Wehrhaftigkeit ist nicht allein Aufgabe des Militärs
Vier Löcher in den Pipelines von Nordstream 1 und 2 – von Sabotage ist die Rede. EU- und NATO-Regierungen sind sich einig, dass nur ein staatlicher Akteur zu so etwas in der Lage ist. Die Sabotage an den Nordstream-Röhren führt schmerzlich vor Augen, wie verwundbar lebenswichtige Energie-Infrastruktur ist. Die Attacke zeigt, dass ähnliche Angriffe in Deutschland und Europa kein Hirngespinst sind.
Wenn staatliche Akteure tatsächlich Kritische Infrastruktur angreifen, kann das sehr ernsthafte Folgen haben – im schlimmsten Fall Krieg. Würde so ein Worst Case eintreten, wäre nicht nur die Bundeswehr in der Landes- und Bündnisverteidigung gefordert, sondern auch zivile Behörden und Organisationen im Rahmen der Zivilen Verteidigung. Doch was bedeutet Zivile Verteidigung für die Bundeswehr sowie für die zivilen Behörden und Rettungsorganisationen?
Dieser Frage widmete sich Ende August ein Seminar der Zivil-Militärischen Zusammenarbeit im Grenzmuseum Schifflersgrund. 13 Kreisverbindungskommandos aus Brandenburg, Schleswig-Holstein, Hessen und Bayern übten dabei gemeinsam mit der Landrätin des Werra-Meißner-Kreises, mit weiteren Verwaltungsstabsangehörigen und mit Vertretern örtlicher und regionaler Feuerwehren, des Technischen Hilfswerkes sowie mit Rettungssanitätern und der Rettungshundestaffel. „Diese Veranstaltung ist ein Quantensprung“, sagte Oberst d.R. Martin Ruske, stellvertretender Kommandeur und Chef des Stabes (V) des Landeskommandos Brandenburg, der das Seminar seit 13 Jahren initiiert und organisiert. Denn die ZMZ-Übung fand zum ersten Mal in Kooperation mit der Bundesakademie für Bevölkerungsschutz und Zivile Verteidigung (BABZ) des Bundesamtes für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe statt.
Amtshilfe mal andersrum
„Die Reservisten der Kreisverbindungskommandos üben hier zusammen mit den Partnern aus Verwaltungsstäben und Hilfsorganisationen das ebenen- und institutionsübergreifende Zusammenwirken. Ziel ist es, die Partner und deren Fähigkeiten kennenzulernen, Arbeitsabläufe zu kennen und zu verstetigen – ganz nach dem Motto: Köpfe kennen in der Krise. Die Zeit, die man hier übt, hat man in der Krise, um vor die Lage zu kommen“, erläuterte Ruske. Zum Blick über den Tellerrand gehörte vor allem die besondere ZMZ-Lage der Zivilen Verteidigung. Diese beinhaltete ein Szenario des Host Nation Supports – Unterstützung der Streitkräfte durch zivile Behörden und Blaulichtorganisationen. Dabei beschäftigte sich das Seminar auch mit dem Thema, welche Maßnahmen zur Wehrhaftigkeit der Staat bei einem Angriff von außen ergreifen kann. Das ist seit dem Sabotage-Angriff auf die Nordstream-Pipelines eine erschreckend aktuelle und drängende Frage.
Die Zivile Verteidigung befasst sich mit der Frage, wie Staats- und Regierungsfunktionen im Falle eines Krieges aufrechterhalten werden können. Dazu zählen Überlegungen, welche Maßnahmen für den Schutz der Bevölkerung (zum Beispiel Kommunikation, Vorhalten von Bunkern) und zur Unterstützung der Streitkräfte ergriffen werden müssen. Ferner beschäftigt sich die Zivile Verteidigung auch schon in Friedenszeiten damit, Vorsorge für bestimmte Maßnahmen zu treffen. Ein Beispiel hierfür sind umfangreiche Sicherstellungsgesetze, die der Gesetzgeber für bestimmte Bereiche erst noch erlassen oder an die gegenwärtige sicherheitspolitische Situation anpassen muss. Diese würden im Kriegsfall die Versorgung mit Nahrungsmitteln, Energie, Wasser, Arbeitskräften und weiteren Leistungen aus den Bereichen Verkehrswesen, Wirtschaft, Finanzwesen und Gesundheit regeln. Sicherstellungsgesetze würden dem Staat weitreichende Durchsetzungsrechte einräumen. So könnten im Kriegsfall Arbeitskräfte für Krankenhäuser, Behörden, Verkehrsunternehmen oder Einrichtungen des Zivilschutzes zum Dienst verpflichtet oder Reservisten zum Dienst an der Waffe herangezogen werden. Der Staat darf solche grundrechtsbeschränkenden Maßnahmen aber erst ergreifen, wenn das Parlament den Notstand festgestellt und den Spannungs- oder Verteidigungsfall beschlossen hat.
Zivile Verteidigung ist Verfassungsauftrag
Ob der Staat im Falle eines äußeren Angriffs dazu in der Lage ist, sich zu verteidigen und die Bevölkerung zu schützen, hängt nicht allein von militärischen Fähigkeiten ab. „Uns fällt die Friedensdividende auf die Füße“, sagte Dr. Dr. Dirk Freudenberg von der Bundesakademie für Bevölkerungsschutz und Zivile Verteidigung des Bundesamtes für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe. Freudenberg beschrieb Zivile Verteidigung als das „Holzbein” der militärischen Verteidigung. „Versuchen Sie einmal, mit einem Holzbein an einem 100-Meter-Lauf teilzunehmen. Im Sport kann man verlieren. Aber im Krieg gibt es keinen Ersatz für den Sieg“, unterstrich Freudenberg die Bedeutung der Zivilen Verteidigung für die gesamtstaatliche Fähigkeit, sich vor äußeren Angriffen zu schützen. „Zivile Verteidigung ist ein Verfassungsauftrag“, betonte er. Aber es ist paradox: Jede Kommune ist verpflichtet, für den Brandschutz eine Feuerwehr vorzuhalten. Der Bund ist in ähnlicher Form zur Zivilen Verteidigung verpflichtet. Trotzdem ist das Thema jahrzehntelang vernachlässigt worden. Fragen nach dem Spannungs- , Bündnis- oder Verteidigungsfall haben sich seit 1989 nicht mehr gestellt. Aus dem Jahr des Mauerfalls stammt noch die bisher nicht mehr aktualisierte Richtlinie für Gesamtverteidigung.
Während des Seminars verschränkte Nicole Rathgeber die Arme. Der Blick der Landrätin des Werra-Meißner-Kreises richtete sich auf eine mannshohe Lagekarte. Sie hörte Oberstleutnant d.R. Jakob Varady zu, der einen Lagevortrag zur Unterrichtung hielt und das (Übungs-)Szenario zusammenfasste: Im Zuge des Krieges in der Ukraine kommt es zu Truppenbewegungen in Deutschland. Die NATO verstärkt ihre Präsenz im Osten. Dazu schicken die USA zusätzliche Streitkräfte nach Polen. Die Marschkolonne des Stryker Brigade Combat Teams zieht durch Baunatal und Witzenhausen. Im letztgenannten Ort des Landkreises Werra-Meißner werden nun Übernachtungsmöglichkeiten, sanitätsdienstliche Versorgung, Instandhaltungs- und Verpflegungskapazitäten für die US-Brigade benötigt. Die Bundeswehr ist mit anderen Aufgaben gebunden und auf die Unterstützung des Landkreises beim Host Nation Support angewiesen. Zeitgleich bereitet sich Witzenhausen auf ein Stadtfest vor.
Aus dieser Lage ergaben sich viele Fragen. Wo können mehr als 1.200 Männer und Frauen in kurzer Zeit untergebracht werden? Wo können schwere Lkw und Transportpanzer geparkt und wenn nötig aufgetankt und instandgehalten werden? Mit welchen Verkehrsbehinderungen ist zu rechnen? Wie kann Verpflegung sichergestellt werden? Kann das Stadtfest stattfinden? Welche Akteure müssen koordinierend zusammentreten? Wie wird der Unterstützungsbedarf gegenüber der zivilen Seite prozessiert angefordert und wie ist das Kreisverbindungskommando hier konkret involviert?
Verfahren für Zivile Verteidigung sind nicht geregelt
Letztere Frage sorgte sogleich für Verwirrung. Gemäß Artikel 35 des Grundgesetzes kann die Bundeswehr im Katastrophenfall unterstützen, wenn die Kapazitäten ziviler Behörden und Rettungsorganisationen ausgeschöpft sind. Die Bundeswehr hält kein eigenes Personal und Material für Amtshilfe vor. Deshalb beschränkt sich Unterstützung der Bundeswehr auf Einzelfälle und erfolgt, wenn der eigene Auftrag nicht im Weg steht. Für die Antragstellung gibt es festgelegte Verfahren. Coronavirus-Pandemie, Waldbrände, Hochwasser, der Kampf gegen die Afrikanische Schweinepest und den Borkenkäfer sind Beispiele für Amtshilfe-Einsätze der Bundeswehr. Amtshilfe ist aber auch in die andere Richtung denkbar. Das heißt, wenn die Bundesebene oder die Bundeswehr von Land und Landkreis Amtshilfe anfordern würde. Allerdings: „Es gibt keine Konzeption oder Weisung, aus der das Verfahren für den Fall der Zivilen Verteidigung hervorgeht, wenn die Bundeswehr von ziviler Seite Unterstützung anfordert“, sagt Oberstleutnant Erwin Langer, Dozent für Zivil-Militärische Zusammenarbeit an der Bundesakademie für Bevölkerungsschutz und Zivile Verteidigung. Beim Seminar wurde die Frage nach dem Procedere ausgeklammert.
Man könne die Annahmen der Übung aber nicht eins zu eins in die Realität übernehmen, warf Dr. Dr. Dirk Freudenberg ein. Denn diese sei viel komplexer. So gestaltet sich zum Beispiel die Freistellung von Helfern in den Rettungsorganisationen oder von Reservisten für die Bundeswehr schon in Friedenszeiten schwierig. Bei Worst-Case-Szenarien, die unterhalb der Schwelle Spannungs-, Bündnis- oder Verteidigungsfall liegen, kann es in puncto Durchhaltefähigkeit problematisch werden – insbesondere dann, wenn die Bundeswehr mit Ausbildung und NATO-Verpflichtungen gebunden ist und Amtshilfe nicht erfolgen kann. Um diese Lücke der Wehrfähigkeit zu schließen, sei eine Wehrpflicht über einen allgemeinen Gesellschaftsdienst notwendig, argumentierte Freudenberg.
Die Übungslage war authentisch genug, um die Teilnehmerinnen und Teilnehmer des Seminars zum Nachdenken zu bringen. Die Angaben, wie der Landkreis mit der Host-Nation-Support-Lage umgehen soll, variierten. Ein Vertreter eines Kreisverbindungskommandos schloss aus, dass das Stadtfest angesichts der umfangreichen Unterstützungsleistungen für die US-Truppen überhaupt stattfinden kann. „Ich frage mich, welche Rolle Sie gerade haben“, kommentierte Nicole Rathgeber die Ausführungen und blickte skeptisch herüber zum Reservisten, der neben der Lagekarte stand. Die Vertreter von der Bundesakademie für Bevölkerungsschutz und Zivile Verteidigung und Oberst d.R. Martin Ruske hörten als Übungsleitung und Referenten genau zu. Sie unterbrachen immer wieder für eine kurze Manöverkritik. „Der Lagevortrag zur Unterrichtung ist das wesentliche Mittel, um Hilfsorganisationen und zivile Behörden zu informieren. Dazu erst einmal die Lage auswerten. Welche Aufträge und Anforderungen leiten sich ab? Militärische Abkürzungen erläutern und Doppelungen vermeiden“, riet Oberstleutnant Langer.
Dirk Freudenberg ergänzte, es sei wichtig, sich zu vergewissern, worin die Herausforderungen der jeweiligen Lage liegen. „Wenn eine Straße für eine Marschkolonne abgesperrt werden muss, wer sperrt ab – Ordnungsamt oder Polizei? Man muss die Schnittstellen zu den beteiligten Behörden erkennen“, sagte Dirk Freudenberg. Oberst d.R. Ruske wies auf die hohe Beratungskompetenz der KVK im Aufgabenspektrum von Heimatschutz und Nationaler Territorialer Verteidigung hin: „Aufgrund sorgfältig vorbereiteter Gefährdungsanalysen und Risikoabschätzungen wissen Sie als Experten und Berater vor Ort genau, welche möglichen Unterstützungsleistungen die Truppe in einem solchen Szenario im Landkreis tatsächlich benötigt und wie das dort geleistet werden könnte.“ Frank Meurer von der BABZ ergänzte an die Landrätin gerichtet: „Sie müssen sich Ihrer Rolle bewusst sein. Ihre Aufgabe ist es, zu koordinieren. Aber Sie müssen auch entscheiden. Stellen Sie Kontrollfragen. Lassen Sie sich keine Entscheidung abringen, zum Beispiel ob ein Stadtfest abgesagt werden muss. Eventuell geht das aus rechtlichen Gründen gar nicht!“
Mehr Kommunikation und Aufklärung notwendig
Nicole Rathgeber nickte konzentriert. „Ich finde es gut, welche Einblicke man hier über die Rettungsorganisationen und die Bundeswehr bekommt. Ich weiß jetzt, wenn ich sie brauche, sind sie für mich da“, sagte sie. Die Landrätin nutzte die Gespräche mit den KVK-Reservisten und Vertretern der Rettungsorganisationen nicht nur, um sich über deren Möglichkeiten und das Gesamtspektrum der Zivil-Militärischen Zusammenarbeit weiterzubilden. Von den Vertretern der Bundesakademie erhielt sie während des Seminars ein kurzes Führungsseminar. „Wir müssen die Bürgermeister und Landräte in die Lage versetzen, zu führen, wenn sich Katastrophenlagen ergeben“, sagte Dirk Freudenberg. Einige Verwaltungen seien aufgrund von personeller Fluktuation und Überlastung nicht so gut aufgestellt. Bei einem Stromausfall durch technisches Versagen oder aufgrund eines terroristischen Anschlags, haben Entscheider ein echtes Thema. „Alleine der Rettungsdienst wäre damit gebunden, in einem solchen Fall vulnerable Patienten, die auf Beatmung oder Dialyse angewiesen sind, zu versorgen. Da geht es um Leben und Tod“, erläuterte Freudenberg.
Damit Behörden, Kommunen, Rettungs- und Hilfsorgansiationen und Bundeswehr auf solche komplexen Lagen vorbereitet sind, sind mehr Seminare wie im Grenzmuseum notwendig. Sie fördern das Risikobewusstsein sowie das Verständnis zwischen den Akteuren, Ebenen und Strukturen. „Ich kann mir vorstellen, die Kooperation zu verstetigen. Ich fand es sensationell“, sagte Frank Meurer. Entsprechend wird bereits jetzt für das kommende Jahr geplant. Oberst d.R. Martin Ruske bestätigte den Termin des nächsten ZMZ-Sonderseminars gemeinsam mit der BABZ für den 25. bis 27. August 2023. Mehr Kommunikation und Risikobewusstsein zum Thema Zivile Verteidigung ist notwendig. Das zeigt nicht zuletzt der Sabotage-Angriff auf die Nordstream-Pipelines.