisieren. Die EU Global Strategy aus dem Jahr 2016 hatte zwar drei übergeordnete Prioritäten in der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik festgelegt. Allerdings ist es bislang nicht gelungen, die Schwerpunkte Krisenmanagement, Fähigkeitenaufbau und Schutz Europas in konkrete Maßnahmen umzusetzen. Bis dato ist die praktische Bedeutung dieser übergeordneten Ziele immer sehr vage geblieben.
Während Nationalstaaten ihre strategische Kultur aus historischen Erfahrungen schöpfen, muss die Europäische Union ihre eigene in der Praxis konsensbasiert schaffen. Der Strategische Kompass ist demnach darauf angelegt, einen Prozess der strategischen Selbstfindung für die operationelle Dimension der europäischen Sicherheitsvorsorge und Verteidigung zu schaffen. Es geht darum, eine Lücke zwischen abstrakten Strategien und konkreten Instrumenten zu schließen.
Der Entwurf des Strategischen Kompasses ist in vier „baskets“ (Körbe) unterteilt. Mit den ersten beiden Körben Krisenmanagement und Resilienz wird zunächst die Frage beantwortet, was die Mitgliedstaaten können wollen. Mit den Kapiteln Fähigkeiten und Partnerschaften wird beschrieben, wie die EU ihre Ambitionen erfüllen will. So gibt der Strategische Kompass einen klaren Fahrplan vor, welche zusätzlichen Maßnahmen und Investitionen in den nächsten fünf bis zehn Jahren benötigt werden. Deutlich ist die veränderte europäische Sicht auf internationale Partner und Konkurrenten. Während die EU Global Strategy im Jahr 2016 eindeutig auf die Soft Power Europas abstellte, priorisiert der Strategische Kompass nun zusätzlich die Hard-Power-Aspekte der gemeinsamen Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik.
Lehren aus dem Afghanistan-Einsatz
Beim Krisenmanagement gilt es, eine klare Trennlinie zwischen den Aufgaben der NATO und der EU zu ziehen. Die NATO ist und bleibt für die klassische Bündnisverteidigung zuständig. Der Strategische Kompass könnte dazu dienen, Klarheit zu schaffen, ob und wenn ja, wann und warum die EU militärische Interventionen durchführt. Ebenso ist festzulegen, unter welchen Umständen wir Missionen beenden. Das sollte eine Lehre aus dem Afghanistan-Einsatz sein. Dort, wo unsere Interessen direkt berührt sind, muss die EU eine führende Rolle übernehmen, falls erforderlich auch, wenn die NATO dafür nicht bereit ist. So sind maritime Bedrohungen ein wesentlicher Bestandteil des Dokuments, da sie unmittelbare Auswirkungen auf Handelswege und Konnektivität haben. Aus diesem Grund sieht der Strategische Kompass vor, die koordinierte maritime Präsenz der EU auf weitere Interessengebiete auszuweiten — beginnend mit dem Indopazifik. Es geht darum, unsere Partnerschaften mit den Staaten in dieser Region zu stärken und uns als relevanter Sicherheitsakteur zu etablieren.
Besondere Aufmerksamkeit hat die EU-Schnelleingreifkapazität (EU Rapid Deployment Capacity) erfahren. Hierbei handelt es sich um einen Vorschlag, eine neue modulare europäische Eingreiftruppe aufzubauen, die bis zu 5.000 Soldaten umfasst und bis 2025 einsatzfähig sein soll. Je nach Bedarf kann die Truppe Land-, Luft- und Seekomponenten enthalten. Es gilt, aus der Vergangenheit zu lernen. Die Mitgliedstaaten sollten sich in einem ersten Schritt auf die Umstände einigen, die die Mobilisierung einer derartigen Truppe erforderlich machen. Seit mehr als 15 Jahren verfügt die EU über Battle Groups, ohne dass sie jemals zum Einsatz gekommen sind. Das ist insbesondere auf den fehlenden politischen Konsens zurückzuführen. Neue Kapazitäten zu entwickeln, muss einen echten und konkreten Mehrwert bieten.
Schutz der Menschen steht im Mittelpunkt
Die eigentliche Erweiterung von Bedrohungsszenarien im Vergleich zur Global Strategy findet mit Blick auf hybride sicherheitspolitische Aspekte statt. Hier stellt der Strategische Kompass den Schutz der Menschen in den Mittelpunkt, beispielsweise durch den Ausbau der Cyberverteidigung. So ist Ziel, einen voll einsatzfähigen gemeinsamen Cyberstab zu schaffen und darüber hinaus einen neuen europäischen Rechtsakt zur Cyber-Resilienz zu verabschieden. In diesem Zusammenhang ergäbe sich auch die Gelegenheit, eine gemeinsame Verständigung über die Beistandsklausel (Artikel 42 Absatz 7 EUV) und die Solidaritätsklausel (Artikel 222 EUV) zu erzielen, um im Falle eines Cyberangriffs Klarheit zu haben. Bislang wurden die Modalitäten der erforderlichen Unterstützung nie klar festgelegt.
Das Europäische Parlament hat am 16. Februar den jährlichen Bericht zur Umsetzung der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) mit breiter Mehrheit beschlossen. Vier wesentliche Forderungen stellte das Parlament dabei auf: Erstens der Strategische Kompass muss nach seinem Abschluss einen erheblichen Mehrwert für die GASP der EU und für die Solidarität zwischen den Mitgliedstaaten haben. Er darf keine bloße Auflistung von Bedrohungen und Herausforderungen sein, denen die EU und ihre Mitgliedstaaten gegenüberstehen. Zweitens müssen bestehende und künftige Kapazitätslücken auf institutioneller Ebene und auf der Bestandsebene ermittelt werden. Der Strategische Kompass muss einen klaren Fahrplan zur Schließung dieser Lücken enthalten. Drittens muss das Europäische Parlament, federführend der Auswärtige Ausschuss, in den Umsetzungsprozess des Kompasses eingebunden werden. Um die demokratischen Rechenschaftspflichten zu erfüllen, sollten die Fortschritte regelmäßig einer parlamentarischen Debatte unterzogen werden. Viertens müssen der Strategische Kompass der EU und das strategische Konzept der NATO aufeinander abgestimmt sein und eine bessere und klar formulierte Aufgabenteilung beider Organisationen widerspiegeln.
Politischer Wille ist entscheidend
Der Strategische Kompass ist kein Allheilmittel. Bewertet an den politischen Hürden, welche die europäische Sicherheits- und Verteidigungszusammenarbeit in der Vergangenheit überwinden musste, präsentiert er sich gleichwohl als vielversprechender Ansatz. Er gibt der Vielzahl von Initiativen, die in den vergangenen Jahren eingeleitet wurden, eine klare Zukunftsperspektive. Entscheidend wird der echte politische Wille der Mitgliedstaaten sein, die vorhandenen Instrumente effektiv zu nutzen. Wie es der Hohe Vertreter der EU für Außen- und Sicherheitspolitik, Josep Borrell, formuliert hat: „If you want dialogue, diplomacy and multilateralism to succeed, you need to put power behind it. (Wenn Sie möchten, dass Dialog, Diplomatie und Multilateralismus erfolgreich sind, muss man ihnen die notwendige Kraft geben).“