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„Unruheherd“ Irak: Was passiert nach dem Abzug der USA?

Im März 2020 begannen die Vereinigten Staaten mit dem Teil-Abzug ihrer Truppen aus dem Irak. Einen Monat später haben amerikanische Streitkräfte bereits vier Militärbasen an die irakische Armee übergeben. Es folgten die Übergabe weiterer Stützpunkte und eine deutliche Reduzierung der Truppenpräsenz. Aufgrund der Zunahme an Anschlägen des Islamischen Staats (IS) fanden 2021 neue Sicherheitsgespräche zwischen den USA und dem Irak statt. Hierbei verkündete US-Präsident Joe Biden den Abzug aller Kampfeinheiten zum Jahreswechsel. Amerikanische Soldaten im Irak sollen künftig ausschließlich militärisch beraten und trainieren. Eine Entscheidung mit weitreichenden Auswirkungen auf den politisch instabilen Irak?

(Foto: Staff Sgt. Jacob N. Bailey, U.S. Air Force)

irakIranUSA

Die Diskussion um einen Rückzug der Vereinigten Staaten aus dem Irak ist nicht neu. So haben bereits 2011 alle US-Truppen das nahöstliche Land verlassen, wodurch der 2003 begonnene Irak-Krieg formell beendet wurde. Nach dem Sturz des diktatorischen Regimes von Saddam Hussein wurde eine parlamentarische Demokratie und ein föderaler Staat geschaffen. Seitdem wird die Politik des Landes von schiitischen Arabern dominiert. Diese stellen fast zwei Drittel der Bevölkerung. Sunnitische Araber und die im Norden des Landes beheimateten Kurden sind die größten Minderheiten. Die meisten Kurden sind sunnitische Muslime, während ein kleiner Teil der Glaubensgemeinschaft der Jesiden anhängt.

Nach dem US-Truppenabzug 2011 flammten die Spannungen zwischen den Völkern und Konfessionen wieder auf. Die politische Gewalt nahm erheblich zu. Militante sunnitische Gruppen bestehend aus Anhängern des Saddam-Regimes und radikalen Islamisten verübten verstärkt Anschläge auf staatliche Institutionen. Der dschihadistischen Terrororganisation IS gelang es, ranghohe Mitglieder dieser Gruppen und desertierte Soldaten für sich zu gewinnen. Ab 2013 konnte die Miliz erfolgreich westliche und nördliche Gebiete des Landes erobern. Die irakische Armee war hoffnungslos überfordert. Auf Bitte der Regierung erfolgte eine erneute amerikanische Intervention. In Zusammenarbeit mit Partnerländern konnte der IS vier Jahre später in den Untergrund vertrieben werden.

Spirale der Gewalt und Instabilität

Nach dem militärischen Sieg über den IS 2017 kam der Irak weiterhin nicht zur Ruhe. Die neue, nach Kriegsbeginn gebildete Regierung unter Premierminister Haider al-Abadi sorgte zunächst für eine gesellschaftliche und politische Entspannung. So zeichnete sich das Kabinett durch eine breitere religiöse und ethnische Aufstellung aus. Die öffentliche Meinung vieler arabischer Sunniten wechselte von der Unterstützung radikaler Paramilitärs zugunsten der neuen Regierung. Gleichwohl trugen der IS und seine Verbündeten mit sporadischen Attentaten zur dauerhaften Destabilisierung bei.

Die Auswirkungen des Krieges gegen die Terrororganisation waren in vielerlei Hinsicht verheerend für den Irak. Zum einen befand sich das Land gerade einmal zehn Jahre nach der US-Invasion wieder in einem militärischen Konflikt. Der Krieg von 2013 bis 2017 zeichnete sich aufgrund der Brutalität des IS durch eine enorme Zerstörung und hohe Anzahl an zivilen Opfern aus. Schätzungen zufolge belaufen sich die Zahlen auf rund 70.000 Tote. Allein der Völkermord des IS an kurdischen Jesiden kostete 5.000 Menschen das Leben. Die großflächige Verwüstung zerstörte die Wirtschaft und führte zu mehr als sechs Millionen Binnenflüchtlingen. Betroffen davon waren vor allem die kurdischen Gebiete im Norden.

Die kurdische Minderheit lebt im Norden. Zentren sind die Städte Erbil und Kirkuk. (Bild: CIA World Factbook)

Die Entspannung der politischen Lage durch die Regierung al-Abadi währte nicht lange. So scheiterten die angestrebten politischen Reformen 2016 am Widerstand schiitischer Parteien. Im Zuge der Proteste stürmten radikal-schiitische Demonstrierende das Regierungsviertel. Das Parlament musste seine Arbeit unterbrechen und in der Hauptstadt Bagdad galt temporär der Notstand. Nach der Normalisierung der Lage konnte al-Abadi ein Jahr später den Sieg über den IS verkünden. Dennoch zeichnete ein Scheitern der Regierung und eine Krise des politischen Systems ab. Notwendige Wirtschaftsreformen und der Kampf gegen die hohe Korruption blieben auf der Strecke. Die von Wahlfälschungsvorwürfen begleitete Parlamentswahl 2018 brachte die größte Zersplitterung der irakischen Parteienlandschaft mit sich. Erst nach fünf Monaten einigten sich die Parteien auf Adil Abdul-Mahdi als neuen Premierminister.

Einflussnahme von außen und Massenproteste

Die Ergebnisse der Parlamentswahl 2018 waren Ausdruck der Unzufriedenheit über die soziale und politische Lage. Eine wichtige Rolle spielte die zunehmende ausländische Einflussnahme auf den Irak seit dem Krieg gegen den IS. Die erneute Präsenz amerikanischer Streitkräfte nach der zuvor achtjährigen Besatzung erfolgte auf Bitte der irakischen Regierung. Der Einsatz der US-Truppen war aus militärischer Sicht unabdingbar, aber gesellschaftlich umstritten. Einerseits wurde die amerikanische Unterstützung zur Befreiung vom IS vielerorts begrüßt, vor allem in kurdischen und schiitischen Gebieten. Auf der anderen Seite war und ist der Wunsch nach einem irakischen Staat, der politisch und militärisch unabhängig agieren kann, in der Bevölkerung sehr groß.

Der Kampf gegen den IS hat auch den Einfluss des schiitischen Irans auf den Irak erheblich erhöht. Das Nachbarland unterstützte die irakischen Streitkräfte und Schiiten-Milizen mit Waffen. Amerikanischen Quellen zufolge habe der Iran neben Luftangriffen auf IS-Stellungen auch eigene Soldaten entsendet, was die iranische Regierung zurückwies. Des Weiteren nahmen Beobachter an, dass die Militärkoalition zwischen Russland, Syrien, Iran und Irak auf den iranischen General Qasem Soleimani zurückgehe. Der Kommandeur der Elitetruppe „Quds“ trug als Koordinator militärischer und politischer Operationen maßgeblich zum stärkeren Einfluss auf den Irak bei. Diese Entwicklung war nicht in der gesamten irakischen Bevölkerung beliebt.

Ende 2019 brach der Unmut vieler Menschen im Irak aus. Vor allem in den zentralen und südlichen Provinzen kam es zu Massenprotesten. Diese richteten sich gegen die hohe Arbeitslosigkeit und Korruption sowie gegen die militärische Präsenz und politische Einmischung der USA und des Irans. Zudem sprachen sich die Demonstrierenden für ein säkulares politisches System und Wahlrecht aus. Das brutale Vorgehen irakischer Sicherheitskräfte gegen die Proteste kostete hunderte Menschenleben. Abdul-Mahdi trat als Premierminister zurück und Mustafa Al-Kadhimi nahm 2020 seine Position ein. Das Parlament beschloss ein neues Wahlrecht, dass politisch Unabhängigen mehr Chancen einräumen soll.

Eskalation am Flughafen

Wenige Monate vor den irakischen Massenprotesten kam es zur Zuspitzung der amerikanisch-iranischen Spannungen am Persischen Golf. Auslöser war die vom damaligen US-Präsidenten Donald Trump beschlossene Erhöhung der Militärpräsenz in der Region im Mai 2019. Ziel war der Schutz amerikanischer Einheiten und Interessen gegen iranische Angriffe. Zudem kündigte Trump das iranische Atomabkommen auf und reaktivierte die Sanktionen gegen den Iran. Die USA machten das Land für Attacken auf ausländische Frachtschiffe im Persischen Golf und den Abschuss einer Drohne verantwortlich. Iranische Kampfeinheiten besetzten einen irakischen Öltanker und führten Raketen- und Drohnenangriffe auf saudische Erdölfabriken aus.

Der von politischer Instabilität geprägte Irak entwickelte sich zusehends zum Schauplatz dieses Konflikts. Den Raketenangriff auf einen Luftwaffenstützpunkt im Norden schrieb die US-Regierung einer Iran-nahen Miliz zu. Dabei starb ein amerikanischer Militärberater. Vier amerikanische Servicemitarbeiter und zwei irakische Sicherheitskräfte wurden verwundet. Die USA antworteten im Dezember mit landesweiten Luftangriffen auf Waffendepots und Stellungen der Paramilitärs. Die irakische Regierung und Armee verurteilten die US-Bombardierungen, über die sie vorab nicht informiert waren. Pro-iranische Milizen und Unterstützer attackierten daraufhin die US-amerikanische Botschaft in Bagdad. Washington machte den Iran dafür verantwortlich und erhöhte sein Militäraufgebot vor Ort.

Die Spannungen eskalierten im Januar 2020. Mit einer gezielten Drohnenattacke töteten die USA den iranischen General Soleimani auf dem Bagdader Flughafen. Dabei starben auch zwei Milizenführer und sieben Zivilisten. Soleimani galt als zweitmächtigste Person des Irans und Hauptverantwortlicher der militärischen Aktionen. Die iranische Führung verurteilte den Anschlag und antwortete mit zwei Luftangriffen auf US-Stützpunkte im Irak. Für die USA stellte die Aktion eine notwendige Vergeltungs- und Schutzmaßnahme dar. Der Irak hingegen sah darin eine Verletzung seiner nationalen Souveränität und forderte den Abzug aller ausländischen Streitkräfte.

Erneuter Rückzug der USA

Der Luftangriff auf den Bagdader Flughafen verstärkte den Wunsch der irakischen Regierung nach dem erneuten Abzug aller US-Truppen. Die entsprechende Forderung lehnte US-Präsident Trump zunächst ab. Ab März 2020 kam es dennoch zu den ersten Übergaben von Militärstützpunkten an die irakische Armee. Die Covid-19-Pandemie und die Zunahme an Attacken pro-iranischer Milizen beschleunigten die Transfers. Im Juni begannen beide Länder mit Sicherheitsgesprächen über die künftige militärische, politische und wirtschaftliche Zusammenarbeit. Die Zahl amerikanischer Streitkräfte wurde bis Ende des Jahres von 5.200 auf 2.500 reduziert.

Irakische Streitkräfte bei einer Parade (Foto: Tommy Avilucea, U.S. Air Force)

Trotz des partiellen Abzugs der US-Truppen beruhigte sich die Situation im Irak nicht. Ein Selbstmordattentat des IS auf einem Markt in Bagdad im Januar 2021 kostete 32 Menschen das Leben und verletzte 110. Nur einen Monat später führten Iran-nahe Milizen Raketenangriffe auf eine US-Militärbasis am Flughafen im nördlichen Erbil durch. Mit zwei Toten und mehreren Verletzten handelte es sich um die schwerste Attacke auf die amerikanische Militärkoalition seit einem Jahr. Während die Anschläge schiitischer Paramilitärs abnahmen, kam es zu vermehrten Attacken durch den IS. Die instabile Lage des Landes verdeutlicht der Platz 20 von 179 auf dem „Fragile States Index 2021“.

Die Proteste im Irak ebbten bis Mitte des Jahres ab. An der schlechten sozialen Situation der Bevölkerung hatte sich wenig geändert. Auch die Forderung nach dem Abzug aller US-Streitkräfte hatte sich nicht erfüllt. Im April startete der neu gewählte US-Präsident Joe Biden einen Sicherheitsdialog mit der irakischen Regierung. Hierbei wurde vereinbart, dass der amerikanische Kampfeinsatz Ende Dezember offiziell beendet werde. Schätzungen zufolge bleiben jedoch weiterhin rund 2.500 US-Soldaten im Irak. Diese sollen als militärische Trainer und Berater die irakischen Streitkräfte unterstützen. Eine minimale US-Präsenz sei notwendig, um den IS im Untergrund zu halten und den Einfluss pro-iranischer Paramilitärs zu minimieren.

Parlamentswahl 2021 und Ausblick

Die große Unzufriedenheit der irakischen Bevölkerung zeigte sich bei der vorgezogenen Parlamentswahl im Oktober 2021. Die Wahlbeteiligung war mit 41 Prozent historisch niedrig. Deutliche Verluste musste die Iran-nahe Fatah-Allianz hinnehmen, die den radikalen Schiiten-Milizen nahesteht. Sie sprachen wie andere pro-iranische Parteien von einer Wahlmanipulation. Als stärkste Kraft mit 73 von 329 Sitzen ging die Partei des populistischen, schiitischen Klerikers Muktada al-Sadr hervor. Seine politische Bewegung gilt als Königsmacher. Der Geistliche warnte andere Staaten vor einer Einmischung in die Regierungsbildung. Dies richtete sich unmissverständlich an die USA und den Iran.

Der Irak hat bis heute keine neue Regierung. Seit Februar 2022 hat das Land auch keinen neuen Präsidenten, da die Mehrheit der Abgeordneten die Wahl boykottierte. Da das repräsentative Staatsoberhaupt offiziell den Regierungschef ernennt, verstärkt sich die politische Krise. Ohne eine neu gewählte Regierung können notwendige Wirtschaftsreformen und der Kampf gegen Korruption nicht umgesetzt werden. Hinzu kommt die Unsicherheit, wie sich die Sicherheitslage nach dem Abzug der US-Kampftruppen entwickeln wird. Das Aufflammen großer Proteste oder eines neuen Krieges ist nicht ausgeschlossen. Der Irak kommt weiterhin nicht zur Ruhe.

 

Literaturtipps:

 


Dieser Text stammt aus dem Sicherheitspolitischen Newsletter des Sachgebietes Sicherheitspolitische Arbeit. Diesen können Sie hier abonnieren.

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