Wie funktioniert Versöhnungsarbeit in Kriegszeiten?
Am Sonntag ist Volkstrauertag. Seit 1952 gedenken die Menschen in Deutschland zwei Wochen vor dem ersten Advent der Opfer von Krieg und Gewaltherrschaft aller Nationen. Der Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge e.V. (kurz: Volksbund) betreut 830 Kriegsgräberstätten in 46 Nationen – auch in der Ukraine und in Russland.
Wie sehr der Krieg die Arbeit des Volksbundes beeinflusst, hat Benjamin Vorhölter General a.D. Wolfgang Schneiderhan gefragt. Der Präsident des Volksbundes äußerte sich darüber hinaus auch zum Umgang mit Einsatzveteranen der Bundeswehr.
Herr General a.D. Schneiderhan, der Krieg in der Ukraine hat möglicherweise die Arbeit des Volksbundes in der Russischen Föderation und wahrscheinlich auch in der Ukraine vollständig zum Erliegen gebracht. Wie sieht die Situation aus? Findet unter den Bedingungen des Krieges noch Austausch mit den Partnern in Russland statt?
Die Arbeit liegt nicht brach. Wir führen die technische Kriegsgräberfürsorge mit unseren Partnern vor Ort durch. In einigen Orten in der Russischen Föderation dürfen wir noch Ausbettungen durchführen, in anderen gestaltet sich das zäher, weil die Genehmigungen dort sehr lange Wege zurücklegen müssen. Die Kriegsgräberstätten werden noch gepflegt. Das ist unser Land den Toten schuldig.
Was ist mit den Helfern und Mitarbeitern passiert, die bei der Suche nach Grabstätten geholfen haben und auch für den Volksbund gearbeitet haben? Konnten sie mit Hilfe des Volksbundes aus dem Kriegsgebiet flüchten?
Wir konnten die Familien einiger Mitarbeiter auch mit Hilfe unserer Partner aus dem Land bringen. Sie sind jetzt in Sicherheit in der Bundesrepublik und in Großbritannien. Einige Familienangehörige sind aber auch bewusst in der Ukraine geblieben. Viele unserer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter und auch deren Familienangehörige haben sich stark engagiert. Wir sind dankbar, dass hier die Volksbund-Familie zusammensteht.
Welche Initiativen hat der Volksbund unternommen, um den Menschen ggf. vor Ort zu helfen?
Viele Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter engagieren sich auf privater Ebene weiter, sie unterstützen mit Geld und dringend notwendigen Materialspenden. Das reicht von warmer Kinderkleidung über Hygieneartikel bis zu Verbandsstoff. Für betroffene Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter haben wir einen kleinen Hilfsfond gebildet.
Einer der größten Soldatenfriedhöfe in der Ukraine befindet sich am Stadtrand von Charkiw. Ist etwas über den Zustand der Kriegsgräber dort bekannt? Sind dort Raketen eingeschlagen?
Die Pflegerin des Soldatenfriedhofs in Charkiw ist wieder vor Ort. Bis jetzt ist der Friedhof unversehrt geblieben, aber da in der Nähe massive Gefechte stattgefunden haben, müssen wir überprüfen, ob dort vielleicht Blindgänger oder Minen liegen, bevor die Pflege in vollem Umfang wieder aufgenommen werden kann.
Was ist über den Zustand der Kriegsgräberstätten in Mykolajiw und Saporischschja bekannt? Wie bewerten Sie die Situation?
Diese beiden Friedhöfe sind nach Stand vom 21. September unversehrt. Der Volksbund hat 24 Kriegsgräberstätten in der Ukraine in seiner Obhut. Die Pflege der Anlagen im Donbass musste aus Sicherheitsgründen eingestellt werden, doch die Pflege der anderen Kriegsgräberstätten ist sichergestellt. Das gilt auch für die Kriegsgräberstätte Sewastopol-Gontscharnoje auf der Krim.
Welche Möglichkeiten hat der Volksbund, mit seiner Versöhnungsarbeit auf Frieden hinzuarbeiten, welchen Stellenwert hat hier die Erinnerungsarbeit seit dem Krieg?
Das ist eine schwierige Frage, auf die es mehrere Antworten gibt. Unsere Versöhnungsarbeit mit den offiziellen Stellen in Russland, man kann es nicht anders beschreiben, liegt in Scherben!
Der Volksbund hatte seit dem Abschluss des Kriegsgräberabkommens 1992 in der Russischen Föderation auf unterschiedlichen Ebenen und in vielen Bereichen gearbeitet. Wir konnten hunderttausende Tote bergen, haben etliche Kriegsgräberstätten angelegt, Angehörigen Gewissheit geben können – und einen Ort zum Trauern. Das war alle Arbeit und jeden Aufwand wert. Bei gemeinsamen Arbeitseinsätzen mit deutschen und russischen Soldaten hatten sich Freundschaften entwickelt.
Gleiches galt für zahlreiche internationale Gedenkveranstaltungen, Jugendbegegnungen, Workcamps, in denen junge Menschen sich kennenlernen und ihren Horizont erweitern konnten. Das Kriegsgefangenenprojekt: Das ist ein einzigartiges geschichtswissenschaftliches Projekt, in dem russische und deutsche Historiker und Historikerinnen gemeinsam an der Schicksalsklärung deutscher und sowjetischer Kriegsgefangener arbeiten. Es wurde seinerzeit von den Außenministern Frank-Walter Steinmeier und Sergej Lawrow angestoßen. Diese Begegnungen, dieser Austausch, die lange Zusammenarbeit hatten Wurzeln geschlagen, Beziehungen geknüpft. Alles ruht im Augenblick. Ob wir aber je wieder an die gute Entwicklung anknüpfen können, das ist noch völlig offen. Jeder Weg zu Versöhnung mit ehemaligen Gegnern ist unglaublich schwer, aber er ist auch alternativlos. Wir im Volksbund sind uns sicher, dass dieser Weg am besten auf einer Kriegsgräberstätte beginnt, denn dort zeigt sich am besten, was der wahre Preis des Krieges ist: unser Leben.
Gibt es Begegnungs- und Jugendarbeitsprogramme, die aufgrund des Krieges jetzt nicht mehr stattfinden können oder konnten?
In Russland, Belarus und der Ukraine führen wir zurzeit aus Sicherheitsgründen keine Jugendbegegnungen durch. Doch junge Menschen aus diesen Ländern sind selbstverständlich auf unsere Workcamps eingeladen. Während einer internationalen Jugendbegegnung in München konnten wir gerade erleben, wie behutsam und freundlich die Teilnehmerinnen aus der Russischen Föderation und der Ukraine miteinander umgegangen sind.
Welchen Stellenwert nimmt das Thema Erinnerung an in Auslandseinsätzen verstorbene und gefallene Bundeswehr-Soldaten ein?
Der Volksbund hat sich schon früh für die Erinnerung an verstorbene und gefallene Bundeswehrangehörige eingesetzt. Das würdige Andenken an alle, die im Dienst der Bundesrepublik Deutschland in Auslandseinsätzen das Leben verloren haben, haben wir in unserem Leitbild festgeschrieben. Bei der internationalen Gedenkveranstaltung in der Lilienthalstraße in Berlin am Vorabend des Volkstrauertages gedenken wir auch ausdrücklich der Toten unserer Einsatzkräfte.
Ein Soldatentod ist kein privater Tod. Individuell bestimmen die Angehörigen das Gedenken, aber kollektiv kann und muss sich unsere Gesellschaft auch daran beteiligen. Wir leisten da unseren Beitrag gegen das Vergessen. So steht der Volksbund an der Seite der Familien, die es wollen, wenn es um das jährliche Gedenken an den Ehrengräbern der Bundeswehr geht.
Mit dem Martin-Augustyniak-Platz gibt es in Bielefeld einen einzigartigen Gedenkort für einen in Afghanistan gefallenen Kameraden. Welchen Stellenwert nimmt das Thema Afghanistan in der Arbeit des Volksbundes ein und wird es eine Erinnerungsstätte für Einsatzsoldaten am Hindukusch geben (können)?
Das Thema Afghanistan ist erinnerungskulturell noch nicht abgeschlossen. Im Rahmen unserer Gedenkarbeit erinnern wir an alle Einsatztoten der Bundeswehr, aber am Ende auch an die, die in Ausübung ihrer Pflicht im Inland gestorben sind. Erinnerungsstätten entstehen „von oben“, wie zum Beispiel das Ehrenmal der Bundeswehr in Berlin, oder aber auch als private Initiative aus der Gesellschaft heraus.
Bielefeld ist so ein Ort mit dem Martin-Augustyniak-Platz. Es gibt auch ein NATO-Memorial in der Nähe von Calais, das auf Initiative des französischen Gendarmen Willy Breton entstanden ist. Es erinnert an die Einsatztoten unserer nordatlantischen Allianz.
Muss man die Erinnerung stärker in unserer Öffentlichkeit verankern?
In Frankreich längst staatlicherseits anerkannt findet dort jedes Jahr im September eine große und würdige Gedenkzeremonie statt. Es gibt auch eine eigene Stele für die deutschen Einsatztoten aus dem Raum Kunduz. Der Volksbund ist dort inzwischen fester Partner. Offizielle Vertreter der Bundeswehr jedoch sucht man dort vergebens, obwohl sie eingeladen werden. Ich glaube, wir haben noch eine Lücke zwischen staatlichem und zivilgesellschaftlichem Gedenken. Die sollten wir im Dialog schließen.
Welche Position nimmt der Volksbund beim Umgang mit (Einsatz-)Veteranen ein und gibt es vielleicht Ansätze, die man mit dem Reservistenverband gemeinsam verfolgen könnte?
Gerade Einsatzveteranen haben beim Thema Tod im Einsatz oft sehr emotionale Erfahrungen gemacht. Manchen belasten diese Erfahrungen so sehr, dass sie daran seelisch erkranken. Der Volksbund begrüßt daher sowohl die inzwischen weiterentwickelte staatliche Unterstützung als auch das zivilgesellschaftliche soziale Engagement, wie es zum Beispiel Veteranenverbände tun. Auch die traditionellen militärisch geprägten Verbände, wie der Reservistenverband oder der Bundeswehrverband, leisten da großartige Arbeit. Das Thema hat bei uns einen hohen Stellenwert und einen Veteranentag können wir uns gut vorstellen. Die aktive Bundeswehr und die Reservisten gehören schließlich zu unseren engsten Partnern.
Wir wollen unser Angebot künftig ergänzen. So haben wir gerade ein erstes Pilotprojekt mit Einsatzveteranen abgeschlossen, die eine Kriegsgräberstätte in Frankreich gepflegt haben. Ein wertvoller Beitrag, der den teilnehmenden Kameraden hoffentlich auch Anerkennung gebracht und ihr Selbstbewusstsein gestärkt hat. Das nächste Projekt ist ein Seminar mit Einsatzveteranen in einer unserer Bildungseinrichtungen im Ausland.
In den Niederlanden hat eine Stiftung einen Veteranenfriedhof geschaffen. Ob das in Deutschland möglich wäre, wissen wir nicht, aber in eine solche Richtung darf man sicher auch denken. Es gibt auf jeden Fall noch viel zu tun und der Volksbund steht auch weiterhin allen Partnern in diesen Fragen zur Seite.
Herr General a.D. Schneiderhahn, vielen Dank für das Gespräch!
Mehr über den Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge e.V. auf www.volksbund.de.