Von Afghanistan nach Europa: Warum der islamistische Terror zurück ist
„The Islamic State’s branch in Afghanistan is at war with the world“, titelte ein Artikel des Nachrichtenmagazins The Economist vom 27. März 2024. Internationale Bekanntheit erlangte die Terrorgruppe durch den Anschlag in der Moskauer Vorstadt Krasnogorsk wenige Tage zuvor. Dabei kämpft der „Islamische Staat – Khorasan-Provinz“ bereits seit Jahren gegen die ebenfalls sunnitisch-islamistischen Taliban in Afghanistan und verübt Attentate in Nachbarstaaten. Mit dem Anschlag in Krasnogorsk ist der regionale IS-Ableger nun auch in Europa in Erscheinung getreten. Zudem haben seine Erfolge Anhänger des Islamischen Staates weltweit zu neuen Attentaten motiviert, wie die Messerattacke in Solingen Ende August 2024 gezeigt hat. Wie kann sich Europa in Krisenzeiten gegen die Renaissance des Terrors wappnen?
Ein Deal mit Folgen: Im Februar 2020 unterzeichneten die Vereinigten Staaten unter Donald Trump einen Friedensvertrag mit den Taliban. Hierbei wurde der schrittweise Abzug aller NATO-Streitkräfte vereinbart. Im Gegenzug stellten die Taliban die Kampfhandlungen gegen die westlichen Alliierten ein. Stattdessen fokussierten sie sich auf den Kampf gegen die afghanische Armee und nahmen im August 2021 die Hauptstadt Kabul ein. Was folgte war der Zusammenbruch der demokratischen Republik. Die Taliban stellten ihr selbsternanntes „Islamisches Emirat“, das von 1996 bis 2001 bestand, wieder her. Afghanistan steht seitdem unter Kontrolle einer totalitären und islamistischen Regierung, die die islamische Gesetzgebung „Scharia“ brutal durchsetzt. Das bedeutet: Keine politischen Freiheiten sowie die Diskriminierung von Frauen, Nicht-Muslimen und islamischen Minderheiten wie Schiiten.
Islamisten gegen Islamisten
2015 stand der sogenannte „Islamische Staat“ (IS) auf dem Höhepunkt seiner Macht. Weite Teile Syriens und Iraks standen unter seiner Kontrolle. Als de-facto-Staat führte der IS den Völkermord an den Jesiden, Kriegsverbrechen gegen Teile der Bevölkerung und die Zerstörung antiker Kulturgüter durch. Die 1999 gegründete Terror-Organisation kämpfte gegen die US-Streitkräfte im Irak und ihre Verbündeten. Der IS war von 2004 bis 2013 mit al-Qaida alliiert, deren Anführer Osama bin Laden in Afghanistan und später in Pakistan untertauchte. Seit der Trennung bekämpfen sich beide sunnitisch-extremistischen Gruppierungen. IS-Anführer Abu Bakr al-Baghdadi rief 2014 das Kalifat aus und nahm eigenmächtig die politisch-religiöse Führung des Islams und Nachfolge des Propheten Mohammeds in Anspruch. Nach dem Verlust seines Kerngebiets 2019 konzentriert sich die Terror-Organisation auf weltweite Anschläge und Guerilla-Kämpfe in der islamischen Welt.
In Süd- und Zentralasien waren zu Zeiten der Hochphase des IS mehrere islamistische Gruppierungen, darunter al-Qaida und die Taliban, aktiv. Aufgrund ihrer ideologischen Überschneidungen kooperierten viele der Gruppen miteinander, waren aber nicht immer geeint. Dies änderte sich mit dem Erfolg des IS im Nahen Osten, der als Anlass zur Vereinigung von Gruppen in Zentralasien genommen wurde. Der 2015 entstandene „Islamische Staat – Khorasan-Provinz“ (ISKP) rekrutierte seine Kämpfer zunächst aus der afghanischen und pakistanischen Taliban sowie aus dem mit al-Qaida alliierten Haqqani-Netzwerk. Nach und nach schlossen sich weitere Gruppierungen an. Hierzu zählen unter anderem die „Islamische Bewegung Usbekistan“ und „Jamaat Ansarullah“ in Tadschikistan.
Obwohl ideologisch nahe stehend und teilweise daraus entstanden, bekämpft der ISKP von Beginn an al-Qaida und andere in Zentralasien aktive islamistische Gruppen. So ging man in Afghanistan nicht nur gegen NATO-Streitkräfte und ihre Verbündeten, sondern auch gegen die Taliban vor. Nach der Machtübernahme der Taliban liefen einige Mitglieder des Geheimdienstes und der Armee zum regionalen IS-Ableger über. Die Gruppe nahm eine Guerilla-Taktik an und fokussiert sich auf Anschläge in der Region. Vor allem Moscheen und Schulen sind beliebte Ziele. Daneben war sie für den Angriff auf den Kabuler Flughafen im August 2021 mit 180 Todesopfern verantwortlich. Auch das Selbstmordattentat im Nordwesten Pakistans im Juli 2023 mit über 60 Toten geht auf den ISKP zurück.
Terroranschläge des Islamischen Staats
Der Islamische Staat führt seit seiner Gründung auch Angriffe in Europa durch. So war die Terror-Organisation unter anderem für die Attentate in Paris 2015, in Istanbul und Berlin 2016 sowie in Barcelona 2017 verantwortlich. 2024 haben die Anschläge des IS weltweit wieder deutlich zugenommen. Dies ist vor allem auf den ISKP, den stärksten Regionalableger, zurückzuführen. So geht das Selbstmordattentat in der iranischen Stadt Kerman im Januar 2024 mit über 100 Toten auf die Gruppierung zurück. Nur einen Monat später führte der ISKP zwei Anschläge in der pakistanischen Region Belutschistan mit mehr als 30 Todesopfern durch.
Der ISKP beschränkt sich nicht mehr auf seine Heimatregion. Dies hat der Terrorakt auf die „Crocus City Hall“ in der Moskauer Vorstadt Krasnogorsk im März 2024 unter Beweis gestellt. Durch Schüsse und Brandattacken kamen 145 Menschen ums Leben, über 550 wurden verletzt. Unmittelbar nach dem Attentat folgte das Bekennerschreiben des ISKP. Als Motive gaben die Islamisten die Tschetschenien-Kriege sowie die russischen Militäreinsätze in Syrien und afrikanischen Staaten an. Die vier Täter kamen aus der ehemaligen Sowjetrepublik Tadschikistan. Das muslimisch geprägte, zentralasiatische Land wird seit 1994 von Emomalij Rahmon autoritär regiert und hat mit islamistischem Terrorismus zu kämpfen. So operiert die 2015 verbotene „Islamische Partei der Wiedergeburt Tadschikistans“ im Untergrund. Ihr werden enge Verbindungen zum ISKP nachgesagt. An dem Attentat auf die „Crocus City Hall“ waren Verschwörer aus Russland, dem Nordkaukasus und Zentralasien beteiligt.
Bei dem Anschlag handelte es sich um den größten Terrorakt im Ballungsraum Moskau seit dem Selbstmordattentat auf den Domodedovo-Flughafen 2011 mit 37 Todesopfern. Hauptverantwortlich hierfür war die islamistische Gruppierung „Kaukasus-Emirat“, die im zweiten Tschetschenien-Krieg gegen das russische Militär kämpfte. Die Organisation verübte auch die Bombenanschläge in der Moskauer Metro 2010. Sie ging de facto 2015 in den „Islamischen Staat – Kaukasus Provinz“ (ISCP) auf, dem eine mögliche Beteiligung am Anschlag in Krasnogorsk nachgesagt wird. Auch die Aktivitäten des ISCP, insbesondere Attacken auf die russische Polizei, haben 2024 zugenommen.
Islamismus in Zeiten der Polykrisen
Der Terrorakt im Moskauer Vorort hat den Regierungen in Europa die Gefahr durch den Islamismus erneut vor Augen geführt. Auch wenn die Gefahr von Inlandsgeheimdiensten nie heruntergespielt wurde, so stand sie in den letzten Jahren nicht im Fokus. Dies ist vor allem auf die Polykrisen zurückzuführen, mit denen der Westen immer mehr konfrontiert wird. Hierzu zählen unter anderem der Ukrainekrieg, die Spannungen im Indopazifik, die globale Klimakrise und Fluchtbewegungen nach Europa. Ende 2023 kamen der Israel-Hamas-Krieg, die Angriffe der Huthi-Miliz auf Handelsschiffe im Roten Meer und die Zuspitzung des Israel-Iran-Konflikts hinzu. Parallel bauen China und Russland ihren Einfluss in Afrika und Asien aus.
In seinem Bericht von 2023 bewertete das Bundesamt für Verfassungsschutz die Bedrohung in Deutschland durch Islamismus als unverändert hoch. Demnach werden 27.200 Menschen dem Personenpotenzial „Islamismus/islamistischer Terrorismus“ zugerechnet, wobei keine Zahlen zum IS und seinen regionalen Ablegern vorliegen. Zu den verbotenen Organisationen zählen neben dem IS unter anderem die libanesische Hisbollah und im Gazastreifen operierende Hamas. Der IS ruft seit Jahren seine Anhänger und Unterstützer in aller Welt zu Attentaten auf. Im Zuge des Israel-Hamas-Krieges nahmen diese Aufrufe weiter zu. Laut Europol gab es 14 vollendete und 16 vereitelte islamistische Terroranschläge zwischen 2020 und 2022 in acht EU-Mitgliedstaaten. Am stärksten betroffen war Frankreich. Fünf Vorfälle ereigneten sich in Deutschland.
Dass Islamismus weiterhin ein ernstzunehmendes Problem darstellt, unterstrich die Islamisten-Demonstration in Hamburg im April 2024. An der Kundgebung nahmen über 1.000 Protestierende teil. Organisiert wurde die Veranstaltung von der Gruppierung „Muslim Interaktiv“, die vom Verfassungsschutz beobachtet und als gesichert extremistisch eingestuft wird. Sie gilt als Nachfolgeorganisation der 2003 verbotenen „Hizb ut-Tahrir“. Ziel ist die Abschaffung der Demokratie und die Errichtung eines totalitär-islamistischen Kalifats – analog zum IS. Nicht selten bestehen enge Verbindungen zwischen gleichgesinnten Gruppen, wodurch ein umso gefährlicheres Netzwerk entsteht. Islamistischer Extremismus in Deutschland war die letzten Jahre in der Medienlandschaft nicht stark präsent, beim Inlandsgeheimdienst jedoch stets auf der Tagesordnung.
Neue Terrorgefahr in Europa
Sowohl die USA als auch der Iran warnten Russland vor einem bevorstehenden Attentat im Ballungsraum Moskau. Die Informationen des Irans stammten von inhaftierten IS-Kämpfern des Kerman-Attentats. Nach dem Terrorakt in Krasnogorsk bezeichnete Bundesinnenministerin Nancy Faeser die Bedrohung durch islamistischen Terrorismus als akut. Dabei hob sie explizit den ISKP hervor, von dem die größte Terrorgefahr in Deutschland ausgehe. Auch das ihrem Ministerium unterstellte Bundesamt für Verfassungsschutz hat seine Warnungen verschärft. Im März 2024 nahm die Polizei zwei mutmaßliche Anhänger in Gera fest, die ein Attentat auf das Parlament Schwedens geplant hatten. In Schweden gilt seit 2023 die zweithöchste Terrorwarnstufe, da nach Koranverbrennungen durch Rechtsextremisten die islamistische Anschlagsgefahr anstieg. Nur wenige Wochen vor Beginn der Fußball-Europameisterschaft rief die Regionalorganisation zu Attentaten auf, die allerdings nicht eintraten.
Am 8. August 2024 warnten auch die Vereinten Nationen vor weiteren Anschlägen der Islamisten-Miliz in Europa. Auf der Sitzung des Sicherheitsrats hielt das UN-Anti-Terror-Büro fest, dass der ISKP die höchste auswärtige Terrorgefahr darstelle. Nur einen Tag zuvor wurde das geplante Konzert der amerikanischen Popsängerin Taylor Swift in Wien aufgrund islamistischer Anschlagsgefahr abgesagt. Die österreichischen Behörden nahmen schnell einen Hauptverdächtigten fest, der das geplante Selbstmordattentat anschließend gestand. Er bekannte sich zum Islamischen Staat, wobei eine Verbindung zum afghanischen Ableger (noch) nicht nachgewiesen werden konnte. Dank Hinweisen US-amerikanischer Geheimdienste folgten wenig später zwei weitere Festnahmen. Trotz erfolgreicher Vereitelung zeigt der Vorfall in Wien, wie nah die Gefahr eines Anschlags auf über 65.000 Konzertbesucher war.
Am 23. August 2024 erreichte der Terror wieder Deutschland: Auf einem Stadtfest in Solingen stach ein Flüchtling auf mehrere Besucher ein. Bei den gezielten Attacken auf Hals und Oberkörper wurden drei Menschen getötet und vier lebensgefährlich verletzt. Einen Tag später gestand der mutmaßliche Angreifer die Tat und der Islamische Staat bekannte sich zum Anschlag. Der Tatverdächtige sei ein „Soldat des IS“ und habe Rache für die Muslime in Palästina und in aller Welt nehmen wollen. Seit dem Attentat steht das Thema Flucht und Grenzkontrollen in Deutschland wieder im Fokus der Politik. Mit dem Israel-Hamas-Krieg als Motiv und der Flüchtlingsherkunft des Tatverdächtigen weist der Messeranschlag in Solingen Bezüge zu zwei aktuellen sicherheitspolitischen Krisenthemen auf. Einen Monat später konnten in Bayern zwei islamistisch motiverte Anschläge verhindert werden.
Mehr Vorsorge und Schutz notwendig
Der Militäreinsatz gegen den IS in Syrien und Irak war erfolgreich und zwang die Organisation zur Aufgabe ihres Kerngebiets. Retrospektiv haben der Westen und seine Verbündeten jedoch nur eine wichtige Schlacht gewonnen, nicht aber den Krieg gegen die Terrorgruppe. Der Umstieg auf eine Guerilla-Taktik im Nahen Osten war erfolgreich, gleichzeitig blieb der IS weltweit mit Attentaten aktiv und baute sein Netzwerk aus. Dabei rückte insbesondere Afghanistan in den Fokus. Nach dem abrupten Abzug aller NATO-Streitkräfte bekämpft der aktuell stärkste IS-Ableger die neue Taliban-Regierung. Des Weiteren führte die Miliz Anschläge im benachbarten Pakistan und Iran durch. Das Attentat in Moskau und Terrordrohungen in Europa verdeutlichen das hohe Gefahrenpotenzial über die Region hinaus. Zudem hat der ISKP zu einer Renaissance islamistischen Terrors in Europa beigetragen, wie die Konzertabsage in Wien und der Messeranschlag in Solingen zeigten. Schließlich könnte der IS das Chaos in Syrien nach dem Sturz von Machthaber Baschar al-Assad zum Wiederaufstieg in seinem Kerngebiet nutzen.
Deutschland und die europäische Staatengemeinschaft müssen sich vor weiteren Attentaten wappnen. Hierfür ist zum einen eine enge Zusammenarbeit der europäischen und verbündeten Geheimdienste notwendig. Dies ist auch bei der Suche nach den Geldquellen für den IS und seiner Ableger von großem Nutzen. Zum anderen muss Deutschland nicht nur dringend mehr in die äußere Sicherheit – sprich Bundeswehr – investieren, sondern auch in die innere Sicherheit. Das bedeutet: Mehr Personal und bessere Ausstattung für die Verfassungsschutzämter, die Polizeibehörden und das Justizwesen. Nur so können Terrorgefahren frühzeitig erkannt, Anschläge verhindert und Täter schnellstmöglich zur Rechenschaft gezogen werden. Ein Staat muss seine Bevölkerung gegen äußere und innere Gefahren schützen. Dies gelingt nur, wenn Sicherheitspolitik als Ganzes im Fokus steht.
Literaturtipps:
- Bundesamt für Verfassungsschutz (2023): Verfassungsschutzbericht 2023, S.205-260.
- Fouad, Hazim/Said, Behnam (2020): Islamismus, Salafismus, Dschihadismus: Hintergründe zur Historie und Begriffsbestimmung, Bundeszentrale für politische Bildung.
- Hasselbach, Christoph (2024): IS nimmt Europa erneut ins Visier, Deutsche Welle.
- Hossein, Fatema (2024): How ISIS-K killed Americans, beat the Taliban, and massacred 140 people in Moscow, USA TODAY.
- Steinberg, Guido (2024): Die Individualisierung des islamistischen Terrorismus, Stiftung Wissenschaft und Politik.
- Zeino, Ellinor (2023): Islamistischer Terrorismus nach der Taliban-Machtübernahme: Auswirkungen auf Afghanistan und die Region, Konrad-Adenauer-Stiftung.