Bei der RK Wingst: Eva Högl spricht Tacheles
Es passte alles zusammen. Einen Tag nach ihrem Besuch bei der Reservistenkameradschaft (RK) Wingst und Umgebung schrieb die Wehrbeauftragte des Deutschen Bundestages Schlagzeilen. Dr. Eva Högl sprach sich in einem Interview für die Idee eines verpflichtenden Dienstjahres für Jugendliche aus. Das Thema Dienstpflicht schnitt Högl auch bei ihrem Vortrag bei der RK Wingst und Umgebung an. Es war eine von vielen Fragen, die sie mit den Gästen im RK-Heim diskutierte.
Dass die Wehrbeauftragte des Deutschen Bundestages zum Klönschnackabend der RK ihren Weg nach Wingst fand, ist dem Vorsitzenden der Reservistenkameradschaft zu verdanken. Rolf Lewerenz schrieb das Büro von Eva Högl an, nachdem sie im Jahr 2020 eine Debatte über die Wehrpflicht angestoßen hatte. Lewerenz lud die Wehrbeauftragte zur Diskussion ins RK-Heim ein und ließ nicht locker. Die Wehrbeauftragte bezeichnete nach ihrem Amtsantritt vor drei Jahren die Aussetzung der Wehrpflicht als einen Fehler. „Ich bleibe da bei meiner Meinung“, sagte sie während ihres Besuchs in Wingst und fügte hinzu: „Wir wollen aber die alte Wehrpflicht nicht zurück. Das führt zu nichts.“ Stattdessen rief Högl dazu auf, eine ernsthafte Debatte um ein verpflichtendes Gesellschaftsjahr zu führen.
Sie finde es gut, dass der Bundespräsident nicht nachlasse und eine Diskussion zum Thema Dienstpflicht anrege. Allerdings sei es ärgerlich, dass dieses Thema bislang im Bundestag sehr wenig stattgefunden habe, sagte Högl. Womöglich hat ihr Interview über die Dienstpflicht, das nach ihrem Besuch bei den Wingster Reservisten erschienen ist, die Debatte befeuert. Darin schlug sie vor: „Man könnte wie in Schweden einen gesamten Jahrgang junger Leute für die Bundeswehr zur Musterung einladen. Und sie dann, sofern sie wehrfähig sind, selbst entscheiden lassen, ob sie sich engagieren wollen oder nicht.“ Die Politik sei beim Thema Dienstpflicht jetzt gefordert, lautete das Fazit der Diskussion.
Auf den politischen Willen kommt es an
Der politische Wille muss ebenso vorhanden sein wie für die Vorhaben der Zeitenwende. „Wir können stolz auf unsere Soldatinnen und Soldaten sein. Ich treffe jeden Tag hochmotivierte Frauen und Männer. Es muss eine gemeinsame Kraftanstrengung sein, die Rahmenbedingungen für unsere Bundeswehr deutlich zu verbessern“, sagte die Wehrbeauftragte und nannte mit den Stichworten Material, Personal und Infrastruktur die drei Problemzonen der Bundeswehr. Beim Material mangele es an allen Ecken und Enden. Die Situation habe sich durch Waffenlieferungen an die Ukraine noch einmal verschärft. Nun müsse das Bundesministerium der Verteidigung „aus dem Quark kommen“ und mit der Industrie verhandeln, Verträge schließen und Bestellungen auslösen. „Ich hoffe, dass ich im nächsten Jahresbericht schreiben kann, dass die 100 Milliarden Euro Sondervermögen gebunden sind“, sagte Eva Högl.
Trotz der Engpässe beim Material mache die Truppe viel möglich. Ob Präsenz in Polen, in der Slowakei, Air Policing im Baltikum, enhanced Forward Presence in Litauen und weitere Einsätze im Ausland, die Bundeswehr stemmt zusätzlich noch die Ausbildung der ukrainischen Streitkräfte. „Das ist grandios, aber auch fordernd“, berichtete Eva Högl. Sie mahnte, dass die Truppe nicht über Gebühr belastet werden könne. In manchen Verbänden läge die Einsatzbereitschaft nicht bei durchschnittlich 80, sondern eher bei 50 bis 60 Prozent. Das bedeute, es müssten oft dieselben Kameradinnen und Kameraden ran. „Wir müssen der Truppe auch die Möglichkeit geben, die eigenen Fähigkeiten wieder aufzubauen und eine Pause zu machen“, hob die Wehrbeauftragte hervor.
Doch nach wie vor sind die Vakanzen in der Truppe zu hoch. Von der Zielmarke 203.000 Soldatinnen und Soldaten ist die Bundeswehr weit entfernt. Das militärische Personal dümpelt seit Jahren um die Marke von 183.000 Soldatinnen und Soldaten. Eine Studie des Zentrums für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr (ZMSBw) zeigt, dass es eigentlich nicht an der Zahl der Bewerberinnen und Bewerber, sondern an der Bundeswehr selbst liegt. „Solange 70 Prozent der Bewerberinnen und Bewerber bei der Bundeswehr keinen positiven Einstellungsbescheid bekommen, scheint trotz mancher anderslautenden Aussagen von Verantwortlichen und Karriereberatern ein Teil des Problems weniger im Umfang des Bewerberaufkommens als vielmehr in dessen Ausschöpfung zu liegen“, heißt es in der Studie. Ein Aspekt, der bei der Attraktivität der Streitkräfte als Arbeitgeber sicher eine Rolle spielt, ist die Infrastruktur. „Wir haben hier einen Investitionsbedarf von 50 Milliarden Euro. Alle 16 Bundesländer schaffen pro Jahr nur eine Milliarde“, stellte Eva Högl fest. Dass Duschen nicht verschimmelt sind, auf den Stuben W-Lan ist und es Sportmöglichkeiten gibt, ist das Minimum.
Vorschriften entschlacken
Eva Högl nahm sich nach ihrem Vortrag Zeit für eine Diskussionsrunde mit Fragen aus dem Publikum. Brigadegeneral a.D. Rainer Meyer zum Felde, Mitglied der RK Wingst und Umgebung, moderierte diesen Teil des Abends. „Ich erwarte von Politikern die Ehrlichkeit, zu sagen: Wir haben Fehler gemacht“, kritisierte ein Zuhörer. Die Bundeswehr sei jahrelang kaputtgespart worden. Man habe dabei die Wertschätzung derer, die dort dienen weniger im Blick gehabt, weil man der Bundeswehr weniger Aufmerksamkeit geschenkt habe, hieß es in seiner Wortmeldung. „Ich glaube, es führt zu nichts, wenn wir uns gegenseitig die Schuld zuschieben“, antwortete Högl. Die Gesellschaft, die politisch und militärisch Verantwortlichen müssen gemeinsam daran arbeiten, die Bundeswehr wieder für die Aufgabe Landes- und Bündnisverteidigung vollumfänglich zu befähigen. Wichtige Aspekte seien dabei, Vorschriften für die Beschaffung zu entschlacken, die Inspekteure bei Beschaffungsprozessen wieder stärker einzubeziehen und der Industrie verbindliche Planungsgrundlagen zusichern.
In früheren Dimensionen denken
„Wir müssen die Einsatzbereitschaft in Dimensionen, wie wir sie mit der alten Bundeswehr hatten, hochfahren“, erläuterte Brigadegeneral a.D. Meyer zum Felde. Dies seien 70 bis 80 Prozent vom Buchbestand der Waffensysteme und nicht wie heute teilweise 50 Prozent vom Verfügungsbestand der Truppe gewesen. „Wenn wir die Einsatzbereitschaft nicht hochgefahren bekommen, würden wir an der Front geschlagen werden. Dann hätten wir Verluste in der Größenordnung wie die Ukrainer sie gerade erlitten haben – im Umfang des deutschen Heeres 60.000 Mann“, sagte Meyer zum Felde.
Des Weiteren sei aus seiner Sicht die Durchhaltefähigkeit zu erhöhen. Es müsse nicht nur für drei Kampftage, sondern mindestens für 30, besser für 90 Kampftage, nicht nur für die bei der NATO angezeigten Verbände geplant werden. Das würde bedeuten, Depots vorzuhalten und eine Rüstungsindustrie, die für den Fall der Fälle in der Lage ist, 24 Stunden an sieben Tagen in der Woche Munition zu produzieren. „Wenn sich die Amerikaner in Europa zurücknehmen, kommt es auf keinen so an wie auf die Deutschen“, mahnte Brigadegeneral a.D. Meyer zum Felde.
Auf eine Frage zum Schluss, welche Rolle den Reservisten beim Thema Landes- und Bündnisverteidigung zukomme, sagte die Wehrbeauftragte: „Seien Sie präsent, sichtbar und hörbar. Organisieren Sie Veranstaltungen wie diese, gehen Sie in die Schulen. Sorgen Sie dafür, dass die Bundeswehr noch besser verankert ist in der Gesellschaft. Treten Sie in den Austausch!“